Ukrainekrieg Russland: Waren aus dem Westen trotz Sanktionen
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06. Juli 2022, 13:29 Uhr
Eigentlich sollten Adidas-Schuhe und Klamotten von Tom Taylor und Lagerfeld längst aus russischen Shoppingcentern verschwunden sein. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Zumindest in den großen Städten kann, wer noch genug Geld in der Tasche hat, einkaufen wie eh und je. Wie ist das möglich?
Auf dem Papier ist es ein beispielsloser Exodus, den Russland gut vier Monate nach dem Angriff auf die Ukraine erlebt: Beinahe täglich meldet ein westliches Unternehmen seinen Rückzug. Zuletzt etwa der finnische Reifenhersteller Nokian sowie der Getränkehersteller Coca Cola. Auch zahlreiche deutsche Traditionsunternehmen, wie zum Beispiel Dr. Oetker, Siemens, Bosch und Henkel, haben den Ausstieg aus dem Russland-Geschäft angekündigt.
Keine westliche Ware mehr in russischen Ladenregalen? Ein Trugschluss, wie der Gang in ein russisches Einkaufszentrum oder einen Supermarkt zeigt: In St. Petersburgs beliebtestem Shoppingtempel Galereja sind die Rollläden bei großen Ketten wie H&M oder Zara zwar weiterhin unten. Und auch an dem Adidas-Laden prangt ein Zettel mit dem Hinweis auf eine "vorübergehende Schließung". Doch andere Marken wie Tom Tailor, Karl Lagerfeld, Guess oder Tamaris arbeiten munter weiter. Ähnlich ist das Bild in den Supermärkten. Das Sortiment westlicher Marken ist weiterhin üppig. Joghurt von Ehrmann, Persil-Waschmittel und Schokolade von Ritter-Sport finden sich derzeit zumindest in den großen Städten in fast jedem Supermarkt.
Sorge um Mitarbeiter und Investitionen
Angesichts der Flut von Rückzugsmeldungen ist das auf den ersten Blick überraschend. Gleichwohl bekommen Unternehmen, die in Russland weiter Geschäfte machen, deutlich weniger Aufmerksamkeit. Seit Beginn des Krieges in der Ukraine führt die amerikanische Yale-Universität ein Verzeichnis internationaler Unternehmen, die in Russland tätig sind, und sammelt Angaben über ihren aktuellen Status. So zählt die Yale School of Management mehr als 1.000 Unternehmen, die Russland verlassen haben. Fast 250 bekannte Firmen sind Russland treu geblieben oder erhalten zumindest einen Teil ihrer Aktivitäten. Mehr als 40 davon sind aus Deutschland, wobei die Liste längst nicht vollständig ist.
Eines der Unternehmen, das auf sein Standbein in Russland nicht verzichten will, ist der deutsche Snack-Hersteller Lorenz. In einem Werk bei St. Petersburg, in der Kleinstadt Kirischi, produziert das Unternehmen Chips und Salzstangen für den russischen Markt. Man handele aus Verantwortung für die gut 300 Mitarbeiter in Kirischi, heißt es aus dem Unternehmen. Das sind zehn Prozent der Mitarbeiter, die Lorenz insgesamt an all seinen Standorten beschäftigt. Branchenexperten sagen, dass ein Rückzug Lorenz derzeit schmerzen würde, weil das Werk erst vor wenigen Jahren aufgemacht wurde und das Unternehmen in Russland bislang vor allem investiert, aber noch keine Gewinne gemacht hat. Russische Medien berichteten, dass das Werk in Russland rund 20 Millionen Euro gekostet hat. Mit einem Rückzug wäre die Investition verloren.
