Kanzlergespräch in Erfurt
Bundeskanzler Olaf Scholz im Kanzlergespräch. Bildrechte: IMAGO/STAR-MEDIA

Bürgerdialog Kanzlergespräch in Erfurt: 90 Minuten und ein Foto mit Olaf Scholz

11. August 2023, 11:54 Uhr

Am Donnerstagabend hat sich Bundeskanzler Olaf Scholz im Erfurter Egapark den Fragen der Thüringer gestellt. Ob die Besteuerung der Renten, Gelder für Kinderhospize oder die Politik bei Long Covid – die Fragen waren so unterschiedlich wie die rund 100 geladenen Gäste selbst. Mit sechs von ihnen haben wir vor und nach der Fragerunde gesprochen. Hat sie der Kanzler überzeugt?

"Definitiv ist man da aufgeregt. Es kommt ja nicht jeden Tag vor, dass man den Bundeskanzler trifft", sagt Julia Weber. Die 33-Jährige hat sich einen Platz in der dritten Reihe gesichert. Relativ mittig in dem eiförmigen Stuhlkreis, der für die rund 100 geladenen Bürger und Bürgerinnen unter dem Zelt der Parkbühne im Erfurter Egapark reserviert ist.

Weber ist Regelschullehrerin in der Landeshauptstadt und möchte den Kanzler (SPD) fragen, wie der Lehrermangel endlich behoben werden könne.

Julia Weber, 33, Lehrerin aus Erfurt 2 min
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MDR THÜRINGEN - Das Radio Fr 11.08.2023 10:17Uhr 01:47 min

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In ein ähnliches Horn stößt auch Markus Baldßun: "Ich bin heute hergekommen, um den Kanzler zu fragen, wie es um das Bildungssystem steht." Der 25-Jährige Grundschullehrer erlebe hautnah, wie das Bildungsdefizit im Land immer größer werde.

Er ist nicht allein gekommen. Sein Vater Stephan Baldßun will dem Kanzler ebenfalls auf den Zahn fühlen: "Ich würde ihn gern mal fragen, warum die Renten besteuert werden in Deutschland", sagt der 54-jährige Diakon aus Niederorschel im Eichsfeld. Außerdem will er sich vor allem einen Eindruck von der Person Olaf Scholz machen: "Im Fernsehen wirkt er immer ruhig und besonnen. Ich will mal schauen, ob er auch wirklich so ist", sagt er.

Stephan (li.) und Markus Baldßun aus Niederorschel im Eichsfeld. 12 min
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Die Security hat ihre Hausaufgaben gemacht

Um diesen persönlichen Eindruck erleben zu können, brauchten die Bürger und Bürgerinnen auch etwas Glück. Die "Thüringer Allgemeine", die als Medienpartner die Veranstaltung mitorganisiert hat, wählte die Gäste nach dem Zufallsprinzip aus. Einzige Vorgabe des Kanzleramtes: Möglichst gleich viele Männer und Frauen.

Wer eine Einladung erhalten hatte, musste im Egapark schließlich noch die Sicherheitsschleuse hinter sich lassen. Für das Kanzlergespräch war das Areal um die Parkbühne großflächig abgesperrt worden. Wachmänner mit Ferngläsern hatten auf der Sternwarte Posten bezogen, überall standen Mitarbeiter der Security und Personenschützer in Anzügen. Unter das Publikum mischten sich Polizisten in Zivil.

Davon unbeeindruckt zeigte sich der neunjährige Johannes Grimm, der mit seinem Papa ebenfalls aus dem Eichsfeld gekommen war. Im Jugendparlament Worbis engagiert sich der aufgeweckte Junge schon heute politisch und macht sich stark für die Belange von Kindern. Er will vom Kanzler wissen, warum die Regierung die Schulhausaufgaben noch nicht abgeschafft hat? Die Linkspartei habe diesen Vorschlag gemacht. Er fände das gut: "Nicht aus eigenem Interesse, sondern weil es für viele Familien schwer ist, das nach der Schule und Arbeit noch alles zu erledigen."

