Serben im Kosovo Kosovo: Eskalation des Konflikts droht
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19. November 2022, 08:57 Uhr
Die Nerven bei Serben und Albanern im Kosovo liegen blank, denn der Streit um den Status serbisch besiedelter Gebiete im Kosovo spitzt sich zu. Anlass sind immer noch die serbischen Kfz-Kennzeichen im Norden des kosovarischen Staatsgebiets. Die viel bemühte Phrase vom "Pulverfass" scheint momentan angemessen, Beobachter fürchten eine Eskalation des Konflikts.
Die Bilder waren dramatisch: Vor laufenden Kameras zogen serbische Polizisten ihre Polizeiuniformen aus und verkündeten, aus der Polizei des Kosovo auszutreten. Sie würden zu ihrem Volk stehen, sagten sie, dem "Terror" der Regierung in Pristina könnten sie nicht länger zusehen und "gute serbische Miene" zum "bösen albanischen Spiel" machen.
Es folgten serbische Richter, Staatsanwälte, Bürgermeister – alle im Kosovo lebenden Serben traten aus allen Institutionen der Republik Kosovo aus, die ohnehin weder sie noch ihr Mutterland Serbien anerkennen.
Somit sind die zehnjährigen Verhandlungen zwischen Belgrad und Pristina unter der Vermittlung der EU über die "Normalisierung der gegenseitigen Beziehungen" über Nacht zunichte gemacht. Viele befürchten nun, dass der Konflikt im Kosovo gewaltsam eskalieren könnte. Trotz unversöhnlicher Standpunkte über den Status des Kosovo – für Serbien ist die "Wiege des Serbentums" ein untrennbarer, in der Verfassung festgeschriebener Bestandteil des eigenen Landes – wurden in den letzten 10 Jahren beachtliche Fortschritte gemacht: Unter anderem zogen Vertreter der serbischen Bevölkerung im Kosovo in die kosovarische Regierung und das Parlament ein, man einigte sich in den umstrittenen Fragen der Grenzübergänge und Personalausweise und unterzeichnete ein Abkommen über die gegenseitige Anerkennung von Universitätsabschlüssen. Doch als die Serben jetzt die Institutionen des Kosovo verließen, zerfiel alles wie ein Kartenaus in einem Herbststurm – wegen des Streits um die Autokennzeichen im Kosovo.
Der Kennzeichen-Konflikt
Wie brüchig das Nebeneinander-Leben der Albaner und Serben im Kosovo ist, zeigte sich, als der kosovarische Regierungschef Albin Kurti verkündete, ab dem 1. November alle Autos verpflichtend mit kosovarischen Kennzeichen versehen zu wollen. Die im Kosovo lebenden Serben, die mit in Serbien ausgestellten Kfz-Kennzeichen fahren, lehnten das hingegen ab. Die Regierung in Belgrad unterstützt sie in dieser Haltung.
Die EU und die USA wiederum übten heftigen Druck auf Kurti aus. Er solle den forcierten Austausch serbischer gegen kosovarische Autokennzeichen um zehn Monate verschieben, um in diesen globalen Krisenzeiten einen Konflikt vermeiden.
Vergebens. Der kosovarische Premier Kurti setzte um, was er vorhatte: Seit dem 1. November werden unbeugsame serbische Fahrer von der Polizei verwarnt, ab 21. November drohen ihnen Bußgelder von 150 Euro. Ab April 2023 sollen dann die Autos von im Kosovo lebenden Serben beschlagnahmt werden, wenn sie mit serbischen Kennzeichen fahren. "Wir werden uns wehren," verkündeten die Serben daraufhin. Im Kennzeichen-Streit geht es vor allem um den Norden des Kosovo, wo Serben in vier Gemeinden die Mehrheit stellen und um rund 7.000 Autos.
Wie viele Serben heute im Kosovo noch leben, weiß niemand genau. Die letzte Volkszählung, die weder Albaner noch Serben boykottiert haben, fand vor über vier Jahrzehnten statt, 1981. So lange dauert der ethnische Konflikt schon an. Schätzungsweise stellen Serben heute von den knapp 1,9 Millionen Bürgern des Kosovo rund 1,5 Prozent.
Büchse der Pandora ist wieder geöffnet
Ihr werdet euch doch wohl nicht bei all den Problemen in euren Ländern, Europa und der Welt, wegen der blöden Kfz-Kennzeichen wieder in die Haare bekommen, ließ der verärgerte US-amerikanische Botschafter Christopher Hill in Belgrad wissen. Natürlich sagte er das nicht mit diesen undiplomatischen Worten, doch sinngemäß entsprach das seinem Kommentar, angesichts des aktuellen Muskelspiels zwischen Belgrad und Pristina.
