Junge Männer prügeln sich im Schnee
Bildrechte: Too Much Production/NMG Studio Russland/MDR

Popkultur Warum eine russische TV-Serie auch in der Ukraine zum Hit wird

23. Januar 2024, 13:38 Uhr

Eine russische Serie über Jugendbanden in der Sowjetunion bricht derzeit alle Zuschauerrekorde in Russland: Jeder sechste hat die Serie angeblich schon gesehen. Verwunderlich ist aber, dass sie auch in der Ukraine beliebt ist – sehr zum Verdruss der dortigen Behörden. In beiden Ländern fordern nun Politiker ein Verbot der Serie wegen Gewaltverherrlichung.

Die Ende 2023 erschienene russische Serie "Slowo Pazana. Krow na Asphalte" (dt. Ehrenwort unter Jungs. Blut auf dem Asphalt) beruht auf wahren Begebenheiten. Sie erzählt die Geschichte von kriminellen Jugendbanden, die Ende der 1980er Jahre in Kasan, der Hauptstadt der Teilrepublik Tatarstan, den "Asphalt teilten", also um die Kontrolle über Stadtteile kämpften.

Die Hauptfigur, Andrej, ist ein vorbildlicher Achtklässler, der von Gleichaltrigen jedoch oft gedemütigt wird. Er gehört keiner Clique an und ist somit ein "Tschuschpan", ein Außenseiter. Der Junge schließt sich deshalb einer Jugendbande an und wird zum "Pazan" – zu einem Bandenmitglied, das auf der Straße respektiert wird. Ihm wird schnell der Ehrenkodex der Jungs beigebracht, dessen Hauptregel lautet: "Jungs entschuldigen sich nie." Für Andrej beginnt ein Leben voller Schlägereien, abgeschnittener Ohren und Morde.  

Junge Männer stehen draußen vor einem Haus
Beruht auf wahren Begebenheiten: Die russische TV-Serie Slowo Pazana. Bildrechte: Too Much Production/NMG Studio Russland/MDR

Die Serie wurde in Russland sofort zu einem sensationellen Erfolg. Das ist nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass gleich mehrere russische Politiker zu einem Verbot der Serie aufgerufen hatten. Bemerkenswert ist dabei, dass sie mit staatlichen Mitteln gedreht wurde. Und wie üblich erreichten die Beamten mit ihrem Protest nur das Gegenteil: die Aufrufe steigerten das allgemeine Interesse an der Serie. Umfragen zufolge hat sie inzwischen jeder sechste Russe gesehen.

Politiker alarmiert 

Als erster schlug der tatarische Republikchef Rustam Minnichanow Alarm: "Wir dürfen nicht zulassen", so Minnichanow, "dass sich die Vergangenheit wiederholt." Die Serie romantisiere Gewalt und gehöre deshalb verboten. Tatarstans Kinderrechtsbeauftragte Irina Wolynez warnte, die Serie verbreite eine kriminelle Ideologie unter Heranwachsenden und widerspreche den traditionellen Werten, die Präsident Wladimir Putin zum Teil der Staatspolitik erklärt habe. Auch eine Staatsduma-Abgeordnete forderte die Behörden auf, die Serie zu prüfen. Verteidiger der Serie betonen jedoch, dass ihre Protagonisten am Ende für ihre Taten teuer zahlen müssen. Diese Botschaft solle Jugendliche davon abschrecken, den Weg der Kriminalität einzuschlagen.

Aufrufe zum Verbot wurden auch außerhalb Russlands laut. Und zwar dort, wo man es eher weniger erwartet hätte – in der Ukraine. Die Serie ist auch bei ukrainischen Zuschauern beliebt – vor allem bei der jüngeren Generation. Davon zeugen etwa die zahlreichen Suchanfragen im Internet und auch die Tatsache, dass sich der Titelsong "Pyjala" der russischen Band "Aigel" mehrere Wochen lang an der Spitze der Top-100-Ukraine-Charts auf Apple Music hielt. Die Band wird im Abspann der Serie nicht erwähnt, was damit zusammenhängen könnte, dass sie zuvor den Krieg gegen die Ukraine verurteilt hatte. Zwar sind alle russischen Medienprodukte in der Ukraine verboten und russische Online-Streamingdienste blockiert. Doch internationale Dienste wie Apple Music funktionieren und Raubkopien der Serie sind auf Piraten-Seiten im Internet verfügbar.

"Unwahrscheinliche Verbindung"

Es scheint so, als wären sich russische und ukrainische Politiker zum ersten Mal seit Jahren über etwas einig. Dass es ausgerechnet eine russische Serie über junge Kriminelle geschafft hat, in Zeiten von Krieg einige Gemeinsamkeiten zwischen beiden Ländern hervorzuheben, wirkt bizarr. Die Filmserie habe eine "unwahrscheinliche Verbindung" geschaffen, schrieb etwa der britische "The Economist". Die Popularität der Serie hat in der Ukraine erwartungsgemäß Entsetzen ausgelöst. Laut dem ukrainischen Ministerium für Kultur und Informationspolitik verbreite die Serie "Gewalt" und enthalte "feindliche Propaganda", die in der Ukraine unzulässig sei.

Viele Menschen fragen sich, wie es möglich ist, dass Ukrainer eine russische Serie gucken, während ihre Landsleute im Krieg gegen Russland an der Front sterben. Der Hauptgrund, so der erste Vize-Sprecher der Werchowna Rada, Alexander Kornienko, besteht darin, dass die ukrainische Filmindustrie der russischen Serie nichts entgegenzusetzen habe. "Ich kann mich an keine einzige gute Serie für Teenager seit der Unabhängigkeit unseres Landes erinnern", so der Politiker.