Johannes Grimm - 9 Jahre, aus Worbis - und sein Vater 7 min
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90 Minuten sind zu kurz für alle Fragen

Mit der Veranstaltungsreihe "Kanzlergespräch" tourt Bundeskanzler Olaf Scholz seit Juli 2022 durch die Republik. In unregelmäßigen Abständen stellt er sich dabei den Fragen der Bürgerinnen und Bürger und will auf diese Weise in Erfahrung bringen, was die Menschen in Deutschland bewegt.

Lea Wengel aus Erfurt, die für den Thüringer Landesverband der Grünen arbeitet,* bewegt vor allem die Klimafrage. "Herr Scholz ist 2021 als sogenannter Klimakanzler angetreten und ich frage mich, welche Maßnahmen die Bundesregierung dabei umsetzt und ob er glaubt, dass das ausreichend ist", führt die 31-Jährige aus. Ein Thema, das in dem 90-minütigen Abend zu kurz kommen wird.

Lea Wengler, 31, aus Erfurt 2 min
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Etwas mehr Glück wird Matthias Coors aus Jena haben. Ihn treiben vor allem die Wahlergebnisse der AfD um. "Die Demokratie ist gefährdet", sagt der 51-Jährige und sieht vor allem die Gefahr, dass diese Partei die Demokratie mit demokratischen Mitteln abschaffen könnte. "Da würde mich interessieren, wie der Bundeskanzler das selber einschätzt und welche Möglichkeiten er sieht, das zu verhindern."

Matthias Coors, 51, aus Jena 3 min
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"Vielen Dank für Ihre Frage!"

Dann kommt der Kanzler. Applaus brandet auf. Das Publikum scheint ihm auch in Thüringen gewogen zu sein. Beim kurzen Plausch mit der Moderatorin sammelt Scholz zusätzliche Sympathiepunkte, als er verrät, dass er mal den kompletten Rennsteig gelaufen ist: "Leider war das das Jahr, wo es jeden Tag geregnet hat", sagt Scholz und das Publikum lacht.

Dutzende Hände gehen hoch, als die Moderatorin die Fragerunde eröffnet. Es wird ein thematisch abwechslungsreicher Abend für den Kanzler. Er verteidigt den Mindestlohn vor einer Frau, die einen Frisörladen betreibt und ihre Mitarbeiter kaum bezahlen kann. Einem Herrn, dessen Frau ihr Leben lang für weniger als sechs Euro die Stunde arbeiten musste, sagt er, dass das für ihn "eine Schweinerei" sei und der Mindestlohn das nun verhindere.

Kanzlergespräch in Erfurt
"Wer hat eine Frage? Oh so viele!" Olaf Scholz schaffte es nicht alle Fragen der Bürger und Bürgerinnen zu beantworten. Bildrechte: MDR/Andreas Kehrer

Einer zweifachen Mutter aus Erfurt, die an Long-Covid erkrankt ist und nun in die Arbeitslosigkeit rutscht, verspricht er, die Forschung weiter zu finanzieren. Zur finanziellen Absicherung der Betroffenen sagt er: "Es gibt dafür Lösungen in unserem Sozialversicherungssystem, die sind aber häufig bürokratisch und mühselig." Er wolle das Problem in ihrem Fall gern verstehen und bittet die Frau, nach der Veranstaltung noch mal zu ihm zu kommen. Stets bleibt er sachlich, zeigt auch Mitgefühl und eröffnet fast jede seiner Antworten mit einem freundlichen: "Vielen Dank für Ihre Frage!"

"Ich gehe der Sache nach!"

