Pflegekräfte protestieren und hängen ihre Kittel an einem Zaun auf.
Im Dezember protestierten Pflegekräfte im herzegowinischen Konjic gegen das Ausbleiben ihrer Löhne. Einige sagen, nur wenn sie auswandern, hätten sie eine Chance, von ihrer Arbeit zu leben. Bildrechte: IMAGO / Pixsell

Pflegenotstand Wirbt Deutschland zu viel Pflegepersonal aus Bosnien ab?

01. Februar 2022, 17:57 Uhr

Deutschland braucht mehr Pflegekräfte. Die holt es sich auch vom Balkan. Angeblich kommen nur Pflegekräfte, die dort arbeitslos sind. In Bosnien sehen das manche ganz anders.

In Deutschland fehlen derzeit rund 200.000 Pflegekräfte. Eine Impfpflicht gegen Covid-19 ab März könnte diesen Mangel noch verschärfen. Schon seit Jahren holt sich Deutschland deshalb Personal aus dem Ausland, allein 2020 wurden hierzulande fast 19.000 ausländische Pflegeabschlüsse anerkannt. Besonders viele Pflegerinnen und Pfleger kommen aus Bosnien und Herzegowina, ein kleiner Teil von ihnen seit 2013 über das Programm Triple Win. Es wird von den Arbeitgebern finanziert und von der Bundesagentur für Arbeit und der bundeseigenen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GiZ) umgesetzt. Eine Auflage für Triple Win ist, dass in den Herkunftsländern selbst kein Mangel an Pflegekräften herrschen soll. Ob das für Bosnien wirklich zutrifft, dazu gibt es verschiedene Ansichten.

Triple Win – der Name des Anwerbeprogramms – ist eine Steigerung von Win-Win, statt zwei Seiten sollen drei profitieren: das deutsche Gesundheitssystem, die angeworbenen Pflegekräfte und das Herkunftsland. Einer, der 2014 mit Hilfe des Programms nach Deutschland kam, ist Ervin Hozo aus Zenica. Trotz Ausbildung und Pflegebachelor hatte er zwei Jahre lang vergeblich Arbeit in Bosnien gesucht. Erst in Deutschland klappte der Berufseinstieg. Mittlerweile ist Hozo in Bremen Anästhesiepfleger: "Dass ich als Krankenpfleger nach Deutschland gegangen bin, war ein guter Schritt in meinem Leben. Hier habe ich wirklich ein gutes, stabiles Leben, eine Arbeit. Meine Frau hat auch Arbeit, unsere Kinder gehen in den Kindergarten. Ich qualifiziere mich weiter, es läuft einfach alles."

Mangel an Pflegekräften trotz Arbeitslosigkeit?

Laut Programmbeschreibung von Triple Win profitieren auch die Herkunftsländer, unter anderem, weil ihr Arbeitsmarkt entlastet wird. Das gelte, wie der Triple Win-Koordinator in Sarajewo, Emir Čomor, gegenüber dem MDR bekräftigt, auch für Bosnien: "Da es in Bosnien zurzeit noch immer über 7.000 Arbeitslose gibt, die eine medizinische Mittelschule als Krankenpfleger oder als Kinderkrankenpfleger abgeschlossen haben, versuchen wir diesen Personen eine Möglichkeit zu geben, wenn es vor Ort nicht klappt, dann in Deutschland zu arbeiten." In den letzten Jahren hat sich der Arbeitsmarkt für Pflegerinnen im Land allerdings ein wenig entspannt und der Status "arbeitslos" ist laut aktueller Triple Win-Ausschreibung bei der bosnisch-herzegowinischen Arbeitsagentur gar keine zwingende Voraussetzung mehr für eine Vermittlung.

Mirko Serbedžija von der Pflegegewerkschaft im Landesteil Republika Srpska blickt besorgt auf die Abwanderung qualifizierten Personals. Gegenüber dem MDR sagt er: "Die Folgen sind katastrophal. Wir werden ohne Fachkräfte dastehen." Die Pflege in Bosnien ruhe momentan auf den Schultern der 50- bis 60-jährigen Pflegekräfte, die Generation der 1980er bis Ende der 1990er Jahre Geborenen sei fast ausnahmslos ins Ausland gegangen. Es klaffe eine Alterslücke von 30 Jahren. Nur Berufsanfängerinnen und -anfänger kämen noch in die Krankenhäuser, so der Gewerkschafter. Und das oft nur, um erste Arbeitserfahrung zu sammeln, nebenher Deutsch zu lernen und dann ebenfalls auszuwandern.

