Persönlicher Bericht Meine Reise nach Israel: Zwei Seiten der Hölle
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17. November 2023, 13:57 Uhr
Unser Ostblogger aus Belgrad Andrej Ivanji nahm Anfang November an einer Pressereise durch Israel teil. Er hatte auch persönliche Motive: Ein Teil seiner jüdischen Familie lebt dort. In Israel traf Andrej Ivanji seine Cousine, die in den 1990er-Jahren vor den Jugoslawien-Kriegen nach Israel flüchtete und nun mit ihrer Familie vom Krieg gegen die Hamas betroffen ist. Und er verstand, dass in der Wahrnehmung vieler Israelis nichts Geringeres als die Existenz des jüdischen Staates auf dem Spiel steht.
"Der Dritte Weltkrieg musste ausbrechen, damit du uns besuchen kommst", sagt mir meine Cousine vorwurfsvoll, als ich ihr über WhatsApp Bescheid gebe, dass ich nach Israel komme. Und sie hat Recht. So oft wollte ich schon das Heilige Land besuchen, und immer kam etwas dazwischen. Die Verdammnis des Krieges hat eine Sogwirkung auf mich, in mir ist zwei Jahrzehnte nach den Jugoslawien-Kriegen der Kriegsreporter wieder erwacht.
Ela ist in den 1990er-Jahren mit ihrer Familie aus Belgrad nach Israel gezogen. Weg vom jugoslawischen Bürgerkrieg wollten sie. Dank ihrer jüdischen Herkunft nahm der jüdische Staat sie ohne Weiteres auf. Wegen meines jüdischen Vaters, der Auschwitz und Buchenwald überlebte, wären die Türen Israels auch für mich offen gewesen. Ich zog damals aber lieber nach Österreich.
Nun ist Ela mitten im Krieg, den Israel gegen die Hamas führt. Ihre Kinder sind in Israel geboren, beide sind im wehrpflichtigen Alter. Ihre Tochter ist jedoch gerade schwanger, der Sohn geschäftlich in den USA. Ela sagt es nicht laut, doch sie ist deshalb erleichtert.
Aber das könnte sich bald ändern: Wie jeder Israeli, den ich während meines Aufenthalts getroffen habe, ist ihr Junge Feuer und Flamme, in den Krieg gegen die Hamas-Terroristen zu ziehen. In einem Monat wird er seine geschäftlichen Verpflichtungen erledigt haben und will mit dem ersten Flug, den er bekommen kann, aus den USA heimkehren.
Über "meine" Israelis verspüre ich eine gewisse Identifizierung mit dem Unfassbaren, das das Land am 7. Oktober, dem "schwarzen Sabbat", heimgesucht hatte. Elas Tochter hätte beim Musikfestival in der Negev-Wüste unweit vom Gazastreifen dabei sein können, bei dem die Terroristen der Hamas rund 260 Menschen getötet und mehr als 200 entführt haben. Sie ist eine lustige, aufgeschlossene junge Frau, gerade der Typ für so ein Festival.
Der Kriegszustand
Meine Töchter machen ein ziemliches Theater, als ich ihnen sage, dass ich als Journalist nach Israel reisen werde. Seit dem 7. Oktober hocke ich in Belgrad vor dem Fernseher, schaue mir parallel CNN, BBC und Al Jazeera an. Die Bilder aus beiden Teilen der Kriegshölle sind grauenhaft: die Gräueltaten der Hamas-Kämpfer, die zivilen Opfer, vor allem die toten und verwundeten Kinder, die Aufnahmen der apokalyptischen humanitären Katastrophe aus dem Gazastreifen.
Ich fahre von Belgrad nach Budapest und fliege dann mit El Al nach Tel Aviv. Es ist schwer, überhaupt einen Flug zu finden, die meisten Fluggesellschaften fliegen nicht mehr nach Israel.
Dort angekommen, merkt man gleich am Flughafen Ben Gurion, dass man in einem Land gelandet ist, das sich im Kriegszustand befindet. Bewaffnete Soldaten, bewaffnete Zivilisten stehen überall. Man kommt leicht ins Gespräch, die Israelis sind ein sehr aufgeschlossenes Volk. Ein Mädchen, das beauftragt wurde, sich um Journalisten zu kümmern, sagt mir: "Nun werden alle uns Juden noch mehr hassen. Aber was soll's, wir müssen unser Land verteidigen."
Diesen Satz habe ich in Israel auch später wieder gehört, Ela hatte es in unserem Telefongespräch auch so ähnlich formuliert. Mit diesem Satz antworten die Menschen auf jede Anspielung auf das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung in Gaza und ihre vielen Todesopfer.