Im Grunde genommen geht es um pure Symbolik: Serbische Autokennzeichen sind das letzte verbliebene Symbol des serbischen Staates im Kosovo, und dessen Einfluss will der kosovarische Premier Kurti eben nicht länger dulden. Der Schlagabtausch ist jedoch zu einer Machtprobe geworden. Aller bisher erreichten Verständigung zum Trotz ist so die Büchse der Pandora im Kosovo wieder geöffnet.
"Ekelhafte, schmutzige, kriegstreiberische" Politik
Serbiens Präsident Aleksandar Vučić erklärte Ende vergangener Woche, er sei pessimistisch, was eine Kompromisslösung im Kosovo angehe, denn der kosovarische Ministerpräsident werde in seiner "ekelhaften, schmutzigen, kriegstreiberischen" Politik von so mächtigen Staaten wie Deutschland und Großbritannien unterstützt.
Serbien hingegen werde unter gar keinen Umständen eine "erneutes Pogrom" gegen die Serben zulassen. Als Oberbefehlshaber der serbischen Armee ließ Vučić serbische MIG-Kampfflugzeuge drohend bis zur Grenze des Kosovo fliegen, die in Serbien "administrativer Übergang" genannt wird. Und er hängte Nenad Đurić, dem zurückgetretenen serbischen Kommandeur der kosovarischen Polizei in der Region Nord, demonstrativ einen Verdienstorden an die "heldenhafte" Brust. Eben weil der sich weigerte, den Befehl aus Pristina ausführen, den im Kosovo lebenden Serben mit serbischen Autokennzeichen, Strafzettel zu auszustellen.
Bedingung: Bund serbischer Gemeinden
Und der serbische Präsident Vučić pokerte weiter. Die Bedingung dafür, dass die Serben in die kosovarischen Institutionen zurückkehrten, sei nicht nur, dass Pristina die Finger von den serbischen Kfz-Kennzeichen lässt, sondern auch endlich die Gründung des "Bundes serbischer Gemeinden" (ZSO – Zajednica srpskih opština) ermöglicht. Im Poker nennt man so einen Zug "all-in".
Denn, so erklärte Vučić, die kosovarische Regierung hätte dies im Rahmen des sogenannten Brüsseler Abkommens noch vor acht Jahren zugesagt. Mit der ZSO könnten die überwiegend serbisch bewohnten Gemeinden kollektiv ihre Interessen im kosovarischen Staat vertreten und würden bestimmte Autonomierechte erhalten. Kosovos Premier Kurti jedoch blockiert die Einrichtung der ZSO und sagt, ein solcher Bund wäre ein "Instrument in den Händen Serbiens, um das Kosovo zu destabilisieren." Er beruft sich dabei auf eine Entscheidung des kosovarischen Verfassungsgerichts, das den serbischen Gemeindebund in der vereinbarten Form als verfassungswidrig bezeichnete.
Die EU, die USA und einzelne europäische Staaten fordern nachdrücklich, dass die Serben in die kosovarischen Institutionen zurückkehren, dass Pristina das Verbot serbischer Kfz-Kennzeichen aufschiebt sowie umgehend die Gründung der ZSO ermöglicht.
Das enorme Potential einer Eskalation des Konflikts erkennen alle. Die Nerven auf beiden Seiten liegen blank, die Phrase von "Pulverfass" trifft offenbar sehr wohl zu. Man will nicht erneut Barrikaden auf den Straßen, brennende Autos und Bewaffnete im Kosovo sehen.
Tag X am 21. November?
Doch das Pokerspiel geht weiter. Auf Vučićs "all-in" antwortete Pristina am 14. November damit, vorgezogene Kommunalwahlen in den vier serbischen Gemeinden im Norden Kosovos für den 18. Dezember auszuschreiben. Die unter den Serben allesbestimmende Partei "Serbische Liste" verkündete bereits, diese zu boykottieren. Dann werdet ihr eben in euren serbischen Gemeinden eine nichtserbische lokale Verwaltung haben, hieß es darauf sinngemäß aus Pristina.
Völlig unerwartet gingen darauf hin zehn neue serbische Abgeordnete zum kosovarischen Parlament in Pristina um zehn zurückgetretene zu ersetzen, legten den Eid ab und gingen wieder raus. Die Begründung: Dies sei ein strategischer Zug um Kurti und die ihm "ergebenen" Serben daran zu hindern, Gesetze zu verabschieden und die Verfassung zu ändern, die die Rechte des serbischen Volkes garantieren.
Tag X, an dem die Spannungen eskalieren, so ist zu befürchten, könnte vorerst jedoch der 21. November werden, wenn Bußgelder für serbische Kennzeichen verhängt werden.
Die KFOR-Truppen unter Leitung der NATO und Polizisten der EU-Rechtsstaatlichkeitsmission EULEX werden wohl alle Hände voll zu tun haben, um den brüchigen Frieden zu erhalten. Falls nicht in letzter Minute ein Kompromiss gefunden wird, der den Konflikt bis zur nächsten Gelegenheit verschiebt.
MDR (usc)
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 08. November 2022 | 13:36 Uhr