Eine Familie steht vor der Kulisse des Petersbergs.
Hussain und seine Frau Najiba leben mit ihren Kindern seit einem Monat in Erfurt. Bildrechte: MDR/David Straub

Integration Neustart in Thüringen: Afghanische Ortskräfte nach der Flucht vor den Taliban

01. April 2023, 22:51 Uhr

Für deutsche Interessen haben sie als Ortskräfte ihr Leben riskiert - jetzt konnten sie vor den Taliban aus Afghanistan fliehen: Eine Familie erzählt von ihrem Neustart in Thüringen. Und ein ehemaliger Bundeswehr-Dolmetscher von seinen Problemen mit der Ausländerbehörde in Erfurt.

Am liebsten würde der Zweijährige direkt mit dem Autoscooter loslegen. Aber Hussain hält seinen Sohn zurück. Mit seiner Frau Najiba und dem zweiten Sohn schlendern sie über den Erfurter Domplatz, wo gerade die Fahrgeschäfte für den Altstadtfrühling aufgebaut werden. Am Wochenende wollen sie hingehen. "Wir haben noch keinen Kindergartenplatz", sagt Hussain, da sei diese Ablenkung gut für die Kinder.

Taliban verfolgte Familie

Jahrelang hat Hussain erst in einer Bank und dann in verschiedenen Funktionen für die afghanische Regierung gearbeitet - im Außenministerium und in der Statistikbehörde beispielsweise. Gar nicht gut in den Augen der Taliban. Und auch Najibas Tätigkeit war den neuen Machthabern ein Dorn im Auge: Sie arbeitete unter anderem für die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GIZ, aber auch für das afghanische Innenministerium. Dort war ihr Job im Rahmen eines von der UN geförderten Projektes, den Frauenanteil in den Ministerien zu erhöhen.

Wir mussten immer wieder unseren Aufenthaltsort wechseln.

Najiba

"Von dem Moment an, von dem die Taliban die Macht übernommen haben, war es auf einmal so gefährlich für uns", sagt Najiba, die wie ihr Mann ihren Nachnamen nicht genannt haben will. "Wir mussten immer wieder unseren Aufenthaltsort wechseln." In den ersten Tagen nach der Machtübernahme hatten deshalb auch sie wie Tausende andere zunächst versucht, zum Flughafen Kabul zu kommen, um das Land zu verlassen. Ohne Erfolg, erinnert sich Najiba, sie seien nicht einmal in die Nähe der Flughafentore gekommen.

Visum über Umwege

Über ein Jahr brauchten sie letztendlich für den Weg raus aus Afghanistan: Über das sogenannte Ortskräfteverfahren hatte die GIZ von Deutschland aus Najibas Ausreise beantragt. Monatelang musste sie warten - bewarb sich gleichzeitig um ein Stipendium an einer englischen Universität. In beiden Fällen hätten sie und ihre Kernfamilie aber auch ein Visum gebraucht, um Afghanistan nach Pakistan verlassen zu können.

"Wir brauchten einen wirklich starken Grund für ein solches Pakistan-Visum, da so viele Menschen eins wollten. Glücklicherweise habe ich irgendwann die Uni-Zulassung bekommen", erzählt Najiba. Grund genug anscheinend für die pakistanische Botschaft, ihr das Visum auszustellen. Als dann kurz darauf - doch noch rechtzeitig - die Zusage vom deutschen Ortskräfteverfahren kam, so Najiba, änderten sie den Plan und wurden über Islamabad nach Erfurt ausgeflogen.

Verschiedene Bundesprogramme für Afghaninnen und Afghanen Das Ortskräfteverfahren besteht bereits seit 2013. Darüber hinaus hat die Bundesregierung mit der Machtübernahme der Taliban 2021 die Aufnahme von besonders gefährdeten Afghaninnen und Afghanen erklärt. Monatlich wurde in diesem Zusammenhang seit vergangenem Frühjahr circa 1.000 Menschen die Aufnahme erklärt.

