Polnische Soldaten patrouillieren an der polnisch-belarussischen Grenze. 6 min
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Grenze Polen-Belarus Migrationskrise: 86 Prozent der Polen für Schusswaffengebrauch

25. Juni 2024, 11:09 Uhr

Weil an der Grenze zwischen Polen und Belarus immer mehr illegale Grenzübertritte registriert werden, hat die polnische Regierung das Sperrgebiet wiedereingeführt, das es schon unter der PiS-Partei gab. Bei vielen Einheimischen stößt es auf Ablehnung, weil sie negative Folgen für den Tourismus befürchten, von dem die Region lebt. Landesweit kommt der harte Kurs von Premier Tusk aber offenbar gut an, und viele Polen hätten auch mit Schusswaffengebrauch gegen gewalttätige Migranten kein Problem.

Aleksandra Syty
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Seit Monaten nehmen die Spannungen an der polnisch-belarusischen Grenze zu. Polen wirft seinem Nachbarland vor, gezielt Migranten an die Grenze zu schleusen. Neben einer erhöhten Zahl illegaler Grenzübertritte kam es in jüngerer Vergangenheit gehäuft zu gewaltsamen Zwischenfällen. Trauriger Höhepunkt war der Tod eines jungen Soldaten: Er war Ende Mai an der Grenze von einem Migranten mit einem Messer angegriffen worden und erlag später seinen Verletzungen.

Dieser Angriff hat in Polen einen großen Aufruhr ausgelöst. Die Regierung verhängte als Reaktion darauf ein Aufenthaltsverbot im Grenzgebiet, das seit dem 13. Juni für 90 Tage gilt. Dieses Sperrgebiet erstreckt sich über 60 Kilometer entlang der Grenze zu Belarus und ist für die allermeisten tabu. Anders als unter der PiS-Regierung dürfen allerdings Mitarbeiter von Hilfsorganisationen und Medien die Sperrzone betreten, auch wenn das keineswegs so einfach ist, wie die Behörden es angekündigt haben.

Soldaten am Grenzzaun zwischen Polen und Belarus
Die Grenze zwischen Polen und Belarus soll massiv ausgebaut werden Bildrechte: IMAGO / ZUMA Press Wire

Nach Konsultationen mit örtlichen Unternehmern und Kommunalbeamten wurde das Sperrgebiet aber auf das notwendige Minimum reduziert, um seine Auswirkungen für Anwohner, Unternehmer und Touristen möglichst gering zu halten. Sie gilt auch nicht für Wohnorte und Touristenrouten. Das Ergebnis: Auf einer Länge von rund 44 Kilometern ist die Sperrzone nur rund 200 Meter breit. Dort, wo sie durch Naturschutzgebiete führt, ist sie dagegen um fast zwei Kilometer breiter. Dennoch fürchten viele Einheimischen um ihre Arbeitsplätze in der Tourismusbranche.

Verstärkte Kräfte im Grenzstreifen

Die Pufferzone ist nicht die einzige Maßnahme der Regierung, um den Schutz der Grenze zu Belarus zu verstärken. Zunächst wurde personell aufgestockt: Derzeit sind in der Grenzregion rund 2.000 Grenzschützer, 6.000 Soldaten und weitere 400 Polizeibeamte im Einsatz. Die Regierung plant, noch weitere Polizeikräfte aus Präventionseinheiten an die Grenze zu schicken. Diese sollen zudem besser mit Tränengas, Wasserwerfern und Körperschutz ausgestattet werden. Außerdem ist vorgesehen, die Armee für die Bekämpfung von Krawallen – eigentlich eine Polizeiaufgabe – zu schulen. Der Grenzschutz hat bereits vor einigen Wochen Waffen erhalten, die Gummigeschosse abschießen.

Nach Angaben des Innenministeriums wird der von der Vorgängerregierung errichtete Grenzzaun ebenfalls verstärkt, wofür zusätzliche 1,5 Mrd. Złoty (knapp 350 Mio. Euro) bereitgestellt werden. Bis Anfang nächsten Jahres soll ein Monitoring-System an den Flüssen im Grenzbereich fertig sein, das aus rund 1.800 Kameramasten sowie 4.500 Tag/Nacht- und Wärmekameras sowie speziellen Sensoren zur Erkennung verschiedener physischer Merkmale von Objekten bestehen wird.

Donald Tusk (M), Ministerpräsident von Polen, der Oberbefehlshaber des Grenzschutzes, Generalmajor Robert Bagan (l) und der stellvertretende Befehlshaber des Grenzschutzes in Podlachien, Oberstleutnant Marek Sochanski, sprechen bei einem Besuch an der Grenze zu Belarus.
Donald Tusk an der Grenze zu Belarus: Inzwischen hat er einen harten Kurs in Sachen irregulärer Migration eingeschlagen. Bildrechte: picture alliance/dpa/pap | Pawel Supernak

Außerdem hat die Regierung eine Gesetzesänderung im Parlament eingebracht, die den Einsatz von Schusswaffen durch das Militär neu regeln soll. Doch nach massiven Protesten von Juristen und Menschenrechtlern verzögert sich diese Debatte.

