Bulgarien: Parlamentswahl Wer hat Angst vor den Auslandsbulgaren?
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02. April 2021, 04:26 Uhr
Am Sonntag wählen die Bulgaren ein neues Parlament. Stimmberechtigt sind auch Hunderttausende Auslandsbulgaren. Doch sie können weder per Briefwahl noch online abstimmen. Soll ihnen so das Wählen ganz bewusst schwer gemacht werden?
Die 46-jährige Valentina ist unentschlossen, ob sie am 4. April wählen geht. Sie lebt seit über zehn Jahren mit ihrer Familie in Bayern. "Ich weiß nicht, ob ich am Sonntag zur Wahl gehe. Es ist ja Ostern in Deutschland. Und bis nach München in das bulgarische Konsulat brauche ich eine Stunde. Dann dort nochmal stundenlang Schlange stehen. Ich weiß nicht, ob ich mir und den Kindern das antun werde." Als einstiges Zimmermädchen arbeitete sie sich bis zur Rezeptionistin in einem kleinen Familienhotel hoch und verdient heute gut genug, um ihre Eltern in Sofia finanziell zu unterstützen.
Valentina ist kein Einzelfall. Nach Angaben des Bundesamtes für Statistik vom April 2020 leben in Deutschland mehr als 360.000 bulgarische Staatsbürger. Die Auslandsbulgaren sind ihrer Heimat stimmberechtigt, doch der Weg zur Stimmabgabe ist oft lang und mühsam, wie Valentina erzählt. Sie wünscht sich, dass man auch in Bulgarien per Briefwahl oder online wählen kann. Darauf drängen die Auslandsbulgaren seit Jahren und vermuten, dass hinter der Weigerung der Regierung in Sofia, die Briefwahl und die Online-Stimmabgabe ins Wahlgesetz aufzunehmen, Kalkül steckt. Die seit 2009 fast durchregierende Mitte-Rechts-Partei GERB von Ministerpräsident Bojko Borissow lehnt entsprechende Novellen im Wahlgesetz ab. Und Waleri Simeonow, Vizepräsident des Parlaments aus den Reihen seines nationalistischen Koalitionspartners, sagte dabei offen, was wohl viele Politiker sonst lieber verschweigen: "Wer von den Auslandsbulgaren wählen will, soll ins Flugzeug steigen und heimkehren."
Regierungskritisch: Sind die Auslandsbulgaren das Zünglein an der Waage?
Ohne es offiziell zu gestehen, fürchten die Regierenden den Machtverlust, oder zumindest eine Machtverschiebung, wenn sich die Auslandsbulgaren aktiv an den Parlamentswahlen in ihrer Heimat beteiligen. Denn sie gelten in der Regel als regierungskritisch. Als im Sommer 2020 Tausende auf die Straßen in Bulgarien bei Regierungsprotesten den sofortigen Rücktritt von Ministerpräsident Bojko Borissow forderten, waren viele Teilnehmer an den allabendlichen Demonstrationen junge Bulgaren, die im Ausland leben, aber pandemiebedingt in die Heimat zurückgekehrt waren. Zugleich organisierten Auslandsbulgaren in zahlreichen Städten in Deutschland, Großbritannien und Spanien Protestaktionen.
"Die Regierung in Sofia verhält sich wie eine Stiefmutter zu unseren Mitbürgern im Ausland. Wir wollen, dass sie sich an der politischen Debatte in Bulgarien aktiv beteiligen und von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen", erklärte diese Woche der Vorsitzende der (noch) außerparlamentarischen Koalition "Demokratisches Bulgarien", Hristo Iwanow, der die Regierungsproteste im vergangenen Sommer ins Rollen gebracht hatte. Seine Anhänger kommentieren in den sozialen Netzwerken, dass der 4. April für die Parlamentswahlen in Bulgarien nicht zufällig ausgewählt worden sei – es ist Ostersonntag in den westlichen Ländern, wo die Großzahl der Auslandsbulgaren leben. So solle ihnen der Urnengang noch weiter erschwert werden.
Streit: Sollen die Auslandsbulgaren wählen dürfen?
Angaben der Zentralen Wahlkommission in Sofia zufolge ist das Interesse an den anstehenden Parlamentswahlen unter den Auslandsbulgaren viel größer als vor vier Jahren. Rund 88.000 bulgarische Staatsbürger außerhalb des Landes haben sich bereits zur Wahl angemeldet – etwa doppelt so viele wie 2017. Erfahrungsgemäß steigt ihre Zahl am Wahlsonntag deutlich. Eine Rekordzahl von Wahllokalen im Ausland vermeldet die Zentrale Wahlkommission für den 4. April – 467 in der ganzen Welt, die meisten davon in Deutschland (69) und Spanien (53).
