Der Redakteur | 16.06.2023 Auto in Erfurt über Straße geschoben: Was sieht ein Lkw-Fahrer?
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16. Juni 2023, 18:35 Uhr
"Wieso sieht der das nicht?" Das haben sich wohl viele gefragt, nachdem das Video öffentlich wurde, in dem ein Lkw in Erfurt ein Auto quasi wie ein Schild vor sich herschiebt. Doch tote Winkel hat ein Lkw einige. Helfen sollen Spiegel und Assistenzsysteme. Trotzdem ist Vorsicht geboten.
Wenn mehrere Hundert PS schieben, dann ist ein querstehender Pkw kein wirkliches Hindernis. Autos sind auf diese Weise schon quer zur Fahrbahn geschoben worden, bis die Reifen platzten. Irgendwas hat sich wohl für den betroffenen Lkw-Fahrer anders angefühlt, berichteten Kollegen, denen schon ähnliches passiert ist. Als würde es ein Bremsproblem geben oder etwas von der Motorleistung flötengegangen sein. Ein alarmierendes Bild lieferte Lkw-Fahrer Andreas Hackel aus Vacha:
Eine ganze Kindergruppe kann sich vor den Lkw stellen und der würde die nicht sehen.
Allerdings gab es schon für den W 50 zu DDR-Zeiten Spiegel, die den Bereich vor dem Lkw erfasst haben und solche Spiegel sind heute Standard. Deshalb rätselt die Lkw-Fahrer-Fachwelt durchaus, wie man diesen Pkw übersehen kann. Mag sein, dass es von Lkw-Typ zu Lkw-Typ unterschiedlich ist, von toten Winkeln berichten mehrere Lkw-Fahrer.
Und selbst dann, wenn etwas zu sehen gewesen wäre, dass jemand im richtigen Moment eben nicht in den Spiegel geschaut hat, soll sogar schon Menschen beim Rückwärtsfahren passiert sein.
Auch die Erfurter Polizei ließ offen, warum der Fahrer den Pkw nicht gesehen hat. Laut einer Sprecherin wird der Unfall auf einen "klassischen Fahrfehler" zurückgeführt, es gibt keine weiteren Ermittlungen, weil es auch keine Straftat gegeben habe, wie zum Beispiel Fahren unter Alkohol- oder Drogeneinfluss.
Der 51-jährige Fahrer habe einen Widerstand festgestellt und vermutete einen Defekt an den Bremsen. Dass dann der Blick innerhalb der paar Sekunden bis zum Stopp eher den Instrumenten galt, als den Spiegeln, das klingt irgendwie verständlich.
Denn eines muss man auch sagen: Die Entwickler der Normen für die Assistenzsysteme, die solche Vorfälle verhindern sollen, haben schon vor Jahren erkannt, dass die Spiegelanzahl im Lkw die Beherrschbarkeitsgrenze erreicht hat.
Welche Warnsysteme hätten das verhindert?
Dr. Patrick Seiniger ist Experte für Lkw-Assistenzsysteme bei der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt). Das ist eine Forschungseinrichtung des Bundes, die an den am Ende auch internationalen Normen mitwirkt, sogar Crashtests macht und so dafür sorgt, das umsetzbare Regeln entstehen.
Man habe sich mit Absicht vor etwa fünf Jahren dafür entschieden, auf Assistenzsysteme zu setzen und nicht auf weitere Spiegel oder Kameras nebst Bildschirmen. Zwei auf diese Weise entstandene Systeme sind seit vergangenem Juli bei jeder neuen Typzulassung vorgeschrieben. Typzulassung heißt: Es wurde ein neuer Lkw-Typ entwickelt.
Im Juli 2024 verschärft sich diese Regel noch einmal. Dann muss tatsächlich jeder neue Lkw über diese Assistenzsysteme verfügen. Es ist der Abbiegeassistent, der unter anderem Radfahrer und Fußgänger schützen soll, und ein Frontassistent, der für genau diese Fälle gedacht ist wie den in Erfurt. Auf Deutsch: Anfahrassistenzsystem.
Es hätte Warnlampen und akustische Signale gegeben, sodass der Lkw-Fahrer genauer geguckt hätte. Letztlich kann er sich dann auch vorbeugen und da sieht er, was da los ist.
Die Systeme bestehen in der Regel aus einem Informationsteil und einem Warnteil. Bedeutet: Eine Hinweislampe wird zum Beispiel im Spiegel eingeblendet, wenn ein Radfahrer im toten Winkel parallel zum Lkw fährt. Das Warnsignal ist optischer und auch akustischer Art und wird aktiv, wenn das System den Eindruck hat, dass die Information vorher quasi ignoriert wird und zum Beispiel trotz des Radfahrers zum Rechtsabbiegen angesetzt wird.
Immer wieder schwierige Situationen
Ein Lkw hat schon aufgrund seiner Bauart weniger Fensterflächen, durch die der Fahrer sein Umfeld beobachten kann. Man muss auch wissen, dass ein Lkw-Fahrer zwar diverse Spiegel zur Verfügung hat, aber trotzdem nur zwei Augen.
Das heißt, gerade, wenn sich eine Situation schnell ändert, ein (kleiner) Fußgänger plötzlich vor das Fahrzeug tritt, ein Radfahrer seitlich schräg von hinten auf den Lkw zufährt, wird es immer Situationen geben, in denen der Lkw-Fahrer eben nicht genau im richtigen Augenblick in den Spiegel schaut.
Der Blick durch die Frontscheibe, Spiegel links, Spiegel rechts, Spiegel oben (für den Frontbereich), Spiegel unterhalb des eigentlichen Seitenspiegels für den Raum neben dem Vorderrad - das alles lässt sich nicht gleichzeitig beobachten.
Jeder Autofahrer sollte im Rahmen der Fahrausbildung einmal probesitzen in einem Lkw-Führerhaus, um einmal selbst zu sehen, was der Fahrer sieht.
Besonders im Umfeld eines großen Sattelzuges ist immer Vorsicht geboten. Erst recht, wenn so ein Riesenteil rückwärts fährt. Zwar sind Einweiser eigentlich vorgeschrieben, aber in der Praxis nicht immer da und ein Sattelauflieger hat in der Regel keine Rückfahrkamera, weil der Auflieger nicht zwingend zu diesem Lkw gehören muss.
Ein Lkw-Fahrer sieht also hinter seinem Fahrzeug in der Regel gar nichts. Das Video von Erfurt kann durchaus Gelegenheit sein, die eigenen Kinder auf diese Gefahren aufmerksam zu machen und selbst ein bisschen mehr respektvollen Abstand zu halten.
MDR (dvs)
Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Ramm am Nachmittag | 16. Juni 2023 | 16:40 Uhr
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