Einheimische fürchten um Tourismuseinnahmen

Bei den Menschen, die in der Grenzregion Podlasie leben, ist die Stimmung derzeit recht schwermütig. Die Bewohner der Region, die vor allem für ihre touristischen Attraktionen bekannt ist, wollen einfach nur in Ruhe leben, arbeiten und ihre Geschäfte führen. Sie wurden bereits von der Covid-Pandemie und dann von der ersten Sperrzone der PiS-Regierung im Jahr 2021 hart getroffen. Derzeit gibt es keinerlei Anzeichen für eine wirtschaftliche Wiederbelebung – im Gegenteil, die zunehmende Kriegsrhetorik ist eher schädlich fürs Geschäft.

Slawomir Droń, ein Tourismusunternehmer aus Białowieża, kann seine Verbitterung nicht verbergen. Seine Einschätzung der Lage vor Ort unterscheidet sich grundlegend von der der Regierung: "In den Grenzorten gibt es genauso viele Flüchtlinge wie früher. Und sie stellen kaum eine Bedrohung dar" – behauptet er. Durch "Panikmache" sei die Zahl der Buchungen in seinem Betrieb um zwei Drittel zurückgegangen, daher werde er in dieser Saison sicher keinen Gewinn machen. Gleichzeitig seien die Zusagen der Regierung zum Ausgleich von Verlusten für die Tourismusbranche so vage, dass er immer noch nicht weiß, mit welcher Hilfe er rechnen kann.

"Auf der einen Seite schürt man Angst und Hysterie, indem man ständig von einer wachsenden Bedrohung spricht, auf der anderen Seite ist man nicht in der Lage, den Unternehmern konkrete Hilfsangebote zu machen", schimpft Droń, der ein Restaurant und einen Fahrradverleih führt. Dies werde "die gesamte Region Podlasie zerstören", warnt der Unternehmer.

In Białowieża geht das Leben derweil seinen gewohnten Gang, die Touristenrouten sind geöffnet. Derzeit sind auch keine Arbeiten in Sicht, die auf einen Ausbau der Infrastruktur wie Unterkünfte für die Armee oder den Umbau des Grenzzauns hindeuten würden. Die einzige Änderung sind Warnschilder entlang der neuen Zone – paradoxerweise nur auf Polnisch. Dafür verschickt die Regierung inzwischen SMS auf Englisch, in denen sie auf das Aufenthaltsverbot in der Pufferzone hinweist – und darauf, dass Soldaten von ihrer Schusswaffe Gebrauch machen. Das würde die Touristen nur erschrecken, ärgert sich Droń, der das bei seinen Kunden schon erlebt hat.

Personen hinter einem massiven Zaun
Keine Bedrohung - oder doch? Migranten am Grenzzaun zwischen Polen und Belarus im Urwald von Białowieża. Bildrechte: IMAGO / ZUMA Press Wire

Menschenrechtsaktivisten enttäuscht

Noch größer ist die Enttäuschung unter Menschenrechtsaktivisten und den freiwilligen Helfern, die die Flüchtlinge seit drei Jahren an der Grenze versorgen. "Wir haben gehofft, dass sich mit dem Regierungswechsel auch die Politik an der polnisch-belarusischen Grenze ändern würde. Die anfänglichen Erklärungen über eine humanere Behandlung von Menschen, die versuchen, nach Polen zu gelangen, haben sich jedoch als unwahr erwiesen", sagte Aleksandra Chrzanowska von der "Vereinigung für juristische Intervention" dem Wochenblatt "Polityka". Stattdessen trete die Regierung von Donald Tusk in die Fußstapfen der PiS, so die Aktivisten. In diesem Jahr wollen die Helfer im Grenzgebiet bereits über 4.000 nach EU-Recht illegale Pushbacks registriert haben.

Demonstranten halten während der Demonstration ein Banner mit der Aufschrift „Hört auf, Menschen an der polnischen Grenze zu foltern und auszulöschen.
Aktivisten protestieren Anfang Juni in Warschau gegen die Politik der Regierung Tusk an der polnisch-belarusischen Grenze. Bildrechte: IMAGO / SOPA Images

Derweil zeigen Umfragen, dass sich die Einstellung der Polen in Bezug auf eine harte Gangart an der Grenze zu Belarus ändert: Während im Herbst 2022 noch 52 Prozent der Befragten die illegalen Pushbacks für akzeptabel hielten, sind es heute bereits 67 Prozent. Den Schusswaffeneinsatz durch Soldaten im Falle eines gewaltsamen Grenzübertritts von Migranten halten gar 86 Prozent der Polen für gerechtfertigt – so eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts IBRIS im Auftrag der Zeitung "Rzeczpospolita" vom Anfang Juni 2024.

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