Polen Verleumden statt Entschädigen: Sexueller Missbrauch in Polens katholischer Kirche
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18. Februar 2022, 17:27 Uhr
Auch in Polen reißt die Diskussion über sexuellen Missbrauch von Kindern in der katholischen Kirche nicht ab. Im Moment macht die Geschichte des heute 48-jährigen Janusz Szymik Schlagzeilen, der als Zwölfjähriger von einem Priester über Jahre vergewaltigt wurde. Die Diözese soll zur Vertuschung beigetragen haben, weshalb Szymik sie nun auf Schmerzensgeld verklagt. Die katholische Kirche geht zum Gegenangriff über.
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Der aktuell viel diskutierte Fall von kirchlicher Vertuschung sexuellen Missbrauchs ist der Leidensweg von Janusz Szymik, dessen Leben im Alter von zwölf Jahren zu einem Alptraum wurde. Szymik verklagte die zuständige Diözese auf Schadenersatz in Höhe von über 660.000 Euro. Am 17. Februar 2022 begann der Gerichtsprozess.
Doch bereits vor Prozessbeginn behauptete das zuständige Bistum, dass "die Beziehung, die der Kläger mit Pater W. hatte, nicht auf Zwang oder Entmündigung beruhte, sondern im Gegenteil – auf Freiwilligkeit und gegenseitigem Nutzen". Sie fordert nun "Beweise von einem sachverständigen Sexualwissenschaftler, um die sexuellen Vorlieben des Klägers festzustellen, insbesondere seine sexuelle Orientierung". Dieser Versuch der Täter-Opfer-Umkehr macht Janusz Szymik fassungslos: "Dieser Antwort nach soll ich als Minderjähriger am Umgang mit einem Pädophilen Spaß gehabt haben! Weil ich schwul sei? Es kommt mir vor, als hätte mich eine Dampfwalze überrollt", sagt Kläger Szymik.
Die Hölle im Pfarrhaus
Janusz Szymik ist heute 48 Jahre alt. Er lebt mit Frau und Tochter im Dorf Międzybrodzie Bialskie in Schlesien. Seine schmerzhafte Geschichte beginnt im Jahr 1983. Seine Familie war sehr religiös, soll sich aber nicht besonders um ihn gekümmert haben. Mit elf Jahren wurde der Junge Messdiener und kam in Kontakt mit dem Dorfpfarrer Jan W. Mit zwölf wurde er von ihm zum ersten Mal sexuell missbraucht und, so die Angaben von Janusz Szymik, über einen Zeitraum von fünf Jahren hinweg etwa 500 weitere Male.
"Ich war gebrochen und zu Tode erschrocken. Ich hatte niemanden, dem ich es erzählen konnte. Wer würde mir glauben?", erinnert sich Szymik. Die Übergriffe spielten sich oft auf einem Sofa ab, über dem ein Bild von Christus mit der Dornenkrone hing. Mit 17 brach der Junge seinen "Messdienst" schließlich ab und ging für fünf Monate zur Therapie in eine Klinik. Szymik leidet bis heute unter einer posttraumatischen Belastungsstörung und ist immer wieder in psychologischer Behandlung.
Verschweigen und Vertuschen
Nach der ersten Therapie meldete Janusz Szymik seinen Fall dem zuständigen Bischof. Er tat dies im Laufe der Zeit immer wieder, führte Zeugen an, aber niemand nahm sich seiner Vorwürfe an. Erst 1993 wurde sein Bericht vom Bischof der Diözese Bielsko, Tadeusz Rakoczy, entgegengenommen. Doch eine Reaktion blieb aus. Beim nächsten Versuch 2007 ignorierte der Bischof erneut seine Pflicht, dem Missbrauchsfall nachzugehen. Und das, obwohl bereits damals geltendes Kirchenrecht vorsah, Vorwürfe wie diesen dem Heiligen Stuhl zu melden.
Das bewog Szymik dazu, seine Geschichte einem von ihm als zuverlässig angesehenen Pater anzuvertrauen, der sie 2012 an Kardinal Stanisław Dziwisz, den ehemaligen Sekretär von Papst Johannes Paul II., weitergab. 2020 in einem Fernsehinterview auf den Fall Szymik angesprochen, äußerte Dziwisz, er könne sich daran nicht erinnern.
