Langer Weg in die Sicherheit Wie ein Rudolstädter seinen Bruder aus Afghanistan gerettet hat
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21. Juli 2024, 18:00 Uhr
Monatelang hat der Rudolstädter Bauingenieur Aimal Nabizada dafür gekämpft, seinen Bruder mit dem Thüringer Landesaufnahmeprogramm aus Afghanistan zu retten. Sein jüngerer Bruder war bereits von den Taliban ermordet worden. Den älteren hätte die lange Verfahrensdauer das Leben kosten können.
"Scharjahr" schreibt Aimal Nabizadas Bruder - ein Mann mittleren Alters mit dunkelgrauem Haar und freundlichem Lächeln - mit Kugelschreiber auf den Zettel. So würde er gern genannt werden. Seinen echten Namen möchte der hochrangige Ex-General der afghanischen Armee nicht öffentlich nennen. Er fürchtet Racheakte der Taliban an seiner Familie, die er in Afghanistan zurücklassen musste.
An der Esszimmerwand von Scharjahrs Bruder Aimal Nabizada in Rudolstadt hängen Bilder aus Afghanistan. Viele davon zeigen Scharjahr in Uniform. Gemeinsam mit anderen Soldaten im Einsatz. Scharjahr, der lachend auf einer staubigen Landstraße seine Kinder im Arm hält. Bei einem Truppenbesuch neben Austin Scott Miller, dem Befehlshaber der Isaf- und Nato-Truppen in Afghanistan. Es war sein Einsatz für die internationalen Truppen und die Hoffnung auf Demokratie und Frieden für sein Land, die Scharjahr um ein Haar das Leben gekostet hätten.
Jüngerer Brüder von Taliban ermordet
Rückblick. Im vergangenen Herbst hatte Aimal Nabizada, Bauingenieur aus Rudolstadt, der 2015 selbst aus Afghanistan geflohen war, dem MDR schon einmal ein Interview gegeben. Damals war es erst ein halbes Jahr her, dass die Taliban seinen jüngeren Bruder, einen Menschenrechtsaktivisten, brutal ermordet hatten. Anfang Februar 2023 war der 29-Jährige von den Taliban entführt worden.
Vier Tage später übergaben die Islamisten die Leiche des jungen Familienvaters seinen Angehörigen. Aimal Nabizada fürchtete nun um den Rest seiner Familie, besonders um das Leben seines älteren Bruders, den seine Tätigkeit für die afghanische Armee ihn zur Zielscheibe der Taliban gemacht hatte. Während Scharjahr sich in Afghanistan versteckt hielt, hoffte Aimal Nabizada im fernen Rudolstadt zunächst, ihn über das Bundesaufnahmeprogramm für akut verfolgte Menschen aus Afghanistan (BAP) zu retten.
Beim BAP empfehlen ausgewählte Nichtregierungsorganisationen, deren Namen aber nicht öffentlich bekannt sind, besonders bedrohte Menschen für das Programm. Doch Aimal Nabizada hatte keine persönlichen Beziehungen, in Kontakt mit einer dieser NGOs kam er nie.
Kritik an Bundes- und Landesprogramm: Viele Hürden, hohe Kosten, lange Verfahren
Menschenrechtsorganisationen wie "Kabul Luftbrücke" und "Amnesty International" kritisieren schon länger, dass die hohen bürokratischen Hürden und die langen Visaverfahren des Bundesaufnahmeprogramms es gefährdeten Menschen nahezu unmöglich machen, ihr Leben auf legalen Fluchtwegen zu retten.
Als Ergänzung zu bestehenden Programmen wurde Anfang November 2022 die Thüringer Landesaufnahmeanordnung Afghanistan ins Leben gerufen, die es hier lebenden Menschen aus Afghanistan möglich machen sollte, ihre Angehörigen nachzuholen, sofern sie selbst für ihren kompletten Lebensunterhalt und den Wohnraum aufkommen.