Wie bei jeder anstehenden Parlamentswahl in Bulgarien ist auch in diesem Jahr wieder eine Diskussion darüber entbrannt, ob die Auslandsbulgaren eine moralische Berechtigung haben, über die Politik in ihrer Heimat mitzubestimmen. An dieser Frage scheiden sich auch 2021 die Geister. Während es bei manchen heißt: Wer das Land verlassen habe, dürfe nichts zu Sagen haben, sehen das vor allem die Auslandsbulgaren selbst völlig anders: "Unsere Stimme ist wichtig, wir sind bulgarische Staatsbürger und dazu noch der größte ausländische Investor", kontert Vanya Kramer, eine Bulgarin, die in den USA lebt. In der Tat – die Geldüberweisungen der Auslandsbulgaren an ihre Familien in der Heimat belaufen sich auf rund zwei Milliarden Euro im Jahr. "Das entspricht drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts und fünf Prozent des Konsums auf dem Binnenmarkt", fasst Latschezar Bogdanow vom Sofioter Institut für Marktwirtschaft zusammen.
Exodus: Hat Bulgarien bald keine Einwohner mehr?
Bulgarien leidet seit mehr als 30 Jahren unter einer enormen Abwanderung. Seit 1989 ist die Bevölkerung des südosteuropäischen Landes um mehr als ein Viertel gesunken. Schätzungen zufolge leben rund zwei Millionen Bulgaren im Ausland. Bei einer Bevölkerungszahl von knapp unter sieben Millionen ist das viel. In keinem Land der Welt sinkt die Bevölkerungszahl schneller und stärker als im EU-Land Bulgarien. Schuld daran ist neben der Abwanderung auch die hohe Sterblichkeits-und die niedrige Geburtenrate. Die UN prognostiziert, dass in Bulgarien ab 2050 nur noch 5,2 Millionen Menschen leben werden.
Die Auswanderung der jungen Generation ist das allergrößte Problem, behauptet der Universitätsdozent Georgi Bardarow. "Es sind grundlegende Änderungen notwendig, an erster Stelle in puncto Verdienst. Gehälter von 250 bis 500 Euro können junge gut ausgebildete Leute nicht im Land halten", sagt der Sozialwissenschaftler. Als Bulgarien am 1. Januar 2007 Mitglied der Europäischen Union wurde, zogen allein in diesem Jahr mehr als 20.000 Bulgaren nach Deutschland, zeigt die Statistik des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge. Im Jahr zuvor waren es gerade einmal knapp 8.000.
Mindestlohn: Kann man von knapp 2 Euro Stundenlohn gut leben?
"Viele gut ausgebildete Fachkräfte – IT-Experten, Ärzte, Krankenschwestern – gehen nach Deutschland, Österreich oder Großbritannien, andere gehen als Erntehelfer nach Spanien oder Griechenland", sagt Bardarow. Der Hauptgrund ist natürlich der höhere Verdienst. Bulgarien wird oft "das Armenhaus Europas" genannt. Die Gehälter und die Renten sind EU-weit am niedrigsten. Der Mindestlohn beträgt knapp zwei Euro pro Stunde. Niedrig im Vergleich zum westlichen Ausland sind auch die Gehälter einiger Fachkräfte, wie etwa die der Ärzte. Deshalb verlassen viele Mediziner das Land, ein Mangel, der gerade in der Corona-Pandemie schmerzhaft spürbar wird. "Mit rund 1.000 Euro Monatsgehalt lässt es sich in Bulgarien zwar nicht schlecht leben, aber wenn ich mit dem Deutschkurs fertig bin, gehe ich nach Deutschland. Das steht fest", sagt der 32-jährige Facharzt für innere Medizin Metodi Iwanow.
Trendumkehr: Kehren die Auslandsbulgaren zurück in die Heimat?
Doch neuerdings gibt es zarte Anzeichen dafür, dass sich der Trend umkehrt. Erste Auslandsbulgaren kehren zurück. Einer von ihnen ist Dimiter Mitow. Der erfolgreiche Immobilienmakler studierte in Kanada, baute dort seine eigene Firma auf, doch in der Heimat sieht er größere Aufstiegschancen für sich. "Es gibt ein bulgarisches Sprichwort, das sagt: Lieber Erster auf dem Land, als Letzter in der Stadt", sagt Dimiter. Im Ausland gebe es viele mit einer vergleichbaren Ausbildung, wie der seinen. In Bulgarien hingegen sei sein Diplom sein Trumpf.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL FERNSEHEN | 09. Oktober 2020 | 17:45 Uhr