Anstatt Teenagern Vorwürfe zu machen, solle die ukrainische Öffentlichkeit sich selbst kritisieren, meint etwa die ukrainische Kunstkritikerin Lena Tschitschenina. Die Menschen in der Ukraine hätten auch früher russische Filme und Serien geschaut – sogar unmittelbar vor dem russischen Einmarsch. Der ukrainische Regisseur Alexander Rodnjanski verweist wiederum auf die "Psychologie des postsowjetischen Menschen": "Die Serie erzählt eine Geschichte von Freunden, die misstrauisch gegenüber den 'Anderen' sind, auch gegenüber dem Staat, der Polizei, der Armee und dem Fernsehen." Diese Denkmuster seien Teil der "DNA von postsowjetischen Menschen", zu denen auch Ukrainer gehörten. Vor diesem Hintergrund sei der Erfolg der Serie in der Ukraine nichts Außergewöhnliches.

Diese Muster greifen auch in Russland. Die Soziologin Marina Yusupova von der Edinburgh Napier University erklärt den enormen Erfolg der Serie in der Region unter anderem mit einer besonderen Wahrnehmung von Gerechtigkeit, die sich im postsowjetischen Raum etabliert habe. "Das volkstümliche Verständnis der Gerechtigkeit in Russland deckt sich nicht mit dem offiziellen Recht, weil die russische Bevölkerung den Staat nicht als Repräsentant ihrer Interessen wahrnimmt", schrieb Yusupova für die russische Plattform "Kinopoisk". Besonders in den 1990er Jahren habe man in Vertreter des Staates, die nicht selten korrupt waren, wenig Vertrauen gehabt, während kriminelle Autoritäten und ihr "Ehrenkodex" oft als Ausdruck der Volksstimme empfunden wurden.

Alte Wunden aufgerissen

Als der 40-jährige Sergej die Serie sah, fühlte er sich in seine eigene Kindheit zurückversetzt. Er wuchs in Nabereschnyje Tschelny, der zweitgrößten Stadt von Tatarstan, auf. Die Stadt ist in "Komplexe" – so heißen dort die Stadtviertel – geteilt. Ende der 1980er Jahre waren die Komplexe oft verfeindet, blutige Straßenkriege gehörten zum Alltag. Deshalb sei er immer mit mindestens zwei Freunden unterwegs gewesen. Wer sich in ein "feindliches" Viertel traute, musste mit einem Raubüberfall oder physischer Gewalt rechnen. "Einmal kam ein Junge aus einem 'feindlichen' Viertel in unsere Schule, um an einem Wettbewerb teilzunehmen. Mit Tränen in den Augen flehte er mich und ein paar andere Jungs an, ihn in Schutz zu nehmen und anderen zu sagen, dass er aus unserem Komplex sei. Sonst hätte er gehörig Ärger bekommen, alle wussten das."

"Slowo Pazana. Krow na Asphalte" ist nicht die erste russische Serie über kriminelle Machenschaften, die zum Hit wird: Bereits Anfang der 2000er Jahre zeigte die russische Mini-Serie "Brigada" (dt. "Die Brigade") den Aufstieg von vier Freunden in der Welt der Kriminalität in den 1990er Jahren. Der Erfolg der Serie war so enorm und ihr Einfluss und so groß, dass einer der Hauptdarsteller, Pawel Majkow, sie Jahre später als "Verbrechen gegen Russland" bezeichnete und sich für seine Rolle darin entschuldigte.

Mit dieser Aussage sprach der Schauspieler vielen aus der Seele, die infolge dieser destruktiven Ideologie einen geliebten Menschen verloren haben. Auch ich selbst gehöre dazu: Einer der jungen Männer, der dieser Kultur zum Opfer fiel, war mein Cousin Giorgi. Auch er träumte davon, eine "Autorität" zu werden. Bei einer nächtlichen Zusammenkunft mit seinen Freunden, die ähnliche "Werte" teilten, entlud sich plötzlich eine illegal erworbene Pistole von einem der "Jungs". Die Kugel traf meinen 22-jährigen Cousin und verletzte ihn tödlich. Daher war meine erste Reaktion, als ich von der neuen Serie erfuhr: "Nicht schon wieder! Feiert diese Ideologie jetzt ein Comeback?"

Noch ist es zu früh, um einzuschätzen, ob "Ehrenwort unter Jungs" eine destruktive Wirkung auf Teenager entfaltet. Allerdings wurden in den Medien bereits einige Gewalttaten mit der Serie in Verbindung gebracht: ein ermordeter Jugendlicher in Irkutsk, eine zusammengeschlagene Schülerin in Dagestan. Doch in keinem der Fälle konnte diese Verbindung tatsächlich nachgewiesen werden. Eine Rückkehr der Jugendbanden wie damals in Kasan hält Zeitzeuge Sergej für unwahrscheinlich: "Damals gab es in meiner Stadt kaum Unterhaltungsmöglichkeiten für Jugendliche, sie waren sich selbst überlassen, während ihre Eltern in Fabriken schufteten." Heute hätten junge Menschen in Russland mehr als genug Möglichkeiten für einen interessanten Zeitvertreib. Ausschließen könne man aber nichts, sagt der 40-Jährige.

Protagonistin Mascha in Nahaufnahme. 3 min
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Heute im Osten | 27. Januar 2024 | 07:17 Uhr

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