Rückkehr zum Fest Warum so viele Bulgaren zu Weihnachten unterwegs sind
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19. Dezember 2022, 05:00 Uhr
Bulgarien hat seit 1989 fast ein Viertel seiner Bevölkerung verloren. Viele Bulgaren arbeiten in den USA oder in anderen EU-Staaten. Jedes Jahr zu Weihnachten findet aber eine große Rückkehr statt – sehr zur Freude der Kinder, die oft das gesamte Jahr lang auf ihre Eltern verzichten müssen. In Bulgarien nennt man sie deshalb auch die Skype-Kinder.
Es war einmal ein Junge in einem kleinen Dorf, hoch in den Bergen Bulgariens. Er lebte allein mit seiner kleinen Schwester in einem Haus mit vielen leeren Zimmern. Das Haus war verwaist, nachdem seine Eltern als Erntehelfer nach England fortgegangen waren. Und so musste sich der Junge, gerade mal 15 Jahre alt, um seine neunjährige Schwester kümmern. Seitdem sind fünf Jahre vergangen, er ist inzwischen ein junger Mann und seine Schwester geht aufs Gymnasium in die benachbarte Großstadt.
Glücklich sind sie nicht, denn ihre Eltern sind nach wie vor in England und verdienen dort das Geld, das die getrennte Familie ernährt. Was sie seit fünf Jahren verbindet, ist Skype – sie schreiben sich fast täglich und sehen sich einmal in der Woche per Video. Ihre größte Freude sind die großen Feste wie Weihnachten, denn dann kommen die Eltern heim.
Jedes vierte Kind lebt von seinen Eltern getrennt
Diese Geschichte aus dem Gebirgsdorf Garmen im Südwesten Bulgariens ist die Geschichte jedes vierten bulgarischen Kindes. Alle freuen sich auf Weihnachten, aber für viele Kinder aus Bulgarien ist Weihnachten ein noch schöneres Fest, weil dann Mama und Papa nach Hause kommen. Viele Eltern arbeiten im Ausland, um der Armut daheim zu entfliehen. "Wir wissen nicht genau, wie viele Kinder in Bulgarien ohne elterliche Sorge aufwachsen und von ihren Großeltern oder Verwandten großgezogen werden", erklärte unlängst die Ombudsfrau Diana Kowatschewa – eine Art Volksanwältin in Sofia – auf einer Konferenz zum Thema. Das Problem existiere seit Jahren, die bleibenden Schäden für die Kinder würden jedoch erst jetzt erkannt, fügte sie selbstkritisch zu.
Welche Folgen die Trennung der Kinder von ihren Eltern haben kann, schildert die ehemalige Sozialministerin Denitza Satschewa: "Allein im vergangenen Jahr haben knapp 40.000 Kinder zwischen 7 und 17 Jahren die Schule ohne Abschluss verlassen. Viele von ihnen gaben an, zu ihren Eltern ins Ausland gezogen zu sein. Das lässt sich allerdings nicht verizifieren." Nadeschda Metodiewa vom bulgarischen Kinderschutzbund ergänzte, die am meisten betroffenen Kinder gehören der Roma-Minderheit an oder leben in den wirtschaftlich schwachen Regionen Bulgariens: "Das bedeutet, dass man aus dem Teufelskreis der armutsbedingten Emigration nicht herauskommt und sich das Problem in der Zukunft multiplizieren wird.“
Seit der Wende um zwei Millionen geschrumpft
Der jüngsten Volkszählung von 2021 zufolge leben in Bulgarien nur noch 6,5 Millionen Menschen. Im Wendejahr 1989 zählte die Bevölkerung des Landes noch rund 8,5 Millionen. Viele Bulgaren sind in andere EU Länder gezogen oder haben ihre Heimat Richtung USA verlassen.
