Rumänien Afghanische Flüchtlinge auf dem Weg in die EU
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15. September 2021, 09:55 Uhr
Weil Kroatien und Ungarn auf der Balkanroute hohe Grenzzäune errichtet haben, versuchen Geflüchtete jetzt verstärkt über Rumänien in die EU zu kommen. Die Zahl der illegalen Grenzübertritte stieg in der ersten Jahreshälfte um 200 Prozent. Wichtige Drehscheibe: die westrumänische Stadt Timisoara. Viele Schutzsuchende wollen dort einen Lkw finden, auf dem sie unerkannt nach Westeuropa gelangen können.
Ahmadis* braune Augen schauen schwermütig in die Ferne, in seiner linken Hand hält er sein zerstörtes Handy. Der 17-Jährige sitzt auf einer Wiese im westrumänischen Timisioara, im sogenannten Afghan-Park, wie Ahmadi und seine Landsleute ihren Treffpunkt an einem Einkaufspark nennen. Fast täglich gibt es hier Kontrollen von Polizei und Gendarmerie, von denen afghanische Geflüchtete immer wieder berichten, dass dabei ihre Handys zerstört oder sie angegriffen worden seien.
Den Vorfall bei der Polizei zu melden, hält Ahmadi für zwecklos. Das verhelfe ihm auch nicht zu einem neuen Handy, sagt er. Das Telefon war seine Orientierungshilfe auf der Flucht, er hat darüber Routen quer durch den Nahen Osten und jetzt in Europa abrufen können. Ohne Handy kann er auch seinen Schleuser nicht kontaktieren, der ihn nach Deutschland bringen soll.
Seit über einem Jahr auf der Flucht
Der junge Afghane hat lange vor dem Abzug der internationalen Truppen seine Heimatregion Nangarhar verlassen, andernfalls hätte er sich zu Hause der radikalislamischen Taliban anschließen oder vor ihr verstecken müssen, erzählt er. "Da habe ich lieber die Flucht nach vorn angetreten." Auch will er im Westen Europas ein wirtschaftlich besseres Leben führen. Rund 5.000 Kilometer hat er schon zurückgelegt, einen Großteil davon auf der Balkanroute von Griechenland über Bulgarien nach Serbien. In vier Monaten, so seine Hoffnung, würde er bei seinem Bruder in Deutschland sein, doch inzwischen ist Ahmadi bereits seit über einem Jahr auf der Flucht.
Besonders schwierig, sagt er, war es in Serbien, wo seit der großen Fluchtbewegung von 2015 meterhohe Zäune den Zugang zur EU nahezu unmöglich machen. Neun Mal habe er Anlauf genommen, um nach Kroatien zu kommen. Dreimal habe er versucht, über die serbisch-ungarische Grenze zu gelangen, alles ohne Erfolg. Zuletzt nahm er den Weg über das benachbarte Rumänien, das unter Schutzsuchenden lange Zeit als Sackgasse galt: Da das EU-Land nicht zum Schengenraum gehört, werden in Rumänien alle Grenzen streng kontrolliert - auch die zum EU-Nachbarn Ungarn.
Über 530 Kilometer grüne Grenze zu Serbien
Doch seit einigen Monaten verzeichnet das osteuropäische Land eine deutliche Zunahme von Geflüchteten und Migranten. So registrierte die rumänische Grenzbehörde in der ersten Jahreshälfte fast 9.000 Grenzübertritte und damit 200 Prozent mehr als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Die Mehrheit der Schutzsuchenden kommt nicht über die Ukraine oder das Schwarze Meer, sondern aus Serbien über die grüne Grenze, die sich teils an der Donau und entlang unzähliger Wälder und Felder schlängelt.
Die rumänische Presse schrieb dieser Tage, durch den Westen Rumäniens führe eine "neue Balkanroute". Eine Annahme, die die Grenzpolizei in Timisoara nicht teilen will, auch wenn es an ihrem rund 530 Kilometer langen Abschnitt zu Serbien in diesem Jahr die meisten Grenzübertritte gab. "Ganz gleich, ob das hier nun als neue Balkanroute bezeichnet wird oder nicht", sagt der Sprecher der Grenzpolizei Timisoara, Petre Nicola, "wir sind auf jedes Szenario gut vorbereitet."
Schwieriges Terrain zu überwachen
Sein Kollege Cosmin-Florian Balaci steht gerade mit einem grün getarnten Transporter auf einem Hügel, um einen besseren Blick über die Felder und die Grenze zu Serbien zu haben. Die auf dem Fahrzeugdach installierte Wärmebildkamera scannt das Gelände in einem Umkreis von vier Kilometern. Balacis Augen suchen den Bildschirm mit den flimmernden Wärmepunkten ab, die sich in Größe, Form und Wärmegrad unterscheiden: "Mit den Jahren habe ich gelernt zu erkennen, ob hier ein Mensch oder ein Tier durch das Feld läuft", sagt der Grenzpolizist.
