Doppelmoral im Wahlkampf Polen: Gastarbeiterland trotz offizieller Migrantenhetze

18. August 2023, 21:21 Uhr

Noch nie gab es in Polen so viele Gastarbeiter wie unter der PiS-Regierung. Das ist paradox, denn offiziell warnt die Regierungspartei vor Überfremdung und malt statt dem Teufel den Migranten an die Wand, in der Hoffnung, damit die Wahl im Herbst zu gewinnen – doch "hintenrum" lässt die PiS-Regierung hunderttausende Ausländer ins Land, um den enormen Arbeitskräftemangel zu mildern. Ein klassischer Fall von politischer Doppelmoral.

Aleksandra Syty
Bildrechte: Aleksandra Syty/MDR

Am 15. Oktober wird in Polen ein neues Parlament gewählt, und die Regierungspartei sucht verzweifelt nach Themen, die ihr zum Sieg verhelfen könnten. Nichts will so richtig beim Wahlvolk verfangen, weder neue Sozialgeschenke, noch die alten Feindbilder wie Atheisten, sexuelle Minderheiten, "die Deutschen"…

Einer der alten Hüte, die PiS-Chef Jarosław Kaczyński in seiner Not aus der Mottenkiste geholt hat, ist die angebliche "Zwangsumsiedlung von Flüchtlingen" im Rahmen der EU – ein Plan, der in Wahrheit bisher gar nicht existiert, was Kaczyński aber nicht daran hindert, von einer "besonders dreisten Diskriminierung" Polens zu sprechen. Mehr noch: Am Wahltag sollen die Polen nicht nur ihr neues Parlament wählen, sondern in einem Referendum über die angebliche "Zwangsumsiedlung" abstimmen. Damit hofft Kaczyński, die Zustimmungswerte der Regierungspartei zu verbessern – eine Strategie, die ihm schon 2015 zum Wahlsieg verhalf, als er vor einer "Islamisierung" des Landes warnte. Nun greift die PiS zum gleichen Kniff und schürt Angst vor Migranten.

Unternehmer fordern Arbeitskräfte

Dabei holt die PiS-Regierung sie seit Jahren massenhaft ins Land – als Gastarbeiter. Denn eines ist unbestritten: Polen braucht dringend Migranten, um den eklatanten Arbeitskräftemangel zu lindern. Die Wirtschaft fordert das seit Jahren und auch die Regierung ist sich des Problems bewusst. Allerdings will sie ihre offiziellen Positionen in der Einwanderungspolitik nicht ändern, denn mit Migrantenhetze lässt sich noch immer, so jedenfalls der Glaube der PiS-Führung, vortrefflich Stimmenfang betreiben. Also geht die Regierung pragmatisch, aber diskret vor. Ungeachtet ihrer ausländerfeindlichen Rhetorik lässt sie ganz legal Migranten aus Gebieten ins Land strömen, die Polen "kulturell sehr fernstehen".

Arbeitskräftemangel in Polen

Schon jetzt sehen 51 Prozent der Unternehmer den Arbeitskräftemangel als ein Hindernis für ihre Tätigkeit. Es betrifft vor allem das Bauwesen, die Elektronik- und die Leichtindustrie, außerdem den E-Handel und den Bereich Transport und Logistik. Auch im Gastro- und Hotelgewerbe ist jeder zehnte Beschäftigte bereits ein Arbeitsmigrant. Nach Schätzungen von Professor Paweł Kubicki von der Wirtschaftshochschule in Warschau machen Ausländer derzeit etwa 6,5 Prozent aller Arbeitnehmer in Polen aus. Er erwartet, dass sich ihr Anteil innerhalb weniger Jahre verdoppeln oder sogar verdreifachen wird.

Migranten stehen an einem Eisenzaun
Müssen als Wahlkampf-Schreckgespenst herhalten: Flüchtlinge an der Grenze zwischen Belarus und Polen. Bildrechte: IMAGO/ZUMA Wire

Nach Angaben des Arbeitsministeriums kletterte die Zahl der erteilten Arbeitsgenehmigungen für Nicht-EU-Ausländer schon 2021 auf das Rekordhoch von mehr als einer halben Million. 2022 wurden weitere 365.000 Arbeitserlaubnisse erteilt. Nur 85.000 davon gingen an Flüchtlinge aus der Ukraine. Der Löwenanteil davon, etwa 280.000 Stück, gingen an Neuankömmlinge aus anderen, vor allem nichteuropäischen Ländern – darunter mehr als 130.000 an Menschen aus islamisch geprägten Staaten, also genau aus jenen Ländern, die die Regierungspropaganda als besonders gefährlich hinstellt. Seit dem Regierungsantritt der PiS im Jahr 2015 hat sich die Zahl der erteilten Arbeitsgenehmigungen für Nicht-EU-Ausländer sage und schreibe um das 40-fache erhöht. Die meisten Gastarbeiter kamen aus Indien, Bangladesch, Usbekistan, Georgien, Philippinen, Nepal und Turkmenistan. Auch die Zahl der Afrikaner geht bereits in die Tausende.

