Vor fünf Jahren Als erster Ort in Deutschland: Wie Neustadt am Rennsteig wegen Corona abgeriegelt wurde

11. März 2025, 20:38 Uhr

Am 22. März 2020 wurde Neustadt am Rennsteig im Ilm-Kreis abgeriegelt. Sechs Menschen hatten sich damals mit dem Coronavirus infiziert. Um die Ausbreitung zu verhindern, verhängte der Landkreis per Allgemeinverfügung eine Quarantäne. Kurz darauf startete das Uniklinikum Jena eine wissenschaftliche Studie. Wie ist die Situation in Neustadt am Rennsteig fünf Jahre danach?

So richtig vor der Kamera möchte in Neustadt kaum jemand mit uns reden. Ist das Mikro aber aus und wenn der Name nicht genannt wird, sprudelt's aus den Leuten nur so raus.

Du hast dich wie auf dem Mars gefühlt. Die Postzustellerin vermummt von oben bis unten.

Anwohnerin aus Neustadt

Eine junge Frau zeigt uns auf ihrem Handy ein Video. In der Dunkelheit steht ein Feuerwehrauto auf der Straße. Über Lautsprecher kommt eine Ansage. Alle Einwohner sowie Gäste dürfen ihr Grundstück ab sofort nicht verlassen, heißt es da. "Das war schon gespenstisch", erinnert sich die Frau. "Du hast dich wie auf dem Mars gefühlt. Die Postzustellerin vermummt von oben bis unten."

Quarantäne Neustadt am Rennsteig
Die Polizei stellte damals zur Abriegelung Straßensperren in Neustadt am Rennsteig auf. Bildrechte: MDR / Michael Hesse

Einmal hatte sie Medikamente für ihr Kind gebraucht. "Die hatte ein Verwandter für mich in der Apotheke in Großbreitenbach besorgt. Er musste die Tüte vor der Absperrung hinstellen und zurücktreten. Dann erst durfte ich sie holen", sagt die Frau.

Polizei riegelt Neustadt am Rennsteig ab

Lutz Graf hat das Schauspiel live miterlebt. Seine Tankstelle liegt am Ortsrand. An jenem Sonntag war schon den ganzen Tag im Dorf was los.

"Hier gegenüber standen dann plötzlich der Chef der Feuerwehr, der Bürgermeister und noch ein paar andere Leute. Da hat man schon gemerkt, dass irgendwas passiert. Und dann so kurz nach 17 Uhr sind hier wie im Film zwei Streifenwagen mit Blaulicht vorgefahren, haben sich diagonal auf die Straße gestellt und haben den Ort abgeriegelt", erzählt er.

Ein Mann schaut in die Kamera.
Lutz Graf besitzt eine Tankstelle am Ortsrand. Bildrechte: MDR/Bettina Ehrlich

Wenig später zog die Einsatzleitung wegen der aufziehenden Kälte und des Windes dann in die Tankstelle. "Hier drinnen wurde dann unter anderem von der Landrätin der Text verfasst, den die Feuerwehr dann später per Lautsprecher verkündet hat", erinnert sich Graf. Es sei alles sehr ruhig abgelaufen.

März 2020: Corona-Virus erreicht Thüringen

Im März 2020 war das Virus, welches die ganze Welt in Angst und Schrecken versetzte, auch in Thüringen angekommen. Zu jener Zeit war vor allem Italien schwer betroffen. Im Fernsehen Berichte über völlig überforderte Intensivstationen. In New York wusste man nicht, wohin mit den vielen Leichen.

Im Ilm-Kreis hatten sich zu jener Zeit elf Menschen infiziert, sechs kamen aus Neustadt am Rennsteig. Um eine weitere Ausbreitung des Virus zu verhindern, wurde Neustadt abgeriegelt.

"Erst einmal wusste niemand so recht, was passiert. Man hat zwar in den Nachrichten schon von den ersten Corona-Fällen gehört, aber das damit in Zusammenhang zu bringen, war für mich völlig illusorisch", sagt Helmut Töpfer.

Ein Mann sitzt auf einer Bank.
Helmut Töpfer war wegen seiner Nierenerkrankung besonders betroffen von den Maßnahmen. Bildrechte: MDR/Bettina Ehrlich

Töpfer war damals wegen einer Nierenerkrankung besonders gefährdet. "Nachdem das Dorf abgeriegelt war, war die nächste Frage: Wie komme ich zur Dialyse? Weil das ja irgendwo lebenswichtig ist. Ich habe dann das Gesundheitsamt angerufen, und da habe ich mitgekriegt, dass man vorbereitet war. Dass da im Hintergrund die Fäden gezogen waren", sagt Helmut Töpfer.

Nachdem das Dorf abgeriegelt war, war die nächste Frage: Wie komme ich zur Dialyse?

Helmut Töpfer

Drei Mal in der Woche wurde er zusammen mit einem anderen Patienten von einem Krankenwagen abgeholt und zur Klinik nach Ilmenau gefahren.

Die Quarantäne ging insgesamt zwei Wochen lang. Töpfer hat in dieser Zeit viel in seinem Garten verbracht. Genossen hat er vor allem die Stille im Dorf. "Da bist du richtig zur Ruhe gekommen", sagt Töpfer.

