Ausbeutung Russlands Fleischindustrie: Arbeiten wie im 19. Jahrhundert?

09. Juli 2020, 16:35 Uhr

Auch in Russland steht die Fleischindustrie derzeit massiv in der Kritik. Beschäftigte beklagen miserable Arbeitsbedingungen und ungenügenden Gesundheitsschutz. Dabei galt die russische Fleischwirtschaft bislang als Musterschüler.

Fotomontage Mann vor Fahne
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Schlachtanlage im Dorf Krasnoje
Schlachthof in Russland: Arbeiten wie im 19. Jahrhundert? Bildrechte: imago/ITAR-TASS

Ja, der Fall Tönnies sei ihm natürlich bekannt, sagt Alexej Kozakov. Doch seine Mandanten vergleicht der Moskauer Anwalt lieber mit den Arbeitern in den Fabriken von Großbritannien im 19. Jahrhundert, statt mit der deutschen Fleischindustrie. Dabei sind die Parallelen zwischen dem Skandal um den deutschen Fleischproduzenten und dem Fall, an dem Kozakov gerade arbeitet, kaum von der Hand zu weisen. Denn seit Wochen brodelt in der russischen Fleischindustrie ein Streit, der ein Schlaglicht auf die Zustände in einer eigentlich aufstrebenden Branche wirft.

Skandalöse Arbeitsbedingungen

Für Kozakov begann sein jüngster Fall Mitte Juni, als eine Gruppe von Frauen ihn wegen eines Streits mit ihrem Arbeitgeber um Hilfe bat. "Die Frauen waren aufgebracht, dass sie plötzlich 15 bis 16 Stunden am Tag arbeiten mussten, ohne dass die Überstunden bezahlt worden sind", erzählt der Anwalt. "Sie müssen bedenken, dass es sich um schwere körperliche Arbeit handelt. In dem besagten Betrieb zerschneiden die meist weiblichen Angestellten schwere Schweinekörper und müssen den ganzen Tag stehen", erklärt Kozakow. Der Betrieb unweit der Stadt Belgorod, 600 km südlich von Moskau gelegen, gehört zum Imperium von Miratorg, dem größten Fleischhersteller Russlands mit gut 50 eigenen Produktionsanlagen im gesamten Land

Fleisch im Dorf Krasnoje
Bildrechte: imago/ITAR-TASS

Arbeiten trotz Corona-Symptomen

Später stellte sich heraus, dass die Überstunden wohl das Ergebnis eines entgleisten Krisenmanagements des Unternehmens waren. "Offenbar wurden während der Corona-Epidemie immer mehr Angestellte krank. Die restlichen mussten die ausgefallenen Kollegen kompensieren", berichtet der Anwalt der Angestellten. Zudem hätten einige der mehr als 1.000 Mitarbeiter der Fleischfabrik geklagt, dass Kollegen trotz Erkältungssymptomen weiter auf Weisung der Vorgesetzten ihre Schicht zu Ende arbeiten mussten.

Mit Entlassung gedroht

Der Konflikt brodelte einige Zeit unter der Oberfläche, bis sich ein Teil der Angestellten vor gut zwei Wochen zu einem Streik entschloss. Oxana Naryschkina hat selbst 12 Jahre seit der Gründung ihres Betriebs in der betroffenen Fleischfabrik gearbeitet. In einem YouTube-Video des Nachrichtenportals "Belgorod 1" erklärt die Miratorg-Angestellte, dass die Unternehmensleitung die Mitarbeiter nicht vom Gelände ließ: "Mehrfach haben sie einfach den Fahrplan für die Betriebsbusse nach hinten verschoben, die normalerweise die Mitarbeiter zum Betrieb und wieder in die Stadt fahren." Für Dutzende Überstunden hätten nur einige Mitarbeiter etwa 15 Euro Aufschlag bekommen, der Rest ist leer ausgegangen. Als es schließlich zum Streik kam, drohten die Chefs mit Entlassungen. "Uns haben sie dann die elektronischen Passierscheine gesperrt. Mein Vorgesetzter sagte mir ganz offen, ich würde Unruhe in der Schicht stiften", erinnert sich Naryschkina.

Eine ältere Frau, die Fleisch auf dem Oktyabrsky-Lebensmittelmarkt einkauft.
Kundin auf einem russischen Fleischmarkt Bildrechte: imago images/ITAR-TASS

Cowboys in Russland

Über Tage hat die Miratorg-Zentrale immer wieder die gleiche Mitteilung an die Medien verschickt, die in der Sache nachhakten: Man prüfe den Fall und werde bei einem Verstoß entsprechend handeln. Tatsächlich muss Miratorg nun um seinen guten Ruf fürchten, denn das Unternehmen gehörte in den letzten Jahren zu den Stars der russischen Lebensmittelindustrie. Im letzten Jahrzehnt hatte es dazu beigetragen, dass Russland mittlerweile kaum noch Fleisch importieren muss. Eine für Russland gute Entwicklung auch vor dem Hintergrund der EU-Sanktionen. Die heimische Produktion bei Schweinefleisch ist seit 2015 um mehr als ein Drittel gestiegen. Bei Hühnerfleisch stieg die Produktion um mehr als 15 Prozent. Mittlerweile bemühen sich russische Hersteller, neue Exportmärkte wie China oder den arabischen Raum zu erschließen. 2016 ließ Miratorg sogar öffentlichkeitswirksam Cowbows aus den USA rekrutieren, die in Russland die Rinderzucht ankurbeln und ihre russischen Kollegen anlernen sollten.

Kuh auf dem Melkstand
Rinderfarm in Russland Bildrechte: imago images/ITAR-TASS

Staatsanwaltschaft prüft Verstöße

Der jüngste Skandal wirft jedoch längst nicht nur einen Schatten auf den Branchenprimus Miratorg. Schon Anfang Juni wurde etwa bekannt, dass sich mindestens 60 Mitarbeiter einer Wurstfabrik bei Pskov, nahe der lettischen Grenze, mit dem Corona-Virus infiziert hatten. Die Verbraucherschutzbehörde Rospotrebnadzor hatte damals die Leitung des Betriebs für unzureichende Vorsichtsmaßnahmen kritisiert. Der Betrieb gehört zum Welikolukskij Fleischkombinat, der ebenfalls zu den größten Fleischherstellern des Landes gehört. Die Staatsanwaltschaft kündigte Mitte Juni eine Überprüfung an.

Ein Verkäufer mit Gesichtsmaske und Handschuhen verkauft Fleisch auf einem Lebensmittelmarkt im Schwarzmeerort Sotschi
Fleischerei in Russland Bildrechte: imago images/ITAR-TASS

Der Konzern lenkt ein

Die Konkurrenz von Miratorg sieht sich nun ähnlichen Prüfungen durch die föderalen Behörden ausgesetzt. Derweil ist Anwalt Kozakov optimistisch: "Das große Medienecho und die Reaktion der föderalen Behörden haben offenbar die Gesprächsbereitschaft bei Miratorg erhöht." Während des Streiks hatte der Wachdienst des Unternehmens Kozakov und einen seiner Kollegen nicht zu den Mitarbeitern auf dem Betriebsgelände vorgelassen. Nun jedoch schrieb der Konzern einen Brief, in dem er sich bereit erklärte, wenigstens einen Teil der Überstunden zu bezahlen und die streikenden Arbeitnehmer auch weiterhin zu beschäftigen.

Dieses Thema im Programm: MDR Aktuell TV | 06. Juli 2020 | 17:45 Uhr

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