Nach MDR Investigativ-Recherchen kann sich jedoch kaum jemand die Flucht über das Programm leisten. Eine Verpflichtungserklärung gilt für fünf Jahre. Ausgenommen sind lediglich die Kosten für die medizinische Versorgung. Als groben Richtwert gibt der Thüringer Flüchtlingsrat rund 2.500 Euro netto an, die jemand verdienen müsse, um einen einzigen Angehörigen nachzuholen.
80 Beratungsanfragen allein in diesem Jahr
Dabei handle es sich allerdings nur um einen Schätzwert. Die genaue Höhe werde von den Ausländerbehörden festgelegt, nur in Ausnahmefällen sei es bisher möglich, dass mehrere Personen gemeinsam bürgten, kritisierte eine Sprecherin des Flüchtlingsrats auf MDR Investigativ-Anfrage.
Die häufigste Schwierigkeit sind die hohen Kosten und die fehlenden Dokumente aus Afghanistan.
"In Afghanistan herrschte viele Jahre lang Krieg und die Infrastruktur erlaubte nur wenigen Menschen den Zugang zu höherer Bildung. Viele der Menschen bei uns in der Beratung haben hier in Thüringen Arbeit im Helferbereich, sie schuften im Schichtsystem und trotzdem reicht es nach dem Aufnahmeprogramm nicht für den Nachzug von Angehörigen", so die Sprecherin weiter. Familienangehörige in Sicherheit zu bringen, müsse auch denen möglich sein, die über kein hohes Einkommen verfügten.
Allein im aktuellen Jahr seien bisher mehr als 80 Beratungsanfragen zu dem Programm beim Flüchtlingsrat eingegangen. "Die häufigste Schwierigkeit sind die hohen Kosten und die fehlenden Dokumente aus Afghanistan."
Nach MDR Investigativ-Recherchen ist schon die Ausreise aus Afghanistan für viele Menschen kaum möglich, weil die Passbehörde von der Taliban-Verwaltung kontrolliert wird. Zur Ausreise brauchen die Menschen zunächst Pässe, gerade für akut bedrohte Menschenrechtsaktivisten und andere verfolgte Gruppen, kann allein schon die Beantragung eines Reisepasses unter Umständen eine lebensgefährliche Falle darstellen. Ein Visum für Pakistan zu bekommen kostet meist mehrere Hundert Dollar, das Verfahren dauert oft Wochen.
Thüringer Aufnahmeprogramm: 18 Einreisen in 20 Monaten
Anfang November 2022 trat das Programm in Kraft, zum Stichtag 31. Mai 2024 hielten sich nach Angaben eines Sprechers des Thüringer Innenministeriums 18 Menschen in Thüringen auf, die auf der Grundlage des Landesprogramms aus Afghanistan fliehen konnten.
Da der Familiennachzug an eine Wohnsitzauflage geknüpft ist, entspricht diese Zahl also der Gesamtzahl derjenigen, die insgesamt über das Landesprogramm nach Thüringen gekommen sind. Insgesamt hätten die deutschen Auslandsvertretungen bis Ende Juni laut Ministeriumssprecher bisher 44 entsprechende Visa erteilt, heißt es vom Landesinnenministerium.
Doch auch beim Landesprogramm beklagen Hilfsorganisationen wie der Flüchtlingsrat ebenso wie beim Bundesaufnahmeprogramm die Wartezeiten auf Termine, Visabearbeitungen und notwendige Interviews. Das Innenministerium bestätigt auf Anfrage lediglich, dass es bei der Terminvergabe mitunter zu längeren Wartezeiten in den Auslandsvertretungen kommen könne.
Warten in Lebensgefahr
Auch Aimal Nabizada stellte im vergangenen Jahr schließlich einen Antrag für seinen Bruder über das Thüringer Landesprogramm. Monatelang wartete er auf eine Antwort der zuständigen deutschen Botschaft in Pakistan. Sein Bruder hielt sich mittlerweile dort versteckt, immer in Angst, nach Afghanistan abgeschoben oder von terroristischen Gruppen entdeckt zu werden.