Man bekommt schnell das Gefühl, dass sich jeder Israeli auf dem Kriegspfad befindet. Es ist sicher kein Krieg gegen die Palästinenser, sondern vielmehr ein Krieg gegen die Hamas: In ihrer Wahrnehmung kämpfen die Israelis für nichts Geringeres als die nackte Existenz des jüdischen Staates.
Die Kriegswirklichkeit
Zur "Begrüßung" gibt es gleich am ersten Abend in Tel Aviv Fliegeralarm. Statt mich ins Treppenhaus zu begeben, eine Anordnung des Hotelpersonals, gehe ich zum Fenster. Ich bin im siebten Stock, direkt an der Strandpromenade im Stadtzentrum. Der Blick ist wunderschön. Zuerst ein greller Lichtball, dann eine dumpfe Explosion. Diese Explosion will man hören, wenn man in Israel ist. Es heißt, dass das Luftabwehrsystem Iron Dome eine Rakete der Hamas abgefangen und zerstört hat.
Dieses Leitmotiv aus Licht und Geräuschen verfolgt mich die ganze Zeit über in Israel. Historisch vollkommen unvergleichbar, doch persönlich ein Déjà-vu für mich: Es erinnert mich an die Luftangriffe der Nato auf Belgrad 1999.
Ich rufe Ela an, sage ihr, dass ich zuerst zur sogenannten "Kriegszone Süd", der evakuierten Region am Gazastreifen, fahren werde. "Sag wenn du Zeit hast und ich hole dich ab", sagt sie. Sie lebt mit ihrer Familie in der Küstenstadt Netanya rund 30 Kilometer nördlich von Tel Aviv.
Ich frage sie, wie es ihr geht. "Jeden Morgen, wenn ich die Augen aufmache, mache ich sie gleich wieder zu", antwortet sie. Sie will diese Realität nicht haben, in der sie jeden Tag aufwacht, diesen Krieg. Das alles mache sie krank, die Nachrichten nervös, auf allen Kanälen nur Horror, der jetzt ihre Wirklichkeit geworden sei.
Ihre Tochter sei, wie ich ja wisse, schwanger, ihre Enkeltochter eineinhalb Jahre alt, und sie frage sich andauernd, ob sie hier in Israel jemals in Frieden werden leben können. Die meisten Freunde ihrer Kinder seien mobilisiert, viele von ihnen sind an der Front im Gazastreifen, niemand habe diesen Krieg gewollt … "Wir sehen uns bald", unterbreche ich sie.
Ein Tatort des Hamas-Terrors
Ich besuche einige Kibbuzim, die Tatorte des tödlichen Angriffszuges der Hamas am 7. Oktober, die Geisterstadt Sderot. Der Kibbuz Kissufim ist nur zwei Kilometer von der Grenze mit dem Gazastreifen entfernt. Man sieht überall die Spuren des gewaltsamen Todes, der Wachmann des Kibbuz erzählt davon, was die Hamas bei ihrem Überfall angerichtet hat: Elf Menschen wurden ermordet. Eine Familie verbrannte in ihrem Haus, in ein anderes drangen die palästinensischen Terroristen ein und töteten alle, eine ältere Frau wurde aus ihrem Versteck gezerrt und mit einem Genickschuss ermordet.
Die israelische Artillerie donnert die ganze Zeit über irgendwo in der Nähe, als ob sie sagen will: Nie wieder!
Ich gehe raus aus dem Kibbuz, zu einem breiten Feld, an dessen Ende sich eine Baumreihe befindet. Kurz dahinter beginnt der Gazastreifen, wo die Geschosse der israelischen Kanonen einschlagen. Dort, fast in Sichtweite, hört die eine Hölle auf und beginnt die andere – die palästinensische. Ein Soldat schreit mir nach, ich solle gefälligst zurückkehren.
Auf dem Weg zurück nach Tel Aviv rufe ich Ela an. Um nach Netanya zu kommen, habe ich leider keine Zeit, aber wir wollen uns am Abend in der Nähe meines Hotels treffen.
Die Frage der "Proportion"
Die sonst mehr als belebte Strandpromenade von Tel Aviv, die zur Altstadt von Jaffa führt, ist völlig leer. Die meisten Lokale sind geschlossen. Und die meisten Israelis, die in den geöffneten Cafés und Restaurants sitzen, kümmern sich nicht darum, wenn Sirenen aufheulen. Sie bleiben bei ihren Drinks sitzen, haben Vertrauen in Iron Dome und außerdem gewöhnt man sich schnell an den Krieg.