Baumarkt OBI: Rückzug auf Raten
Kompliziert ist die Situation bei der Baumarkt-Kette OBI. Noch im Frühjahr hat das Unternehmen öffentlich mitgeteilt, dass es seine Aktivitäten in Russland einstellen wird. Doch in der Realität wurde der Rückzug bislang nicht umgesetzt. Zwischenzeitlich hatte OBI seine Baumärkte geschlossen, doch das russische Management hatte offenbar andere Pläne. Berichten russischer Medien zufolge haben die Mitarbeiter vor Ort die Betriebssoftware und somit auch die Kassen des Unternehmens wieder freigeschaltet und gegenüber Journalisten erklärt, die Läden gegen Widerstand der Eigentümer wieder aufzumachen. Der Tengelmann-Konzern, dem die Baumärkte in Russland gehören, reagierte und fand einen treuhändischen Verwalter, der den späteren Verkauf der Kette abwickeln wird. Auch der Markenname soll geändert werden, heißt es bei Tengelmann.
Doch solange laufen die OBI-Baumärkte in Russland weiter wie bisher. Auch von einem Käufer ist bisher noch keine Spur. Der Großteil des Sortiments kommt ohnehin von asiatischen Zulieferern oder aus Russland selbst, weshalb die EU-Sanktionen das OBI-Geschäft bislang weniger hart getroffen haben, als andere Unternehmen, die direkt von europäischen Lieferungen abhängen.
Lokale Manager übernehmen
Eine Möglichkeit für internationale Unternehmen, ihre Aktivität in Russland zumindest vorerst aufrecht zu erhalten, ist der Verkauf an das eigene Management in Russland oder an andere internationale Partner. Ein Beispiel ist etwa der deutsche Schuhhändler Deichmann, der 37 Filialen in Russland betreibt. Vor einigen Wochen hatte Deichmann seinen Rückzug aus Russland verkündet. Doch die Russland-Tochter wurde laut einer Unternehmensmitteilung "in gute Hände" gegeben.
Laut dem russischen Handelsregister hat die russische Deichmann-Tochter nun einen neuen Namen und heißt NAM GmbH. Geleitet wird sie vom ehemaligen Deichmann-Manager Vitaly Kromm, der früher auch in Deutschland für das Unternehmen gearbeitet hat. Offiziell heißt es bei Deichmann, dass der Markenname später ebenfalls verändert werden soll. Doch bis jetzt fungieren die Läden weiter als Deichmann-Filialen mit unverändertem Sortiment, da zumindest der Warenbestand auch an das neue Unternehmen übertragen wurde. So werden in den russischen Filialen auch weiterhin Adidas-Schuhe verkauft, obwohl die eigenen Markenläden des Sport-Ausstatters in Russland geschlossen sind.
Namensänderungen und undurchsichtige Verkäufe
Andere Unternehmen wie das polnische Modehaus LPP, das Läden unter den Marken Reserved und Cropp auch in Deutschland betreibt, haben ebenfalls einen Weg gefunden, um ihre Geschäfte in Russland aufrecht erhalten zu können. Anfang Mai gab LPP bekannt, dass die russischen Filialen an ein nicht näher benanntes chinesisches Konsortium verkauft wurden. Nach einer kurzen Pause öffneten die Läden wieder – unter neuem Namen. Aus Reserved wurde nun Re und aus Cropp CR, das Sortiment jedoch blieb ebenfalls bislang unverändert.
Vor allem bei Konsum-Gütern dürfte die Anpassung an die Sanktionen keine große Schwierigkeit sein, meint etwa Dmitri Polevoj, Ökonom des Finanzinstituts Loko-Invest. Ein Großteil der Waren kommt hier aus China und anderen asiatischen Ländern. Die Exporte aus China sind bislang längst nicht so stark eingebrochen wie der Handel mit Europa. "Viele europäische Unternehmen haben Russland im Prinzip von ihren Werken in Asien oder China beliefert", so Polevoj . Diese Lieferungen könnten im Vergleich zu EU Exporten deutlich schneller wiederaufgenommen werden.
Dieses Thema im Programm: MDR Aktuell Fernsehen | 03. Juli 2022 | 21:45 Uhr