Ich freue mich sehr, dass ich hier in einem sicheren Land bin.
Denn für viele Flüchtlinge ist auch das Nachbarland Pakistan kein sicherer Ort. Es folgten Monate des Wartens auf Sicherheitsinterview und Visatermine. "Dann wollte die Botschaft einen DNA-Test", erzählt Aimal Nabizada. "Das hat das Ganze noch mal verlängert." Schließlich, im Februar 2024, ein Jahr nachdem sie ihren jüngsten Bruder verloren hatten und fast ein Jahr nach der Antragsstellung konnte Scharjahr nach Deutschland reisen. Jetzt lebt er in einem kleinen Zimmer bei Aimal Nabizada und seiner Familie, das mit dem Nötigsten eingerichtet ist.
Ankommen in Rudolstadt
Wie viel Geld er für den Aufenthalt seines Bruders vorhalten musste, will der Bauingenieur nicht sagen. Er wisse nicht, ob das verboten sei, sagt er. "Ich kann es mir leisten", sagt er, "viele andere nicht." Trotzdem freue er sich, dass es das Programm gebe und er so seinen Bruder habe retten können. Scharjahr, der neben ihm am Tisch sitzt, sind die hohen Kosten sichtlich unangenehm. "Ich freue mich sehr, dass ich hier in einem sicheren Land bin", sagt er.
Aber alles ist von meinem Bruder bezahlt worden. Der Lebensunterhalt, die Sprachkurse. "Alles ist so teuer." Er will so schnell wie möglich Deutsch lernen, eine Arbeit finden, um seine eigene Familie nachzuholen, die er zurücklassen musste. Seine Kinder verstecken sich an getrennten Orten. Auch sie müssen mit Racheakten der Taliban rechnen.
Seine Tochter hatte gerade ihr Zahnmedizinstudium abgeschlossen. Ein Elitestudiengang in Afghanistan, erklärt Aimal Nabizada stolz, kaum einer schaffe die Aufnahmeprüfung. Doch unter den Taliban dürfe seine Nichte nun nicht arbeiten. Frauen sind aus dem öffentlichen Leben in Afghanistan in den vergangenen drei Jahren sukzessive verdrängt worden. Der Zugang zu Bildung bleibt ihnen verwehrt.
Aufnahmeprogramme für Afghanistan gehen zu Ende
Derzeit schließt Deutschland seine Grenzen für Schutzsuchende aus Afghanistan. Anträge für das Thüringer Landesprogramm könnten noch bis einschließlich 31. Dezember gestellt werden, heißt es vom Landesinnenministerium. Dann laufe das Programm aus. Eine Verlängerung sei nicht geplant, ebenso wenig wie die Auflage neuer Aufnahmeprogramme.
Ich werde weiter kämpfen für meine restliche Familie und die Menschen in Afghanistan.
Am Mittwoch kündigte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) dann auch noch eine Kürzung der Mittel für das Bundesaufnahmeprogramm um knapp 90 Prozent im Haushalt 2025 an. Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen wie "Kabul Luftbrücke" sprechen von einem faktischen Aus für das wichtige, wenn auch bürokratische Hilfsprogramm für akut bedrohte Menschen, sollten die Sparmaßnahmen im Herbst vom Bundestag verabschiedet werden.
Andere Möglichkeiten der legalen Flucht gibt es dann kaum noch. Die Anrainerstaaten Pakistan, Iran und auch die Türkei schieben Schutzsuchende immer öfter zurück nach Afghanistan ab. Ob Aimal Nabizada und sein Bruder ihre Angehörigen noch rechtzeitig vor den Taliban retten können, ist derzeit völlig ungewiss. "Ich werde weiter kämpfen für meine restliche Familie und die Menschen in Afghanistan", sagt der Bauingenieur.
MDR (jn)
Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN | MDR THÜRINGEN JOURNAL | 21. Juli 2024 | 19:00 Uhr
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