Er bedankt sich auch, als eine Erfurterin ihm ein Blatt Papier hinhält. Sie habe ihm 24 Fragen aufgeschrieben, die sie beantwortet haben wolle. Dann erinnert sie Scholz an seinen Eid und fragt, ob die Bundesregierung zum Wohle des Volkes handele, wenn Gesundheitsminister Karl Lauterbach der Pharmaindustrie hörig sei, Außenministerin Annalena Baerbock Russland den Krieg erkläre und Wirtschaftsminister Robert Habeck die Industrie zugrunde richte.

Sie spult die bekannten rechtspopulistischen Feindbilder und Verschwörungserzählungen ab. Scholz bleibt freundlich, nennt die Fakten und widerspricht ihr damit deutlich. Ihre 24 Fragen wolle er mitnehmen und ihr antworten.

Kanzlergespräch in Erfurt
In der Gesprächsrunde nahm sich Olaf Scholz viel Zeit für die Fragen und Probleme der Menschen. Bildrechte: MDR/Andreas Kehrer

Auch das macht Scholz des Öfteren: "Geben Sie mir das nachher" oder "Schreiben Sie mir das nochmal", fordert er die Bürger und Bürgerinnen auf und verspricht, zu antworten. Er gibt auch unumwunden zu, wenn er Sachen nicht weiß. So will etwa eine Frau wissen, warum Hospize für Erwachsene gefördert werden, während Kinderhospize leer ausgingen? "Ich weiß davon nichts", sagt Scholz und wirkt überrascht bis schockiert. Das erscheine ihm überhaupt nicht sinnvoll, sagt er und verspricht: "Ich gehe der Sache nach!"

Der Diakon und der Kanzler

Dann kommt auch Stephan Baldßun, der Diakon aus dem Eichsfeld, zu Wort und fragt nach der Rentenbesteuerung. Scholz holt weit aus, verteidigt das Rentensystem, das schon in den 1990er-Jahren von manchen Zeitungen abgeschrieben worden sei. Die Regierung habe das Rentenniveau bereits bis 2025 stabilisiert. Die Koalition werde diesen Zeitraum noch verlängern. Außerdem habe man die Grundrente eingeführt, für die, die sonst zu wenig hätten.

Kanzlergespräch in Erfurt
Stephan Baldßun fragt den Kanzler: "Herr Scholz, warum werden die Renten in Deutschland besteuert?" Bildrechte: MDR/Andreas Kehrer

"Außerdem gibt es von mir noch eine klare Ansage", erklärt Scholz. "Ich bin überzeugt, dass wir es nicht mehr nötig haben, das Renteneintrittsalter noch weiter anzuheben: Wer jetzt mit 17 die Schule verlässt, hat fünf Jahrzehnte Arbeit vor sich. Ich finde das ist genug." Stephan Baldßun ringt dem Kanzler damit ein Versprechen ab, das am Abend noch Schlagzeile macht: "Scholz lehnt höheres Renteneintrittsalter ab", titelt der Spiegel.

Dann kommt er auf die eigentliche Frage zurück: die Rentenbesteuerung. "Das habe ich schon oft beantwortet und immer irritierte Blicke geerntet. Das wird auch jetzt so sein", führt Scholz seine Antwort ein und erklärt, dass diese Besteuerung auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes von 2002 zurückgeht. Ein Beamter hatte geklagt, dass er seine Pension versteuern müsse, während die Bezüge von Sozialversichungsrentnern steuerfrei blieben. Das Bundesverfassungsgericht gab ihm Recht. Seither müsse beides besteuert werden.

Fasziniert bis kritisch – Wie beurteilen die Thüringer?

Später sagt Baldßun, dass er zufrieden mit dieser Antwort gewesen sei. "Das mit dem Bundesverfassungsgericht wusste ich nicht. Das erklärt auch, warum er da als Kanzler nicht drum herumkommt." Auch Sohn Markus, der Grundschullehrer, war zufrieden. "Die Fragen [zum Thema Bildung], die da gestellt wurden, waren auch die gewesen, die ich mir zurechtgelegt hatte. Von daher war ich sehr zufrieden. Das Einzige, was mich ein bisschen geärgert hat, ist, dass die Themen für die junge Bevölkerung zu kurz gekommen sind."

