Migrationskrise Grenzzaun zwischen Polen und Belarus: Tödliche Falle für Wildtiere

10. Februar 2022, 18:37 Uhr

Während seit Monaten die Migrantenkrise an der polnisch-belarussischen Grenze für Schlagzeilen sorgt, spielt sich in ihrem Schatten ein weiteres Drama nahezu unbemerkt ab: Tausende Wildtiere, die im Białowieża-Urwald leben, dem Kronjuwel des UNESCO-Weltnaturerbes, sind durch den polnischen Grenzzaun in großer Gefahr.

150.000 Hektar Urwald mit Sümpfen und dichter Pflanzenwelt, in dem Wisente, Hirsche, Rehe, Elche, Wölfe und Luchse bisher nahezu ungestört lebten. Menschen haben hier, bis auf einen kleinen Teil des Nationalparks, keinen Zutritt.

Ausnahmezustand für Mensch und Tier

Doch seit September 2021 ist es mit der Idylle vorbei - zuerst wurde an der polnisch-belarussischen Grenze der Ausnahmezustand verhängt und eine provisorische Klingendrahtsperre errichtet, seit Januar 2022 wird ein monströser, 186 km langer Stahlzaun gebaut, der auf 38 Kilometern Länge durch den Nationalpark verlaufen wird. Ein Sondergesetz setzte bei diesem Bauvorhaben jegliche Gesetze zum Naturschutz, zur Wasserwirtschaft und zur Raumordnung sowie Vorschriften über den Zugang zu Umweltinformationen außer Kraft, öffentliche Anhörungen darüber fanden nicht statt und Journalisten dürfen die Sperrzone nicht betreten.

Eine Frau läuft auf einer Holzplattform durch den Nationalpark.
Nur ein kleiner Teil des Nationalparks von Białowieża ist für Menschen zugänglich – unter strengen Auflagen. Doch für den Bau des Grenzzauns wurden alle Naturschutzbestimmungen außer Kraft gesetzt. Bildrechte: imago images/NurPhoto

Grenzzaun zerschneidet Lebensräume

Oftmals werden Zäune nur von oben mit Klingendraht versehen. Sie sind dann zwar eine Barriere für Menschen, schaden aber dem Leben der Tiere nur wenig. Hier wurden aber 2,5 Meter hohe Klingendrahtrollen direkt am Boden verlegt.

Umweltschützer und Anwohner des Grenzgebiets schlagen Alarm, dass der Grenzzaun ein Hindernis für die natürliche Wanderung der Tiere ist und schwere Umweltschäden bedeutet. Doch die Behörden nehmen die Warnungen nicht zur Kenntnis und erteilen kaum Auskunft über das Vorhaben - der strategisch wichtige Bau muss offenbar zügig voranschreiten.

"Bisher war niemand bereit, mit uns darüber zu reden, obwohl wir von Anfang an darauf hingewiesen haben, dass der Zaun eine unüberwindbare Barriere und eine tödliche Falle für die Tiere darstellen wird. An einem so einzigartigen Ort wie dem Białowieża-Urwald, der viele seltene und gefährdete Tierarten beherbergt, hätten andere Lösungen in Betracht gezogen werden können", sagt Professor Rafał Kowalczyk vom Institut für Säugetierbiologie der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Białowieża, der als einer von mehr als 1.600 Wissenschaftlern aus aller Welt einen Appell gegen den Bau des Zaunes unterschrieben hat.

Protest gegen Zaunbau an der Grenze Polen-Belarus
Gegen den Bau des Grenzzauns protestieren Wissenschaftler und Umweltschutzaktivisten. Bildrechte: IMAGO / NurPhoto

Ein Paradies für Luchse?

Dank GPS-Tracking weiß Kowalczyk, dass Wölfe und Luchse bis zu 350 Quadratkilometer große Jagdreviere brauchen, die sich auf beiden Seiten der Grenze erstrecken. Um die Wanderrouten dieser Raubtiere aufzuzeichnen, bekommen sie Halsbänder mit einem GPS-Sender verpasst, die sich nach etwa eineinhalb bis zwei Jahren von allein vom Tierkörper lösen. Deshalb weiß Kowalczyk: Die Zerstückelung ihres Lebensraums durch den Grenzzaun gefährdet ihre Überlebens- und Fortpflanzungschancen erheblich.

"Künstliche Barrieren sind eine der größten Bedrohungen für die Natur, da sie die Tierbestände fragmentieren. In extremen Fällen können sie isoliert werden, wie im Fall der Luchse. Der neue Zaun wird ihre räumliche und soziale Organisation, die Migration und den Genaustausch gefährden. In kleinen isolierten Beständen wirken sich zufällige Faktoren, selbst der Tod eines einzelnen Individuums, langfristig auf ihre Überlebens- und Fortpflanzungschancen aus", warnt Prof. Kowalczyk.

Der Luchsbestand in Polen hat stark von der Zuwanderung von Tieren aus Belarus profitiert, die nun mit Sicherheit zurückgehen wird, wie Prof. Kowalczyk sagt. Derzeit leben nur ca. 200 Luchse in ganz Polen, davon 30-35 im Białowieża-Urwald. Obwohl die Tiere vor 26 Jahren unter Schutz gestellt wurden, ist ihre Anzahl nicht gestiegen, was die Sensibilität dieser großen europäischen Katze belegt.