Staatskonzern wächst dank Gastarbeitern

Vom Arbeitskräftemangel ist auch PKN Orlen, der größte Petrochemie-Konzern Polens, betroffen. Der staatliche Riese baut gerade sein Werk in der Nähe von Płock aus, die Investition ist fast drei Milliarden Euro wert. Im Olefin-III-Komplex sollen künftig Petrochemikalien produziert werden, die u.a. zur Herstellung von Reinigungs- und Medizinprodukten dienen. Mehr als 3.000 Menschen arbeiten bereits auf der Baustelle. In der Hochphase in etwa einem Jahr sollen es zwischen 10.000 und 13.000 sein, davon ca. 6.000 aus Asien und dem Nahen Osten. Auf acht Hektar Fläche wurde bereits eine riesige Containerstadt für mehrere Tausend Arbeiter errichtet.

Das Beispiel von PKN Orlen beweist, dass sich die Regierungspartei der demografischen und wirtschaftlichen Herausforderungen bewusst ist und entgegen ihrer einwanderungsfeindlichen Rhetorik versucht, das Problem mit Hilfe von ausländischen Arbeitskräften zu lösen. Doch die Gesellschaft bekommt dieses Paradox sehr wohl mit und ist etwas verwirrt.

Polen werden allmählich toleranter

Immer mehr dunkelhäutige Menschen sind im Straßenbild und auch im Kundenservice von Unternehmen zu sehen. Für die Polen werden sie – auch in Kleinstädten – allmählich zu einer Selbstverständlichkeit. Trotz ihrer gestiegenen Zahl hat die Kriminalität nicht zugenommen und die Kirchen werden nicht von Muslimen angegriffen, wie es die PiS-Propaganda die Menschen glauben machen wollte. Aus einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Ipsos im Auftrag des Portals OKO.press geht hervor, dass nur 27 Prozent der PiS-Wähler Angst vor Migranten aus Afrika, Asien und dem Nahen Osten haben, bei der übrigen Bevölkerung sind es sogar nur sechs Prozent.

Jaroslaw Kaczynski
Versucht mit migrantenfeindlicher Rhetorik zu punkten: PiS-Chef Jarosław Kaczyński Bildrechte: IMAGO/NurPhoto

Dazu hat auch der Ukraine-Krieg beigetragen, denn dadurch wurden polnische Bürger mit dem bisher abstrakten Begriff "Flüchtlinge" erstmalig sehr direkt und massenhaft konfrontiert. Das hat ihre Haltung gegenüber allen, auch dunkelhäutigen Ausländern, ein Stück weit geändert. Und so ist es fraglich, ob die ausländerfeindliche Rhetorik der PiS diesmal zum Wahlsieg verhelfen wird.

Erneut Wahlsieg dank Migrantenhetze?

"Es besteht kein Zweifel daran, dass die flüchtlingsfeindlichen Botschaften 2015 den Ausschlag zugunsten der PiS gegeben haben. Aber wir haben uns als Gesellschaft seither verändert. Wir befinden uns in einer anderen geopolitischen Situation und in einem anderen Entwicklungsstadium nach der Welle der Solidarität mit ukrainischen Frauen und Männern, die vor dem Krieg geflohen sind. Die Polen haben ein viel besseres und greifbareres Verständnis dafür, was Krieg, Konflikt und das Leid von Erwachsenen und Kindern bedeuten", glaubt die Soziologin Karolina Podgórska von der Universität Lublin. Die altbewährte Methode der PiS, zuerst Feindbilder und Gefahren heraufzubeschwören und sich dann als "Beschützer" zu positionieren, könnte diesmal also wirkungslos bleiben.

Das bestätigt indirekt auch die Liste der Themen, die den Polen derzeit Sorgen bereiten. Bei einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts IBRIS für die Tageszeitung "Rzeczpospolita" nannten 34,8 Prozent hohe Preise und die Auswirkungen der Inflation an erster Stelle. Danach folgten die Themen nationale Sicherheit (22,4 Prozent), Gesundheit (17,4 Prozent) und der Ukraine-Krieg (11,3 Prozent). Die Umsiedlung von Migranten, die die PiS nun als Wahlkampfthema ausschlachten will, stand mit 5,7 Prozent an letzter Stelle.

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | MDR Aktuell | 15. August 2023 | 15:18 Uhr

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