Rund um die Uhr wird die gesamte Grenzlinie mit Wärmebildkameras und Patrouillen überwacht. Schwer vorstellbar, dass jemand den grünen Streifen überhaupt passieren kann, geschweige denn Tausende Schutzsuchende wie in diesem Jahr. Doch Verstecke gibt es vielerorts in dicht gewachsenen Sonnenblumenfeldern oder stillgelegten Bewässerungskanälen – manchmal ist es auch einfach nur der Nebel, der die Sicht an der grünen Grenze erheblich einschränkt. Mehr Details wollen die Grenzer nicht nennen, um Schleusern kein Insiderwissen zu liefern. Dass seit diesem Jahr verstärkt Afghanen versuchen, über die Grenze zu gelangen, beobachtet auch der Grenzbeamte Balaci: "Bei dem globalen Wahnsinn stehen sie immer mehr unter Druck nach Europa zu gelangen." An seiner Arbeit, illegale Grenzübertritte zu verhindern, ändere das aber nichts, sagt er.
Schleuser koordinieren aus Afghanistan
Ahmadi ist die Flucht über die rumänische Grenze erst im dritten Anlauf geglückt. Ein Schleuser hat ihn über die Grenzlinie gebracht, für 800 Euro. Seine Kosten für den gesamten Fluchtweg belaufen sich bislang auf fast 2.500 Euro, die an afghanische Hintermänner fließen, die auf der Balkanroute über ein weit verzweigtes Netzwerk verfügen. An jeder Grenze halten sie die Hände auf, gezahlt wird, wenn der Grenzübertritt gelingt. Darüber, wer die Zubringer sind, will Ahmadi nicht nachdenken. Seine Gedanken kreisen vielmehr darum, wie er nach Deutschland gelangen kann, wieder mit einem Schleuser, diesmal für weitere rund 1.500 Euro.
Der junge Afghane zupft eine Plastikplane zurecht, unter der er nachts in einem Park in Timisoara geschlafen hat. Eigentlich könnte der Minderjährige als Asylbewerber kostenlos in einer staatlichen Unterkunft übernachten, doch er will zu jedem Zeitpunkt mit Sack und Pack zur Grenze aufbrechen können. Die Stadt Timisoara, die nahe der Grenze zu Serbien und Ungarn liegt, ist für viele Afghanen zu einer wichtigen Drehscheibe geworden, um nach Westeuropa zu kommen. Viele übernachten in Parkanlagen oder Häuserruinen, weil sie Rumänien möglichst schnell wieder verlassen wollen.
Warten auf Flucht-Lkw
Ihre Fluchtpläne ähneln sich: Auf Parkplätzen in der Umgebung der Stadt verstecken sie sich in Lastkraftwagen und hoffen so, unerkannt über die Grenze nach Ungarn zu gelangen. Ein Schleuser sucht den Lkw aus und öffnet den Laderaum für sie. "Unsere Chance ist, dass die Polizei nicht jeden Truck kontrolliert", sagt Ahmadi. Doch auch an dieser Grenze ist er schon mehrfach gescheitert, vier Mal wurde er nach Rumänien zurückgeschickt. "Spiel" nennen die jungen Afghanen in Timisoara ihre Versuche, über die Grenze zu gelangen, weil eine Menge Glück dazu gehört, nicht von der Polizei erwischt zu werden.
Hilfsverein sorgt für Essen und Medizin
Doch ohne eigenes Telefon sitzt Ahmadi vorerst fest. Hilfe sucht er bei "Casa Logs", einer Organisation von Sozialarbeitern und freiwilligen Helfern in Timisoara. Sie versorgen die Flüchtlinge in Timisoara mit Essen und medizinischer Hilfe. Manch einer kommt, weil er Trost braucht oder in der Sackgasse steckt, wie jetzt Ahmadi. Sozialarbeiter Flavius Loga hat den Verein im vorigen November ins Leben gerufen, als monatlich fast tausend Afghanen in die Stadt kamen, um einen Flucht-Lkw nach Westeuropa zu finden. "Uns geht es um humanitäre Hilfe, ganz gleich, ob die Schutzsuchenden Asyl in Rumänien wollen oder weiterziehen", sagt Loga.
Dass ein Großteil der Geflüchteten nur auf der Durchreise ist, verwundert den Sozialarbeiter nicht. Sein Land erlebt selbst seit drei Jahrzehnten einen riesigen Aderlass: "Wir haben fast fünf Millionen Rumänen, die ihr Heimatland verlassen haben, weil sie dachten, dass es in Deutschland und Westeuropa besser ist. Ich glaube nicht, dass wir die Flüchtlinge verurteilen können, die weiterwollen", sagt Loga.
Freunde wollen nachkommen
Ahmadi ist unentschlossen. Soll er weiter versuchen, die Grenze nach Ungarn zu passieren oder einen Asylantrag in Rumänien stellen? Angesichts der Rückkehr der Taliban in Afghanistan hätte der 17-Jährige gute Chancen, einen internationalen Schutzstatus zu erhalten, auch wenn Rumänien in der Vergangenheit die große Mehrheit der Asylanträge abgelehnt hat. Vor Tagen riefen ihn Freunde aus dem afghanischen Nangahar an, um zu erfahren, wie er es geschafft hat, in die EU zu kommen. Sie wollten die Telefonnummer seines Schleusers haben.
(*Name auf Wunsch geändert.)
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 11. September 2021 | 07:18 Uhr