Coronavirus-Pandemie Russland: Misstrauen gegen Putins Corona-Politik
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29. April 2020, 00:00 Uhr
Russland hat China bei der Zahl der Corona-Infizierten überholt: 87.000 sind es mindestens. Experten rechnen mit einer hohen Dunkelziffer. Und viele Russen misstrauen inzwischen ihrer Regierung beim Krisenmanagement.
Vertuschte Tote
Die Russin Wera Kurbatina sollte eigentlich längst wieder wohlbehalten und auskuriert zu Hause sein. Ende März hatte sie sich in einem Krankenhaus der Kleinstadt Eschwa in der Teilrepublik Komi, rund 1400 Kilometer östlich von Moskau, wegen eines leichten Schlaganfalls behandeln lassen. Doch dann infizierte sich die 83-jährige im Krankenhaus mit dem für sie tödlichen Corona-Virus. Kurbatina starb am 23. April, einen Tag nachdem der Gouverneur der Republik Komi in einer Videobotschaft erklärt hatte, alle Corona-Patienten des Krankenhauses in Eschwa, seien gesund nach Hause entlassen worden.
Für Ernest Mesak, einen Menschenrechtler und Investigativjournalisten aus Komi ist Kurbatinas Tod ein Skandal. Vor einigen Wochen hatte Mezak aufgedeckt, dass der Chefchirurg des Krankenhauses in Eschwa das Leben von Patienten fahrlässig aufs Spiel gesetzt hatte. Trotz eindeutiger Erkältungssymptome ging er weiter zur Arbeit und operierte Patienten. Längst war die Corona-Epidemie da auch in Russland angekommen.
"Die Kollegen des Arztes aus dem Krankenhaus haben mich informiert", erinnert sich Mesak. Er hat die Informationen in den sozialen Netzwerken publiziert, um wenigstens dort öffentlich alle Alarmglocken zu läuten. Die lokalen Machthaber haben zunächst alles abgestritten und versucht, die Situation unter den Tisch zu kehren. "Ich habe sogar schriftliche Drohungen bekommen, man würde mich ins Gefängnis sperren und sexuell missbrauchen", erzählt Mesak. Am Ende mussten die Behörden einräumen, dass sich einige Patienten im Krankenhaus in Ezhwa angesteckt hatten, darunter auch die 83-jährige Kurbatina. "Doch statt das Krankenhaus unter Quarantäne zu stellen, wurde ein Teil der Patienten einfach in andere Krankenhäuser verlegt; sie haben so das Virus weitergetragen", kritisiert Mesak.
Misstrauen und Unmut
Auf die Einwohnerzahl gerechnet, avancierte Komi so in Windeseile zur Region mit den meisten Infizierten. Der Skandal wurde im offiziellen Moskau registriert. Anfang April mussten Komis Gouverneur und sein Gesundheitsminister ihre Posten räumen.
Missstände wie in der Republik Komi und Versuche, Probleme unter den Tisch zu kehren, sorgen für immenses Misstrauen in der Bevölkerung gegenüber den Behörden. Und sie werfen ein Schlaglicht auf das Krisenmanagement der Regierung. Einer Umfrage der Moskauer Higher School of Economics zufolge glauben 50 Prozent der Russen den offiziellen Zahlen nicht, sie halten sie für geschönt. Vor allem in den sozialen Netzwerken häufen sich Geschichten von Menschen, die trotz eindeutiger Symptome kein positives Corona-Testergebnis oder keine entsprechende medizinische Hilfe bekommen haben.
Doch nicht nur das medizinische Krisenmanagement sorgt für Unzufriedenheit. Weil im ganzen Land Tausende Unternehmen ihre Arbeit stillegen mussten, drohen Millionen Russen Entlassungen und Lohnausfall.
