Medikamentenmangel Die Kosten der Gesundheit: Warum Arznei-Produktion schwierig bleibt
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30. November 2023, 05:00 Uhr
Spätestens mit Beginn der Corona-Pandemie wurden in den Apotheken immer mehr Medikamente knapp. Auch, weil viele Wirkstoffe inzwischen aus China oder Indien kommen. Die Politik sprach damals von einer Rückkehr-Offensive, doch drei Jahre später ist bei den Herstellern und in den Apotheken Ernüchterung eingetreten.
Christine Heinig ist verzweifelt. Die Geraerin war schon in drei Apotheken, und auch in der Zentral-Apotheke am Puschkin-Platz hat sie kein Glück. Andreas Ettel hat ihre Diabetes-Spritze nicht im Lager. "Nein, die gibt's leider zurzeit gar nicht vom Lieferanten", sagt der Apotheker bedauernd.
Eine Botschaft, die Ettel in letzter Zeit immer häufiger für seine Kunden hat. "Die Situation ist inzwischen beängstigend", sagt er. "Wir haben ganz viele wichtige Medikamente, die nicht lieferbar sind." Darunter seien Herz-Kreislauf-Medikamente, aber auch immer noch Fiebersäfte für Kinder - und eben viele Diabetes-Medikamente. Nicht selten müssen Kunden wie Christine Heinig mehrere Apotheken aufsuchen, um ihre benötigte Arznei zu bekommen.
Verband: Produktionsstandort soll größere Rolle spielen
Gründe für die Engpässe von Medikamenten gibt es viele. Vor allem die langen Lieferwege machen den Apotheken zu schaffen. Laut Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) kommen bis zu 90 Prozent der Antibiotika-Wirkstoffe aus China oder Indien. Schon zu Beginn der Corona-Pandemie zeigte sich, wie fragil die Lieferketten sind.
Der damalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn sprach davon, vor allem die Produktion wichtiger Antibiotika zurück nach Europa holen zu wollen. Laut Branchenverband ist das jedoch völlig unrealistisch. Aus Berlin heißt es: "Massive Kostendämpfungsmaßnahmen in der deutschen Arzneimittelversorgung sind kontraproduktiv und schrecken Unternehmen ab, hier zu investieren."
Der BPI spricht von rund sechs Cent, die die Hersteller pro Tagestherapie in Deutschland mit ihren Medikamenten erlösen. Schuld daran seien die von den Krankenkassen vorgegebenen Festbeträge, außerdem Rabattverträge, Zwangsabschläge und Generikarabatte.
Deshalb plädieren die Hersteller für neue Modelle, bei denen nicht mehr nur der günstigste Anbieter zum Zuge kommt, sondern auch die Produktionsstandorte eine Rolle spielen. "4-3-1" nennt der BPI das System: "Mindestens vier Anbieter sollten im Markt sein, von denen drei Zuschläge erhalten und von denen mindestens einer am Standort Europa produziert. Versorgungskritische Arzneimittel sollten hierbei gänzlich ausgenommen sein." Dann sei es für die Arzneimittelproduzenten auch wieder lukrativ, in Europa zu produzieren.
Hohe Kosten für Entwicklung von Medikamenten
Einer der wenigen Thüringer Hersteller ist Sandoz in Rudolstadt. Rund 300 Mitarbeiter stellen hier unter anderem Inhalatoren für Asthmatiker her. Die Rudolstädter wollten am Standort eigentlich sogenannte grüne Inhalatoren entwickeln, die bei der Herstellung weniger CO2 verursachen.
Die zweistellige Millioneninvestition liegt allerdings momentan auf Eis. "Mit den aktuellen Preisen auf dem deutschen Markt ist es schwer, ein positives Ergebnis zu erreichen", sagt Geschäftsführer Benjamin Daum. Auch er fordert, den Produktionsstandort zu berücksichtigen, wenn die Krankenkassen über Lieferanten entscheiden.
Trotz aller Probleme ist Deutschland laut BPI der größte Pharmamarkt Europas. Rund 75 Prozent der gesamtwirtschaftlichen Produktion stünden mit der Pharmaindustrie im Zusammenhang. Mehr als 70 Prozent der Unternehmen sind mittelständisch geprägt und haben weniger als 100 Mitarbeiter.
Bei den aktuellen politischen Rahmenbedingungen ist die Bereitschaft zu Investitionen allerdings gering. Die Entwicklung von neuen Medikamenten ist laut Benjamin Daum zeit- und kostenintensiv. Trotzdem würde Sandoz in Rudolstadt gern neue Produkte entwickeln - wenn die Kosten refinanzierbar seien.
Entwicklung in Deutschland - Produktion im Ausland
Bei der Entwicklung neuer Wirkstoffe kommen auch in Thüringen immer öfter externe Partner ins Spiel. So etwa in Gera, wo das junge Unternehmen Hapila gemeinsam mit dem Leibniz-Institut Jena und der Ludwig-Maximilian-Universität München an einem Tuberkulose-Medikament arbeitet.
Die Kosten, die mit einer Herstellung in Deutschland verbunden sind, können hier nicht auf das Medikament umgelegt werden.
Laut Hapila-Chef Uwe Müller ist der Wirkstoff aktuell das einzige neue Antibiotikum aus Deutschland, das derzeit in klinischen Studien getestet wird. Vielversprechend eigentlich, doch auch dieses Medikament wird laut Müller sicher nicht in Deutschland produziert werden. "Die Kosten, die mit einer Herstellung in Deutschland verbunden sind, können hier nicht auf das Medikament umgelegt werden."
Keine Produktion ohne Rentabilität
Einen kleinen Lichtblick hat der Hapila-Chef dann aber doch noch. Seinen Kollegen bei Berlin-Chemie sei es immerhin gelungen, für ein Diabetes-Medikament einen Wirkstoff-Hersteller in Norwegen zu finden. Doch das sei wohl eher ein Einzelfall.
Dafür werden immer mehr Medikamente knapp, weil die Hersteller lieber in Märkte liefern, wo höhere Preise zu erzielen sind. Die neue und sehr gefragte Abnehmspritze Ozempic kostet laut Apotheker Andreas Ettel in Deutschland im Dreierpack rund 260 Euro. In den USA könne der Hersteller für die gleiche Größe rund 3.000 Dollar erzielen.
Andere Hersteller nehmen Produkte ohne kostendeckenden Preis gleich ganz vom Markt. So wird zum Beispiel das Schilddrüsen-Präparat Irenat bis 2028 nicht mehr produziert. Der Hersteller Alliance hat die Verträge gekündigt, weil das Präparat sich nicht zum gesetzlich festgelegten Preis von 7,23 Euro pro Packung produzieren lasse. Der Bundesverband Deutscher Nuklearmediziner fordert schnelle Maßnahmen vom Gesetzgeber, weil die aktuellen EU-Lagerbestände nur noch bis Ende 2023 reichen.
Für Ärzte und Apotheker ist der Arzneimittelnotstand nicht nur ärgerlich, er bedeutet auch einen zusätzlichen Zeitaufwand für die Suche nach Alternativen. Und Andreas Ettel ist sich sicher, dass viele Medikamente auch in Zukunft Mangelware bleiben werden.
MDR (adr/cfr)
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR THÜRINGEN JOURNAL | 22. November 2023 | 19:00 Uhr
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