Als 2015 der Spielfilm "Spotlight" über sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche der USA herauskam, wurde Janusz Szymik endgültig klar, dass auch in seinem Fall ein kirchliches System der Geheimhaltung am Werk war. Selbst der maltesische Geistliche Charles Scicluna der viele Jahre lang im Auftrag des Heiligen Stuhls Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche untersucht hat, vergleicht die Vertuschung mit dem Omertà-Schweigegesetz der Mafia. Für Szymik stand fest: Ihre Sünden würde er der Kirche nicht mehr vergeben. Kurz nachdem er den Film "Spotlight" gesehen hatte, meldete er die Versäumnisse des Bischofs Rakoczy direkt an den Vatikan.
2017 wurde Szymiks Peiniger Pater Jan W. dann in einem innerkirchlichen Verfahren schuldig gesprochen und zu einer Strafe verurteilt: unter anderem zu einem fünfjährigen Verbot des Priesterdienstes. Inzwischen ist erwiesen, dass Janusz Szymik nicht das einzige Opfer von Pater W. war. Bischof Rakoczy wurde für die Vertuschung von Pädophilie mit einer nur symbolisch anmutenden Strafe belegt. Von Genugtuung konnte für Janusz Szymik nach diesem Urteil aber keine Rede sein. Deshalb ging er 2020 mit seiner Geschichte an die Öffentlichkeit.
Mitleid ja – Entschädigung nein
Bischof Roman Pindel, Rakoczys Nachfolger, äußerte in der Folge in einem offenen Brief an die Dorfbewohner von Międzybrodzie Mitleid mit Janusz Szymik. Doch mit dem bischöflichen Mitleid war es vorbei, als beim Landgericht Bielsko-Biała eine Klage von Janusz Szymik gegen die Diözese einging, in der er drei Millionen Złoty, also über 660.000 Euro Schmerzensgeld fordert. Das Bistum wies darauf hin, dass es nicht der richtige Adressat für die Klage sei und verwies darauf, dass "die persönliche Verantwortung für eine Tat beim Täter liegt". Dass die bischöfliche Kurie als Reaktion auf Szymiks Klage behauptet, er würde eine Mitschuld an dem Missbrauch durch Pater W. tragen, macht Janusz Szymik fassungslos. "Geld ist das einzige Sacrum für sie", sagt Anwalt Artur Nowak über die Kirche. Neben Szymik vertritt er auch weitere Menschen, die von Priestern als Kinder missbraucht wurden.
Weder Staat noch Vatikan unterstützen
Über eines sind sich weite Teile der polnischen Presse einig, einschließlich rechter und konservativer Stimmen: Szymiks Fall zeige ein weiteres Mal, dass Geheimhaltung ein Wesensmerkmal und gleichzeitig eine der größten Pathologien der kirchlichen Verfahren in Pädophilie-Fällen sei. Nicht zuletzt stünden die praktizierten Verfahren im Widerspruch zu vom Vatikan erlassenen Vorschriften. Die Betroffenen sehen sich durch diesen Umgang mit ihnen schwer benachteiligt, denn sie haben weder ein Recht auf grundlegende Informationen noch auf Einsicht in Ermittlungsunterlagen über Geistliche. Hinzu kommt, dass Sexualstraftaten an Minderjährigen unter 15 Jahren nach geltendem polnischen Strafgesetz verjähren, sobald die Geschädigten 30 werden – danach können die Täter nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden.
Zwar wurde 2019 im Zuge weiterer Skandale und unter dem Druck der Öffentlichkeit die "Staatliche Kommission zur Aufklärung von Pädophilie" gegründet. Allerdings hat sie keine hoheitlichen Befugnisse, um Forderungen an die Kirche zu stellen. Sie kann bestenfalls um Zusammenarbeit bitten. Eine geheime Anweisung des Vatikans vom Dezember 2021 macht die Sache noch schwieriger: Die Bischöfe sollen die Aktenanfragen polnischer Gerichte, der Polizei oder der Staatsanwaltschaft an den Vatikan weiterleiten. Der wiederum prüfe die Anträge auf ihre "Angemessenheit, Rechtmäßigkeit und Eignung für Prozesszwecke" und dürfe sich weigern, die Akten auszuhändigen.
Allein die Vorstellung, dass polnische Gerichte beim Vatikan Unterlagen anfragen müssen, erscheint Anwalt Arthur Nowak absurd. "Die Kirche ist ein Staat im Staate", so viel steht für Nowak fest. Sollte es ihm gelingen, den jetzt begonnenen Prozess Janusz Szymiks gegen die Kirche zu gewinnen, wäre es die bisher höchste Schadenersatzzahlung für einen Betroffenen von sexuellem Missbrauch in Polens Kirche.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 31. Januar 2022 | 08:17 Uhr