Polizei löst Grillparty auf

Andere im Dorf, die namentlich nicht genannt werden wollen, sehen das anders und sprechen von im Nachhinein völlig überzogenen Maßnahmen. Einige widersetzten sich den Vorgaben.

Beispielsweise grillten etwa 20 Personen zusammen. Die Polizei unterband das Treffen. Gegen Ende der Quarantäne gab es zwei Straßenpartys mit insgesamt 16 Teilnehmern. Auch da verhielten sich manche ziemlich aggressiv. Sie verweigerten die Angabe ihrer Personalien und spuckten sogar in Richtung der Polizisten. Zwei Männer leisteten so heftigen Widerstand, dass sie fixiert werden mussten.

Gegen sie wurde wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte, Beleidigung und versuchter Körperverletzung sowie Verstößen gegen das Infektionsschutzgesetz ermittelt. Andere Zeugen berichteten, dass die Polizei unverhältnismäßig vorgegangen sei. In einem weiteren Fall schlug sich ein Mann durch den Wald, um in Großbreitenbach einkaufen zu gehen. Bei vielen lagen die Nerven einfach blank.

Neustadt am Rennsteig im Ilm-Kreis von oben. 1 min
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Isolation als Glücksfall für die Wissenschaft

Für die Einwohner nicht unbedingt, aber für die Wissenschaft war die Quarantäne ein Glücksfall. "Das war der erste größere Ausbruch in Thüringen. Und das ganze Dorf wurde isoliert", sagt Professor Mathias Pletz. "Und vor allem gab es den Vorteil, dass das Gesundheitsamt sämtliche Menschen in diesem Dorf PCR-getestet hat. Das waren optimale Voraussetzungen. Und das Thüringer Wissenschaftsministerium hat in kürzester Zeit dann auch die Mittel zur Verfügung gestellt, sodass wir sechs Wochen nach dem Ausbruch in das Dorf gehen konnten."

Das ganze Dorf wurde isoliert. [...] Das waren optimale Voraussetzungen.

Mathias Pletz, Direktor des Institus für Infektionsmedizin in Jena

Pletz ist Direktor des Instituts für Infektionsmedizin am Universitätsklinikum in Jena. Den Neustädtern ist er sehr dankbar. An der Studie haben von 900 Einwohnern mehr als 600 Menschen mitgemacht - vom Säugling bis zum Senior. Sie haben geholfen, das Virus besser zu verstehen. Und ganz wichtig: Die Dunkelziffer von nicht entdecken Corona-Infektionen konnte besser erfasst werden.

Dr. Mathias Pletz blickt vor einem grünen Schild in die Kamera.
Mathias Pletz forschte zum Corona-Virus. Bildrechte: IMAGO / ari

"Die Fragestellung damals war: Wie viele immune Menschen gibt das auf einen Infizierten? Man hatte damals die Vorstellung, dass vielleicht auf einen Infizierten schon hunderte Menschen immun seien. Dann wäre die Pandemie kein Problem gewesen. Wir konnten aber zeigen, dass diese sogenannte Dunkelziffer sehr viel niedriger ist. Wir haben also gerade mal zwei immune Menschen auf einen wissentlich Infizierten finden können", sagt Pletz.

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Lockdown in Neustadt trägt zu wissenschaftlichen Erkenntnissen bei

Mittlerweile sind aus der Studie neun verschiedene Publikationen veröffentlicht worden. So wurde beispielsweise nachgewiesen, dass ein Teil der Menschen, der nachgewiesenermaßen infiziert war, keine Antikörper gebildet hat.

"Diese Menschen haben eine Immunität erreicht über die sogenannten T-Zellen. Das sind Zellen, die durch den Körper patrouillieren und virusinfizierte Zellen abtöten. Wir konnten aber auch erklären, woher die Geschmacksstörung kommt. Da sind die Kollegen aus der HNO-Klinik zum Beispiel später noch mal nach Neustadt gekommen und haben gezeigt, dass das keine Geschmacksstörung ist, sondern eine Geruchsstörung, die als Geschmacksstörung wahrgenommen wird."

Psychologische Folgen der Quarantäne

Außerdem haben sich Psychologen damit beschäftigt, wie sich eine Quarantäne auf die Menschen auswirkt. Das lief laut Professor Pletz vor allem über Fragebögen. Eines hat die Studie auch gezeigt: Die Krisenkommunikation hätte besser laufen können.

Soziale und kommunikative Faktoren spielen während einer Quarantäne eine große Rolle und können, wenn man sie effektiv nutzt, die Akzeptanz und Wirksamkeit der Maßnahmen beeinflussen. Heißt beispielsweise, dass man soziale Netzwerke deutlich stärker hätte nutzen können.

Helmut Töpfer - der einstige Dialysepatient - kann das nur bestätigen. Weil er immer mal rauskam, ist er mit Informationen gut versorgt worden. Vielen anderen im Dorf habe das aber sehr gefehlt.

MDR (ams)

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN | THÜRINGEN JOURNAL | 11. März 2025 | 19:00 Uhr

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