Meinungsfreiheit Serbien: Meinungsfreiheit in Belgrad unerwünscht
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02. November 2020, 10:53 Uhr
In Belgrad ist eine alternative Comic-Ausstellung mit der Begründung demoliert worden, sie würde den moralischen Werten der serbisch-orthodoxen Gesellschaft nicht entsprechen. Schlimmer noch als der Angriff der Hooligans war die Reaktion des Kulturministeriums, das die Gewalt zwar verurteilte, doch Verständnis für die Revolte der Gewalttäter wegen der "anstößigen" und "unmoralischen" Exponaten äußerte.
Die Ausstellung hatte eigentlich ausschließlich Fans von alternativen Comics ansprechen sollen. Eine kleine Ausstellung für ein durchaus überschaubares Publikum. Doch es kam ganz anders.
Die Retrospektive der Zeichnungen der Comiczeichner "Momci" (Jungs) aus den 1990er-Jahren verwandelte sich in einen öffentlichen Schlagabtausch zwischen dem serbischen Kulturministerium und den Künstlern. Die einen sprachen von "abartiger", "degenerierter" Kunst, die "niemals hätte ausgestellt werden sollen", die anderen vom "nazistischen Vokabular" der Behörden nach dem Vorbild von Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels.
Die Drohungen
Alles begann am 8. Oktober, als die Ausstellung unter dem Titel "Sie hatten um sich diesen gewissen Schein" in der Galerie Stara Kapetanija im Belgrader Vorort Zemun eröffnet wurde. Die Exponate sollten an die brutalen, von Kriegen, Massenmorden, Massenvertreibungen, radikalem Nationalismus und staatlicher Zensur gekennzeichneten 1990er-Jahre in Serbien erinnern.
Die damals jungen Künstler Goran Rajšić, Dalibor Novak, Nikola Vitković, Andrej Vojković und Marko Somoborac, waren, wie sie selbst sagen, von Kriegen, dem Wirtschaftsembargo des Westens gegen Serbien und dem "allgemeinen Wahnsinn" geprägt. Inspiriert wurden sie von Horror-Filmen, der britischen Komikergruppe Monty Python, französischen und belgischen Comics, Heavy Metal und schwarzem Humor. In ihren Comics wollten sie damals alles bis ins Extreme treiben.
Bald kamen die ersten Drohungen über soziale Netzwerke. Die Ausstellung wurde als "satanistisch, antiorthodox, antiserbsch" beschimpft. Alles deutete darauf hin, dass rechts-extremistische Gruppen die Ausstellungen stürmen würden. Die "Jungs" meldeten alles der Polizei und baten um Schutz. Doch den bekamen sie nicht.
Der Angriff
Am 13. Oktober stürmten tatsächlich etwa fünfzehn vermummte Männer die Ausstellungen. Sie warfen Tränengas in den Ausstellungsraum und demolierten alle Exponate. Niemand wurde verletzt. Einige Täter wurden später gefasst, unter ihnen waren auch Minderjährige.
Die unabhängige Künstlerszene und die wenigen regimekritischen Medien in Serbien reagierten empört. Nur wenige Tage zuvor versuchte der Führer einer rechtsextremistischen Partei, mit Gewalt eine Podiumsdiskussion über serbische Kriegsverbrechen in Bosnien zu unterbrechen. Nur wenige Tage danach mussten starke Polizeikräfte eine Veranstaltung der Versöhnung zwischen Serben und Albanern vor rechtsextremistischen Gruppen schützen.
"Ich dachte, dass die 1990er-Jahre die schlimmsten in meinem Leben waren, doch es scheint, dass uns das Schlimmste erst bevorsteht", sagt Dalibor Novak, einer der "Jungs". Sein Kollege Goran Rajšić sprach über den in Serbien "erwachten Nazismus", vor dem sich viele "kluge Menschen zurückziehen und schweigen".
Das verständnisvolle Kulturministerium
Vielmehr als der Exzess einiger jungen Rechtsextremisten sorgte die Mitteilung des serbischen Kultur- und Informationsministeriums über die Ereignisse rund um die Ausstellung für Aufruhr. Zwar verurteilte das Ministerium pflichtschuldig jedwede Gewalt und "Bedrohung der physischen Integrität von Autoren", zeigte dann aber Verständnis für die Revolte und Empörung der Randalierer.
Die Ausstellung mit "abartigen und unmoralischen Inhalten", verpackt als "angebliche schöpferische Kreativität" löse "zu recht negative Reaktionen aus", heißt es in der Mitteilung des Ministeriums. Und weiter: die Ausstellung mit so "grauenhaften Werken hätte niemals eröffnet werden sollen", den sie gehöre zur "Unterwelt des menschlichen Geistes" und die serbische "Gesellschaft sei durchaus in der Lage, das Gute vom Bösen zu unterscheiden".
Der Chefredakteur des serbischen Wochenmagazins "Vreme", Filip Švarm, bezeichnete die Mitteilung des Ministeriums als ein "nazistisches Pamphlet". Er riet dem Kulturminister, sein Pamphlet an die Redaktion der französischen Satirezeitschrift "Charlie Hebdo" zu versenden, wo islamistische Terroristen wegen einer Karikatur des Propheten Mohammed, die sie für abartig und beleidigend hielten, 2015 elf Menschen töteten. Das serbische Kulturministerium, so Švarm weiter, ermuntere mit seinen Äußerungen selbsternannte Richter, in Serbien ihr Unwesen zu treiben. In einer Gesellschaft, in der Andersdenkende systematischen Hetzkampagnen des Regimes und der gleichgeschalteten Medien ausgesetzt seien, griffen verbale Angriffe nur all zu leicht in physische Gewalt über.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 26. Oktober 2020 | 19:30 Uhr