Zudem soll ein im vergangenen Oktober gestartetes Aufnahmeprogramm eigentlich einen zusätzlichen, "strukturierteren Rahmen" für die Aufnahme schaffen. Doch noch holpert es bei dem Programm wegen der schwierigen Ausreiselage, wie das Auswärtige Amt auf Nachfrage einräumt: So liefen derzeit die ersten Auswahlrunden - mit Zusagen wird "in den kommenden Wochen gerechnet". Insgesamt haben Afghanistan laut Auswärtigem Amt bisher 4.100 Ortskräfte verlassen, samt ihrer nächsten Angehörigen sind es circa 19.200 Menschen.

Ehemaliger Bundeswehr-Dolmetscher seit 2014 in Thüringen

"Es war eine große Freude, Mr. Sarkhosh in unserem Team zu haben." So steht es im Empfehlungsschreiben, das ein deutscher Oberstleutnant der Bundeswehr 2013 signierte. Es gehört Amin Sarkhosh, der für die Deutschen unter anderem als Übersetzer arbeitete. Jetzt, fast zehn Jahre später, hat Amin Deutsch gelernt, arbeitet als Sozialbetreuer und macht nebenbei eine Ausbildung zum Erzieher. Nebenbei hilft er anderen Migrantinnen und Migranten als Mitglied des Erfurter Move e.V. Auch Najiba und ihre Familie hat er dabei unterstützt, in Deutschland Fuß zu fassen.

Dennoch hat Amin immer noch keine Niederlassungserlaubnis bekommen, die ihm als afghanische Ortskraft theoretisch zusteht und die der Familie ein unbeschränktes Leben in Deutschland ermöglichen könnte. Zum Interview sitzt der zweifache Familienvater in seiner Wohnung an einem Tisch und durchforstet die Ordner auf seinem Laptop. Über Jahre hat er jeden Schriftwechsel mit den deutschen Behörden, allen voran der Ausländerbehörde in Erfurt, dokumentiert.

Ausländerbehörde zögert Entscheidung hinaus

Amins Geschichte als ehemalige Ortskraft ist auch eine Geschichte von zäher Bürokratie, die eine reibungslose Integration erschwert. "Die Frage, warum wir noch keine Niederlassungserlaubnis haben, muss der Ausländerbehörde Erfurt gestellt werden", sagt er.

Ich fühle mich schlecht, weil wir hier keine Dauerperspektive haben.

Amin Sarkhosh

Amin Sarkhosh hat keine Lust, sich immer wieder von einem zum nächsten, verlängerten Aufenthaltstitel zu hangeln. "Ich fühle mich schlecht, weil wir hier keine Dauerperspektive haben", sagt er. "Für die Kinder ist es heftig, wenn alle anderen in der Schule in den Urlaub fahren und wir nicht", berichtet Amin. Wegen des immer noch ungeklärten Staus könnten sie nicht einfach so ins Ausland reisen.

Eine unbefristete Niederlassungserlaubnis erhalten afghanische Ortskräfte nach deutschem Aufenthaltsgesetz, wenn bestimmte Kriterien erfüllt sind: Der Lebensunterhalt muss gesichert sein, die Antragsteller müssen ausreichende Sprachkenntnisse vorweisen sowie über mehrere Jahre in die Rentenversicherung eingezahlt haben.

Mit Hilfe des Rechtsanwaltes

Amin sagt, er erfülle mittlerweile alle Kriterien - sein Anwalt Matthias Lehnert teilt zudem mit: "Da sich Herr Sarkhosh in einem Ausbildungsverhältnis befindet, muss die Ausländerbehörde ohnehin nicht zwingend die Vorlage von Rentenversicherungsansprüchen verlangen." Lehnert hat den Fall erst vor Kurzem übernommen und kann die Situation noch nicht im Detail bewerten. Er stellt aber fest: "Die Ausländerbehörde Erfurt zögert die Entscheidung in diesem Fall hinaus."