Eine Frau erhält eine Impfung.
Die Impfkampagne bindet auch in Bosnien medizinisches Personal. Im Januar konnten Bürger von Sarajewo sich in einem Einkaufszentrum gegen Covid-19 impfen lassen. Bildrechte: IMAGO / Xinhua

Abwanderung auch in der Corona-Pandemie

Trotz des Mangels an jüngeren Pflegekräften ist es für viele nicht leicht, in Bosnien Arbeit zu finden. Grund: Es gibt nicht so viele Stellen, dass alle, die eine suchen, auch eine finden würden. Gleichzeitig gibt es Berichte darüber, dass Krankenhäuser einen Stellenbedarf haben, der ihnen von den zuständigen politischen Ebenen nicht finanziert wird.

Seitens des Triple Win-Programms habe man sich gerade während der Pandemie mit der Abwerbung von Pflegepersonal nach Deutschland zurückgehalten, erklärt Koordinator Emir Čomor aus Sarajewo: "Wir haben aus Sensibilität für dieses Thema zu dieser Zeit die Auswahlrunden gekürzt." Allerdings zeigen die Zahlen eine andere Realität: Im Jahr 2020 vermittelte Triple Win ein Höchststand von 156 Pflegekräften aus Bosnien nach Deutschland, erst 2021 sank dann ihre Zahl um etwa ein Drittel. Zudem erleichtert Triple Win seit Herbst 2021 seinen Bewerberinnen und Bewerbern die Teilnahme, indem es zusätzlich Kosten, die ihnen im Auswahlprozess entstehen, übernimmt. Gegenüber 2019 durfte überdies die geforderte Berufserfahrung 2021 sieben anstatt wie vorher vier Jahre zurückliegen. Nicht zuletzt unterhält der bosnische Ableger von Triple Win seit 2019 einen gut gepflegten Facebook-Auftritt, dem derzeit 4.500 Personen folgen.

Medizinische Behandlung von Corona-Patientinnen in einem Krankenhaus in Sarajevo
Für die Versorgung von Covid-19-Erkrankten stellten Krankenhäuser in Bosnien und Herzegowina vorübergehend zusätzliches Personal an. Bildrechte: IMAGO / Pixsell

Politische Instabilität Bosniens – Grund für Abwanderung

Damit das Pflegepersonal nicht abwandere, sei neben höheren Gehältern vor allem eine bessere arbeitsrechtliche Regulierung des Berufs nötig, sagt Pflegegewerkschafter Serbedžija. Die Gehälter in der Pflege bewegten sich derzeit im Landesteil Republika Srpska zwischen 350 und 500 Euro, was unter dem Durchschnittseinkommen von etwa 530 Euro liegt.

Ein weiterer wichtiger Grund für die hohe Abwanderung, so Gewerkschafter Serbedžija, sei, "dass die politische Situation hier sehr kompliziert ist. Das ist ein großer Stressfaktor für die Menschen, die eine Familie gründen, sich ihrem Beruf widmen, ihr Leben führen und von ihrer Arbeit leben wollen."

Erst jüngst drohte Milorad Dodik, der einflussreichste Politiker in der Republika Srpska, wiederholt mit der Abspaltung seines Landesteils vom Gesamtstaat Bosnien und Herzegowina. Eine Drohung, die Ängste vor einem neuen Krieg weckt. Auch bei Pfleger Ervin Hozo in Bremen, der oft über eine Rückkehr nach Bosnien nachdenkt: "Aber da müssen sich viele Sachen ändern, unsere Regierung und unsere Politik. Was man jetzt im Moment hört, wird es ja aber immer schlimmer. Deswegen glaube ich, dass es wirklich kaum Chancen gibt, dass wir zurückgehen."

Exodus von Pflegekräften statt Rückkehr

Gerade die Weitergabe von Know-How der abgewanderten und danach zurückgekehrten Pflegekräfte hält das Anwerbeprogramm Triple Win aber laut seiner Webseite für einen Gewinn für das bosnische Gesundheitswesen. Einen Wissenstransfer durch Remigration sieht Gewerkschafter Serbedžija aber nicht: "Es kehren nur sehr wenige zurück. Das sind so wenige, dass sich das statistisch kaum ausdrücken lässt."

Trotz allem äußert Serbedžija Verständnis für die Abwandernden: "Die Menschen sind immer migriert. Das kann man nur schwer aufhalten." Es sei ihnen auch keineswegs zu verübeln. Auch die andauernden Bemühungen Deutschlands, bosnische Pflegekräfte anzuwerben, sieht Serbedžija nicht als problematisch an. Und das, obwohl er nach der Pandemie einen wahren Exodus von Pflegekräften aus Bosnien nach Deutschland befürchtet. Der Gewerkschafter hält es hingegen für entscheidend, dass sich in Bosnien und Herzegowina grundlegend etwas an den Lebens- und Arbeitsbedingungen ändert. Dafür trete er mit seiner Gewerkschaftsarbeit ein, einen anderen Weg gebe es nicht.

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 26. Januar 2022 | 06:05 Uhr

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