Polen Warschau: Kostenloses Wasser für alle!
Hauptinhalt
03. August 2020, 15:22 Uhr
Trinkwasser wird auch in vielen polnischen Städten immer teurer. Gut, wenn man dann einen Plan B hat, so wie die Einwohner von Warschau. Sie können sich ihr Wasser aus einem der vielen Stadtbrunnen zapfen. Gratis.
Ein Taxifahrer hält kurz am Bordstein, springt aus dem Auto und füllt seine leere Wasserflasche auf. Ein schwitzender Radfahrer stellt sein Rad ab und trinkt große Schlucke aus seinen Handflächen. Täglich pilgern Tausende Warschauerinnen und Warschauer zu einem der 73 öffentlichen Trinkbrunnen der Stadt. Die gehören zum Stadtbild wie der Kulturpalast und die riesige Kunststoffpalme in der Innenstadt. An den hübschen Häuschen mit oft Dutzenden Wasserhähnen zapfen sich die Leute Trinkwasser, oft gleich für mehrere Tage. Sie schwören auf den Geschmack und die Zusammensetzung des Wassers, das erst durch mehrere Sandschichten sickern muss, bevor es aus Hunderten Metern Tiefe an die Oberfläche gedrückt wird.
Einst holte sich die halbe Stadt ihr Wasser aus den Brunnen
Obwohl auch junge Leute an den Brunnen halt machen, sind die meisten Besucher ältere Menschen. Sie erinnern sich noch an eine Zeit, in der das Warschauer Leitungswasser ungenießbar war. In den 1990er-Jahren schrieb der Reiseführer Lonely Planet über Warschau noch: Das Wasser in der Hauptstadt sei so schlecht, dass die Hälfte der Warschauer sich ihr Wasser aus Brunnen hole. Leute mit Flaschen, Kanistern und Eimern auf dem Weg zu einem der Brunnen gehörten zum typischen Bild des Warschauer Stadtlebens.
Auch in anderen Städten Polens gibt es Trinkbrunnen, aber nirgends sind sie so beliebt wie in Warschau. Laut dem Staatlichen Institut für Geologie entstand der erste Warschauer Brunnen im Jahr 1897. Er diente als Quelle für eine Alkoholfabrik. Die damaligen Geschäftsleute seien begeistert gewesen vom guten Geschmack des Wassers aus dem artesischen Brunnen, aus dem das Wasser aus eigener Kraft aus den Tiefen sprudelt – und hätten sogleich weitere Brunnen geplant.
Mehr als 73 öffentliche Brunnen
Mittlerweile gibt es in Warschau mehr als hundert dieser Brunnen. Nicht alle werden von artesischen Quellen gespeist und 73 sind öffentlich zugänglich und nutzbar. Viele Brunnen wurden in den 1990ern gebaut. Die meisten gleichen kleinen Häuschen und fügen sich gut in die Architektur ihrer Umgebung ein: Der eine hat Säulen und ein Vordach, der andere besteht aus Backsteinen, ein weiterer besteht aus glattem, sandfarbenen Marmor und schmiegt sich an einen kleinen Springbrunnen.
Umgerechnet 125.000 Euro nur für einen Stadtteil
Für die Bürger ist das Wasser kostenlos, auch deshalb sind die Brunnen so attraktiv. Ganz billig ist dieser Service für Warschau nicht. Die Zeitung Gazeta Wyborcza rechnete aus, dass allein der Betrieb und Erhalt der zwölf Brunnen des zentralen Stadtteils Środmieście jährlich so viel kosten wie 300.000 Liter Mineralwasser (etwa 125.000 Euro). Wegen der Pandemie bleiben einige der Brunnen bis Mitte August geschlossen. Ihre Hähne sind abmontiert, bei Brunnen mit Innenbereich bleiben die Türen verschlossen. Doch an den offenen Brunnen geht es wieder umso geschäftiger zu.
"Wenn ich meinen Katzen und Pflanzen Wasser gebe, dann nur das hier", sagt Frau Irina und deutet auf den Hahn am Brunnen. Die Rentnerin ist sich sicher, dass das Brunnenwasser das Leben ihrer Katzen verlängert. "Eine von ihnen wird bald 18 und ich scherze, dass sie dann wählen gehen kann", sagt sie. Dann wird sie wieder ernst: "Das Leitungswasser wird zwar von Feststoffen und Bakterien gereinigt, aber ganz sicher säubern sie es nicht von den Arzneimitteln, die durch unser Abwasser in die Weichsel fließen."
Vor dem Trinken besser abkochen
Etwa 70 Prozent des Warschauer Leitungswassers kommen tatsächlich aus der Weichsel, die mitten durch Warschau fließt. Der Rest wird von der Oberfläche eines Sees im Norden der Stadt abgeschöpft. Bevor das Wasser die Häuser der Warschauer erreicht, wird es mehrmals gefiltert und desinfiziert. "Moderne Technologien und Tests garantieren, dass das Warschauer Leitungswasser sauber und trinkbar ist", versichert Karolina Gałecka, Sprecherin der Stadt Warschau. Sie warnt dagegen beim Brunnenwasser zur Vorsicht.
"Wir empfehlen, das Wasser aus den Brunnen vor dem Trinken abzukochen", sagt Gałecka. Das Brunnenwasser sickert durch fein- und mittelkörnige Sandschichten und wird dann aus einer Tiefe von 170 bis 240 Metern gefördert. Es wird nicht weiter behandelt und ist frei von chemischen Verunreinigungen. Während das Leitungswasser oft nach Chlor riecht, schmeckt das Brunnenwasser neutral. Allerdings können sich Bakterien darin schnell vermehren, etwa wenn die Behälter nicht sauber sind.
Leitungswasser ist für Brunnennutzer keine Alternative
Frau Irina fürchtet sich nicht vor den Bakterien. "Man muss das Wasser nur innerhalb von zwölf Stunden aufbrauchen, dann hat man kein Problem", sagt sie. "Ich komme deshalb jeden Tag hierher. Und steht mein Wasser mal länger als zwölf Stunden, dann koche ich es ab." Andere gehen noch lockerer mit dem Wasser um: Der 36-jährige Philipp lädt fünf volle Kanister in sein Auto. Auch er glaubt, dass das Wasser gesünder sei, abgekocht oder nicht. "Als die Brunnen wegen Corona geschlossen waren, musste ich mein Trinkwasser im Laden kaufen", sagt er. Leitungswasser sei für ihn keine Alternative. Das Brunnenwasser wird übrigens nicht nur gerne getrunken, man wässert auch Rasenflächen damit.
95 Millionen Liter Brunnenwasser in einem Jahr
Die Trinkbrunnen sind für viele Warschauer fester Bestandteil ihrer Wasserversorgung, denn die Nachfrage ist nach Angaben der Stadtverwaltung über die Jahre unverändert hoch. 2019 holten sich die Einwohner der polnischen Hauptstadt aus den 73 öffentlichen Brunnen knapp 95 Millionen Liter Wasser. Damit könnte man 38 olympische Schwimmbecken füllen!
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 30. Juli 2020 | 14:30 Uhr