Kreativer Protest
Um ihrem Ärger während der angeordneten Quarantäne Luft zu machen, haben die Unzufriedenen eine kreative Protestform entwickelt. Seit der vergangenen Woche kaperten sie den Kartendienst des russischen Google-Konkurrenten Yandex. Dieser erlaubt es Nutzern ortsgebundene Kommentare zu hinterlassen, die für andere Nutzer sichtbar sind. Normalerweise sollen andere Fahrer so vor Unfällen oder Staus gewarnt werden. Seit einigen Tagen häufen sich aber Kommentare, die etwa finanzielle Direkthilfen nach europäischem Vorbild fordern. Auch die Forderungen nach dem Rücktritt der erst wenige Monate amtierenden Regierung von Premier Michail Mischustin wurden laut. Zu hunderten hinterließen Nutzer Kommentare an zentralen Orten wie dem Roten Platz in Moskau. Jüngst hatte etwa auch der Oppositionspolitiker Nawalny in einer Botschaft gefordert, der Staat solle jedem Russen zunächst rund 300 Euro aus dem Staatlichen Wohlstandsfonds auszahlen. Der Kreml kritisierte den Vorschlag als populistisch.
Höhepunkt der Epidemie noch nicht erreicht
Bisher hat der Kreml vor allem günstige Kredite, erhöhtes Kindergeld und eine Aufstockung der Arbeitslosenhilfe auf umgerechnet 150 Euro an Hilfsmaßnahmen aufgefahren. Deshalb erscheint vielen nur eine Lockerung der Quarantäne als Ausweg aus ihrer wirtschatlich misslichen Lage. Doch diese scheint noch nicht in Sicht. Inzwischen hat Russland mit fast 90.000 offiziell registrierten Fällen China bei der Anzahl der Corona-Infizierten überholt. "Wir können derzeit noch nicht sagen, ob wir den Höhepunkt der Epidemie oder das so genannte Plateau erreicht haben", sagt etwa Pawel Woltschkow, Virologe und Genforscher vom Moskauer Institut für Physik und Technik.
Anders als viele seiner Mitbürger lobt er aber die Maßnahmen, die in Moskau und anderen von der Corona-Epidemie betroffenen Regionen ergriffen worden sind, um das öffentliche Leben auf ein Minimum herunterzufahren, und so die Ausbreitung des Virus zu hemmen.
Strenge Ausgangssperre
In Moskau, wo derzeit etwa die Hälfte der in Russland offiziell bekannten Infektionsfälle registriert worden sind, dürfen Menschen derzeit nur noch das Haus verlassen, um den Müll rauszubringen oder das nächstgelegene Geschäft aufzusuchen. Bei Verstößen drohen Strafen von bis zu 200 Euro. Wer die U-Bahn nutzen möchte, muss bei der Stadt einen elektronischen Passierschein beantragen. So hat sich etwa die Anzahl der Passagiere in der U-Bahn nach Angaben der Betreiber um 85 Prozent reduziert. Auf den normalerweise stets verstopften Straßen der Hauptstadt seien derzeit täglich nur noch rund 1,1 Millionen Autos unterwegs - weniger als die Hälfte des normalen Verkehrsaufkommens.
"Diese Maßnahmen haben es erlaubt, dass wir bisher keinen Zusammenbruch der Intensivmedizin wie in den USA oder Italien gesehen haben", erklärt Woltschkow. Er selbst habe gerade hier mehr Probleme erwartet. Aus seiner Sicht erklärt das die niedrige Zahl der Toten, die bislang bei etwa 800 liegt. Das Misstrauen der Menschen gegenüber der offiziellen Statistik teile er aber. An flächendeckende Fälschung glaube er zwar nicht, aber "natürlich haben leitende Ärzte und Beamte auch Angst, dass sie Ärger bekommen, wenn sie in ihrem Zuständigkeitsbereich einen Corona-Ausbruch zulassen", erklärt Woltschkow. Es könne durchaus sein, dass dann Statistiken mal gefälscht würden. "Das ist eine Riesendummheit, weil es früher oder später rauskommt". Der Fall der Republik Komi, wo es wegen des Skandals sogar einen Gouverneurswechsel gegeben hat, sei das beste Beispiel dafür.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 17. April 2020 | 17:45 Uhr