In ihrem jüngsten Schreiben hatte die Behörde Amin Sarkhosh noch um Geduld gebeten - sein Ausbildungsverhältnis werde noch geprüft. Amin weiß von seiner Ausbildungsstelle jedoch, dass die den Fragebogen der Behörde längst beantwortet zurückgeschickt hat.

Rechtsanwalt Lehnert vertritt immer wieder afghanische Ortskräfte. "Ich stelle deutschlandweit fest, dass es bei Ausländerbehörden viel Unkenntnis gibt, was die afghanischen Ortskräfte betrifft. Das ist massiv ärgerlich für die Leute." Auch im Fall seines Erfurter Mandanten Sarkhosh sieht er keine Versagungsgründe für die Niederlassungserlaubnisse.

Unterstrichen wird das von einem Schreiben des Thüringer Landesverwaltungsamtes an das Thüringer Migrationsministerium vom Oktober 2022, das dem MDR vorliegt. Darin heißt es, dass es keine rechtlichen Gründe gibt, afghanischen Ortskräften mit einer bestehenden Aufenthaltserlaubnis die Niederlassung zu versagen.

Die Ausländerbehörde Erfurt wollte sich auf Anfrage zwar nicht zum einzelnen Fall äußern. Sie rechtfertigt lange Bearbeitungszeiten jedoch generell mit der angespannten Personallage. Bei der Bearbeitungsdauer spielten zudem vor allem "die Mitwirkungspflicht des Ausländers" und der Beantragungsgrund eine Rolle. Außerdem sei das "ständige Nachfragen zum Bearbeitungsstand nicht förderlich für eine zügige Bearbeitung".

Frische Zukunftsideen in Thüringen

Seit insgesamt einem halben Jahr leben Najiba und Hussain mit ihren Kindern nun schon in Thüringen. Zunächst waren sie noch in einem Dorf im östlichen Saale-Orla-Kreis, jetzt, vor einem Monat sind sie nach Erfurt gezogen. Sie hoffen, dort eine Arbeit zu finden, die ihren Qualifikationen entspricht. "Unser Ziel ist erstmal, bis September schon ein B1-Niveau zu haben", sagt Hussain.

Noch lernten sie viel über Youtube oder hörten sich gemeinsam Kinderhörbücher auf Deutsch an - bald beginnt voraussichtlich der erste Sprachkurs. Nach dem langen Warten auf ihre Flucht aus Afghanistan haben sie als ehemalige Ortskräfte immerhin einen Vorteil: Sie müssen kein Asylverfahren durchlaufen und haben erst einmal direkt einen Aufenthaltsstatus.

Najiba ist sich bewusst, dass nicht alle ihrer Landsleute dieselben Chancen haben, aus Afghanistan zu fliehen: "Es hat so lange gedauert, und das, obwohl ich alle Kriterien für das Ortskräfteverfahren erfüllt habe." Illegal zu emigrieren und ein neues Leben aufzubauen sei im Vergleich dazu mit noch extremeren Risiken verbunden.

Meine Kinder geben mir Energie.

Najiba

Najiba und Hussain hoffen, dass die Welt Afghanistan nicht vergisst. Während Hussains Eltern in der Heimat immer wieder von Taliban-Mitgliedern bedroht und schikaniert werden - und Najibas Schwestern Konsequenzen für ihre Proteste als ehemalige Studentinnen fürchten müssen, macht dem Ehepaar vor allem eine Sache Hoffnung: "Meine Kinder geben mir Energie", sagt Najiba.

"Zu wissen, dass sie an einem friedlichen Ort aufwachsen, gibt mir Energie. Ich bin glücklich, dass zumindest diese Generation ein gutes Leben haben wird. Ein Leben, das wir nicht hatten."

MDR (dst)

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