Zwei Luchse
Einst war der Białowieża-Urwald ein Paradies für Luchse. Damit ist es jetzt vorbei. Bildrechte: IMAGO / Reiner Bernhardt

NATO-Draht – der blutigste Grenzschutz

Der neue, im Bau befindliche Grenzzaun, wird für Tiere praktisch unüberwindbar sein, befürchten Wissenschaftler wie Prof. Kowalczyk. Aber schon die jetzigen, provisorischen Grenzsperren aus NATO-Draht, sind für viele Arten undurchlässig. Der Name Concertina, unter dem der NATO-Draht in Polen bekannt ist, mag zwar hübsch oder gar harmlos klingen, doch der Name Klingen-Draht gibt seine Eigenschaften viel besser wieder. Im Gegensatz zu herkömmlichem Stacheldraht ist er mit kleinen rasiermesserähnlichen Klingen versehen, die nicht nur die Haut verletzen, sondern auch Fleischstücke herausreißen, Muskeln aufschlitzen sowie Sehnen und Blutgefäße zerschneiden können, was zum Tod durch massiven Blutverlust führt. Menschen schaffen es, über einen Zaun zu springen oder ihn zu umgehen. Bei den meisten Tieren funktioniert es nicht, insbesondere bei großen Tieren wie Wisenten, Elchen und Hirschen. Kleineren Tieren, z. B. Füchsen und Dachsen, gelingt es manchmal, durch den Stacheldraht zu schlüpfen, während Wölfe in der Regel den Draht untergraben. Beim Klingendraht haben sie aber keine Chance.

Der belarussische Grenzschutz hat Videos von toten Elchen veröffentlicht, die sich im Klingendraht verfangen haben. Auch wenn die Bilder Propagandazwecken dienen, ist das Leid der um ihr Leben kämpfenden Tiere unbestritten. In einer kürzlich veröffentlichten Mitteilung wird behauptet, dass "bereits fünf Elche und ein Reh auf der belarussischen Seite der Grenze an Verletzungen verendet sind, seitdem das polnische Militär den Klingendraht auf seinem Gebiet installiert hat".

Es ist nicht bekannt, wie viele Tiere auf diese Art tatsächlich umgekommen sind. Belarussische Angaben können nicht überprüft werden, polnische Behörden geben keine Auskunft darüber, weil sie vermutlich den Zorn der Öffentlichkeit befürchten. Nach Angaben der Anwohner und der Social-Media-Nutzer werden solche Fälle aber vermehrt festgestellt.

2 Soldaten ziehen einen Stacheldrahtzaun. Grenze zwischen Polen und Belarus.
Der NATO-Draht ist in Polen unter dem wohlklingenden Namen Concertina bekannt. Doch er ist alles andere als harmlos. Bei Tieren kann er tödliche Verletzungen verursachen. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Tiere zwischen zwei Grenzzäunen gefangen

Ein weiteres Problem: Neben den neuen polnischen Grenzsperren gibt es auf belarussischer Seite den alten Sistema-Zaun. Er verläuft nicht exakt entlang der Grenzlinie – in einigen Abschnitten reicht er bis zu zwei Kilometer ins belarussische Hinterland hinein. Dadurch entstehen Buchten zwischen den beiden Zäunen, die bis zu 20 Quadratkilometer groß sind. Es handelt sich um wilde Feuchtgebiete, die jahrelang von Tieren als perfekte Futterorte im Sommer genutzt wurden. Als es auf polnischer Seite noch keine NATO-Draht-Sperren gab, konnten die Tiere jederzeit zu ihren Winterquartieren in Polen zurückkehren, wo sie gefüttert werden. Jetzt versperrt ihnen der Klingendraht den Heimweg.

In einer der Buchten hängen derzeit etwa 20 polnische Wisente fest. Einer von ihnen ist vor kurzem verendet – wahrscheinlich verhungert, was man an den durchscheinenden Rippen erkennen kann. Das belarussische Staatsfernsehen berichtete sofort von dem Vorfall. Die polnischen Behörden stritten es lange ab, bis ein weiterer Wisent verendet ist. Erst danach wurden Versuche unternommen, die zwischen den Zäunen gefangenen Tiere zu befreien.

Grenzzaun zwischen Polen und Belarus am Fluss Bug
Auch das Ufer des Bug, der einen Teil der Grenze zwischen Polen und Belarus bildet, wurde mit NATO-Draht gesichert. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Der stille Bug

Der Grenzfluss Bug, im Rahmen des Programms "Natura 2000" geschützt, ist einer der letzten unregulierten Flüsse Europas. Die Regierung versicherte zwar, dass er vom Grenzzaun verschont bleiben wird, doch es ist genau das Gegenteil eingetreten – das polnische Ufer ist bereits mit dem NATO-Draht "geschmückt".

Dabei ist das Flussufer ein äußerst reichhaltiger Lebensraum. Als Wasser- und Futterstelle ist es von grundlegender Bedeutung für große und mittelgroße Säugetiere. Auch für Wassertiere, die hier leben: Biber, Otter und Iltisse. Im Frühling tauchen dort Enten, Lappentaucher, Blässhühner, Reiher und Watvögel auf, für die der Kontakt mit dem Draht tödlich sein kann. Und während der Eisschmelze und beim anschließenden Hochwasser kann der Zaun von fließenden Baumstämmen mitgerissen werden und alle Arten von Wildtieren gefährden.

"Früher oder später wird die Migrationskrise gelöst sein, aber der Zaun wird nicht so schnell verschwinden. Ich hoffe, dass er dennoch eines Tages abgebaut wird", sagt Prof. Kowalczyk.

Rettungswagen im Wald mit Menschen 15 min
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 06. Januar 2022 | 19:30 Uhr

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