Ela und ich sind die einzigen Gäste in einer Pizzeria direkt am Strand. Es ist immer noch heiß. Ich berichte, wie die Stimmen im Westen immer lauter werden, dass Israel einen Vergeltungskrieg führe, dass schon Abertausende unschuldige palästinensische Zivilisten getötet worden, die Militäraktionen unverhältnismäßig, unproportional seien.
"Was heißt hier 'proportional', oder 'unproportional'?", fragt Ela. Wie könne man denn über "Proportionen" reden, wenn die israelischen Streitkräfte so gut es ginge versuchten, die palästinensische Zivilbevölkerung zu schonen, und die Hamas auf der anderen Seite bewusst Menschen als lebendige Schutzschilde benutze.
Ob Minister, Geschäftsleute, Soldaten, evakuierte Kibbuz-Bewohner, Kellner, Verkäufer oder der ehemalige Mossad-Chef Dani Yatom: Alle mit denen ich in Israel spreche, beteuern, Israel tue alles, was in seiner Macht stehe, um zivile Opfer zu vermeiden. Es werde jedoch nicht Halt machen, bis die Hamas vernichtet sei. Der Wille, die Hamas auszulöschen, klingt wie ein heiliger Schwur, geschrieben mit dem Blut der 1.400 am 7. Oktober ermordeten Israelis.
Ich bin der, der nicht mehr ist
Im Pressezentrum in einem Bunker in der Stadt Sderot – sie liegt nur einen Kilometer von der Grenze zum Gazastreifen entfernt – zeigt man uns angereisten Journalisten Videoclips, die die Hamas-Mörder von sich und ihren Opfern aufgenommen hatten. Bilder, die wegen ihrer psychopatischen, bestialischen Brutalität kein westlicher TV-Sender zeigen könnte. "Versteht ihr jetzt, warum wir kämpfen müssen?", fragt der stellvertretende Kriegspressesprecher des Außenministeriums, der eigentlich israelischer Botschafter in der Republik Moldau ist.
Ja, ich habe verstanden, denke ich: Dieses Land, das sowohl für Juden als auch für Christen und Muslime heilig sein sollte, ist verdammt, obwohl sie alle ein und denselben Gott verehren, dessen erster Name Jahwe – Ich bin der, der ich bin – lautet. Hier, in diesem Land, zu dem sowohl Juden als auch Palästinenser verurteilt sind, hat er wohl aufgehört zu sein.
Trauer und Angst
Ela ist Soziologin von Beruf. Sonst sehr redegewandt, hat sie jetzt Probleme, ihre Gefühle in Worte zu fassen. Sie spricht von Trauer und Angst, davon, dass sie sich manchmal völlig gelähmt fühle. "Wie kann jemand Kinder, wie kann jemand Babys entführen?", fragt sie. Die Hamas, diese Terrororganisation, herrsche seit 16 Jahren im Gazastreifen. Und die ganze Zeit verübte sie Angriffe auf Israelis, dort feiere man frohlockend das Massaker an israelischen Zivilisten. Damit müsse Schluss sein.
Ela hat, wie alle Israelis, mit denen ich spreche, in ihrem Leid und Kummer einfach keine Kapazität für Kritik an der israelischen Militäraktion, an der "Verteidigungsaktion", die viele Palästinenser als "Rachefeldzug" bezeichnen. Ela hat keine Kapazität für deren Leid.
Ein neuer Mythos
Wenn Kinder massakriert und entführt werden, verändere das die Wirklichkeit, erklärt sie mir. Weltweit lebten 16 Millionen Juden und natürlich hätten sie keine Chance im Propagandakrieg mit einer Milliarde Muslime. Aber sie müssten - und sie würden - für die Existenz des Staates Israel kämpfen.
Ich verstehe die Israelis. Auch wegen meiner in der Schoah vernichteten Familie. Ich verstehe das kollektive Trauma, das dieser "eine Tag des Holocaust", wie manche den 7. Oktober nennen, ausgelöst hat. Ich verstehe, dass der Mythos der israelischen Unbesiegbarkeit zerstört wurde, auf den sich der jüdische Staat in feindseliger Umgebung stützt. Und ich verstehe, dass ein neuer Mythos für die verwundeten Israelis eine Existenzfrage ist: Jeder, der es wagt, Israel anzugreifen, wird brutal und kompromisslos dem Erdboden gleichgemacht. Ich verstehe es, auch wenn ich es nicht billige.
Ich umarme Ela und sage ihr, sie solle auf ihre Kinder und Enkelkinder aufpassen. Etwas Klügeres fällt mir nicht ein.
MDR (usc)
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR Aktuell | 10. November 2023 | 19:30 Uhr