Kanzlergespräch in Erfurt
Das Kanzlergespräch wurde von mehr als 70 Medienvertretern begleitet. Bildrechte: MDR/Andreas Kehrer

Tatsächlich kam Johannes Grimm vom Worbiser Kinderparlament trotz mehrfacher Versuche nicht zu Wort. Auch nach der Veranstaltung, als Scholz sich noch Zeit nahm, mit den Menschen Fotos zu machen, konnte Grimm ihn nicht mehr nach den Hausaufgaben fragen. Trotzdem war er beeindruckt: "Mich hat es fasziniert, dass der Kanzler auf alles eine Antwort hat und bei jedem Thema mitreden kann. Ich hätte nicht gedacht, dass das eine Person kann", sagt der Neunjährige.

Lea Wengel und Matthias Coors konnte der Kanzler nicht restlos überzeugen. Wengel fand zwar gut, wie sachlich und direkt Scholz mit Falschinformationen umgegangen sei, aber "der Klimaschutz kam fast gar nicht zu Wort und auch das Thema Demokratiestärkung ist nur sehr kurz bis gar nicht angesprochen worden."

Das sieht auch Coors so: "Die Einschätzung von ihm, dass die Demokratie nicht unterwandert wird – hoffentlich ist das so – eine Garantie sehe ich da aber nicht." Er hätte gern mehr dazu gehört, wie die Demokratie verteidigt werden könne. Trotzdem lobt er, wie Scholz bei den Fakten geblieben ist und nicht emotional wurde, als er mit populistischen Meinungen konfrontiert wurde.

Julia Weber, Lea Wengel und Matthias Coors (v.li.n.re) nach dem Kanzlergespräch. 11 min
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11 min

MDR THÜRINGEN - Das Radio Fr 11.08.2023 10:17Uhr 10:44 min

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Julia Weber, die Regelschullehrerin, urteilte noch ein bisschen kritischer. Bei der Frage zum Bildungsdefizit nach Corona offenbarte er ihrer Meinung nach Schwächen: "Da wusste er nicht so genau, wofür da Gelder ausgegeben werden können." Konkret ging es um die Frage, ob Coronahilfsmaßnahmen für den Nachhilfeunterricht von Kindern verwendet werden könnten.

Der Kanzler ist menschlicher geworden

Unabhängig von ihrer themenbezogenen Kritik am Auftritt des Kanzlers, waren sich aber alle sechs Thüringer einig: Das Gesprächsformat sei eine gute Form, um den Menschen die Politik näher zu bringen. "Ich glaube, dass die Leute immer das Gefühl haben, dass die Politik so weit weg ist. Deswegen finde ich es gut, wenn er hierher kommt und die Bürger und Bürgerinnen direkt fragen können", meint Lea Wengel.

Julia Weber nickt zustimmend: "Auch dass er gesagt hat, er meldet sich bei den Leuten, das macht ihn viel, viel menschlicher." Das sieht auch Markus Baldßun so. Der Kanzler wirke live im Gespräch ganz anders als wenn man ihn im Fernsehen sprechen höre. "Also die Person Olaf Scholz ist mir viel sympathischer geworden."

* Anmerkung der Redaktion:

In einer früheren Version des Artikels hatten wir die Tätigkeit von Lea Wengel nicht veröffentlicht. Sie arbeitet für den Thüringer Landesverband der Grünen. Frau Wengel legt Wert darauf, dass sie privat als politisch interessierte Bürgerin an dem Gespräch mit dem Bundeskanzler teilgenommen hatte. Aufgrund von Nachfragen machen wir im Artikel ihre Tätigkeit transparent.

MDR (ask)

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | THÜRINGEN JOURNAL | 11. August 2023 | 19:00 Uhr

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