Die in dieser Volkszählung erhobenen Daten zeigen auch, dass in erster Linie Menschen mit niedriger Berufsqualifikation das Land verlassen haben, meist als Saisonarbeiter, Erntehelfer oder Beschäftigte im Hotel- und Gaststättengewerbe. Unter den EU-Ländern ist Deutschland das beliebteste Zielland. Nach Angaben des Bundesamtes für Statistik war Deutschland 2019 die Wahlheimat für rund 340.000 bulgarische Staatsbürger. So viele Einwohner hat die drittgrößte Stadt in Bulgarien – die Schwarzmeerstadt Varna.
Bulgarien holt Reisefreiheit nach
Die Trend zur Abwanderung hält weiter an. Wegen der andauernden politischen Krise – Bulgarien hat seit einem halben Jahr keine gewählte Regierung und befindet sich an der Schwelle der fünften Neuwahlen innerhalb von zwei Jahren – zeichnet sich keine Lösung für die schwerwiegenden Folgen des Bevölkerungsschwunds für das Renten- und Bildungssystem ab. Dabei ist die Tendenz besorgniserregend, denn von den zwei Millionen Menschen, die Bulgarien seit 1989 verlassen haben, machen Personen unter 65 Jahren die größte Gruppe aus.
Für die Migrationsforscherin Anna Krastewa von der Neuen Bulgarischen Universität in Sofia sind die Bulgaren flexibler geworden und "haben sich für die Mobilität als Lebensform entschieden". So gebe es eine große Zahl von Studierenden, die ins Ausland gingen, um allerdings nach dem Studium in der Heimat ins Berufsleben einzusteigen. "Natürlich gibt es auch viele, die zunächst für ein oder zwei Jahre ins westliche Ausland als Gastarbeiter gehen, sich dann aber dort niederlassen. Die Reisefreiheit – über Jahrzehnte keine Selbstverständlichkeit für Bulgarien – ermöglicht ganz neue Lebensmodelle", meint Krastewa.
Auf jeden Fall zum Weihnachtsfest nach Bulgarien
Und so füllen sich Bulgariens Städte in der Vorweihnachtszeit zusehends, die fröhliche Stimmung der Familienzusammenführung überlagert die Sorgen des tristen Alltags, geprägt vom Krieg in der Ukraine, den steigenden Preisen und dem politischen Wirrwarr. Daran will der 32-jährige Volkswirt Dimiter Goranow in der knapp bemessenen Zeit mit seiner Familie nicht denken. Er ist gerade aus dem Flieger aus Berlin gestiegen und freut sich auf das Weihnachtsfest in seinem Elternhaus in Sofia. Ob er für immer in Deutschland bleibt oder den sehnlichen Wunsch seiner Mutter erfüllt, nach Bulgarien zurückzukommen? "Auf diese Frage habe ich keine Antwort. Noch nicht. Und sie stellt sich für mich derzeit nicht. Ich freue mich auf die Chance, erste Berufserfahrungen in Deutschland zu sammeln. Vielleicht wende ich das Gelernte eines Tages in Bulgarien an", sagt Dimiter.
Jahresurlaub in der Heimat machen
Der 25-jährige Busfahrer Atanas Dremow verbringt sein Weihnachtsfest "auf jeden Fall immer Zuhause in Schumen". Zwei Wochen Urlaub hat er von seiner schottischen Firma genommen, um die Feiertage mit den Eltern zu verbringen. Zurück nach Bulgarien will er jedoch auf keinen Fall: "Trotz Brexit geht es mir in Schottland besser als in Schumen. Von meinen engsten Freunden ist kaum jemand in Bulgarien geblieben".
Auf das Weihnachtsfest mit der ganzen Familie freuen sich auch der junge Mann aus dem Gebirgsdorf Garmen und seine jüngere Schwester. Beide sind sich aber sicher – wenn sie eines Tages selbst Kinder haben, werden sie sie nicht allein in Bulgarien zurücklassen. Egal, was kommt.
Dieses Thema im Programm: Heute im Osten - Die Reportage | 19. Juni 2021 | 17:59 Uhr