Exactly-Reportage Albtraum Amtsdeutsch: Warum Behördenpost eine Thüringer Familie überfordert
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04. Juli 2024, 17:00 Uhr
Wörter wie "Rechtsbehelfsbelehrung" oder "Beelterung" klingen nicht nur fies - sie machen vielen Menschen zudem das Leben schwer. Die MDR-Reportage Exactly begleitet eine betroffene Familie in Erfurt und fragt: Was tun Behörden, um Schreiben verständlicher zu machen?
Matthias mag seinen Job. Der Erfurter arbeitet Vollzeit als Straßenbahnfahrer. "Das bedeutet Schichtdienst, sieben Tage die Woche, immer rund um die Uhr." Weil seine Frau Christin momentan wegen einer Erkrankung nicht arbeiten kann, reicht das Geld aber nicht. Die Familie stockt auf und muss Sozialleistungen beantragen. Zwei Kinder haben Christin und Matthias, ein drittes kommt im Herbst.
Zuhause in der Küche holt Matthias, was sich in den letzten Jahren angestaut hat: Mehrere Ordner mit Anträgen und Schreiben für die Sozialleistungen. Sie beziehen Kinderzuschlag, Bildungs- und Teilhabeleistungen (kurz BuT, womit zum Beispiel Geld für das Schulessen der Tochter gemeint ist) sowie Wohngeld. Für alles gibt es unterschiedliche Amtsformulare.
Als Laie ist das oft unverständlich.
"Die Unverständlichkeit ist für uns das Grundproblem. Und die Struktur der Schreiben", sagt Christin. "Manchmal klingt eine Frage gleich, wie eine davor", ergänzt Matthias. Er gibt ein Beispiel aus dem Wohngeldantrag, das ihn irritiere. Gefragt wird, ob sich die Anzahl der Haushaltsmitglieder verändert hat. "Hat das verstorbene Haushaltsmitglied eine der in Frage zehn angeführten Transferleistungen bezogen?", liest Matthias vor. "So etwas meine ich. Was sind Transferleistungen? Außerdem sind wir hier erst bei Frage acht, aber man soll schon die zehn irgendwie beantwortet haben."
Neben unverständlichen Begriffen und der teils unübersichtlichen Struktur gehe manches dabei schlichtweg unter, beschreibt Christin. "Man vergisst dann manches. Und reicht Unterlagen deshalb nicht nach. Es ist ein Durcheinander." Matthias bringt es so auf den Punkt: "Das kann man sicherlich als Profi erkennen, wenn man das gelernt hat, auch um solche Formulare zu bearbeiten oder zu erstellen. Aber als Laie ist das oft unverständlich."
Die Exactly-Reportage sehen Sie am Mittwoch um 20.45 Uhr im MDR-Fernsehen oder in der Mediathek:
Großes Unverständnis auch in MDR-Umfrage
Skurril wirken Amtsdeutsch-Begriffe wie "raumübergreifendes Großgrün" oder auch "Gelegenheitsverkehr". Gemeint sind natürlich der Baum und das Taxi. Und "Beelterung"? Das bedeutet: Vermittlung einer Pflegefamilie für ein Kind.
Legendär außerdem fast schon das "Unwörterbuch Behördisch - Fröhlich durch den Behördendschungel" von Langenscheidt. Doch dass Behördensprache tatsächlich frustrieren kann, zeigt nicht nur die Geschichte der Erfurter Familie, sondern auch eine MDR-Umfrage zum Thema:
Über 20.000 Menschen aus Mitteldeutschland nahmen im Frühjahr an einer nicht repräsentativen MDRfragt-Befragung teil. Knapp 90 Prozent gaben an, Erfahrungen mit unnötig komplizierten Anträgen, Vorgaben und Meldepflichten bei Behörden und Ämtern gemacht zu haben. Und 72 Prozent akzeptierten nicht, dass Schreiben unverständlich sind, nur, weil es dadurch rechtssicher formuliert ist.
Junge Mutter kommt dank Betreuerin klar
Auch für Sophie ist Amtspost eine Herausforderung. Die junge Mutter aus Erfurt hat eine psychische Krankheit und konnte lange nicht arbeiten. Als sie vor einem Jahr endlich einen passenden Job findet, ist sie froh. "Das Team ist super. Die Arbeit macht Spaß. Es läuft", erzählt Sophie.
Doch die gute Nachricht - der Start in den Job - birgt auch seine Fallstricke: Die Grundsicherung fällt weg und damit das Geld reicht, müssen Wohngeld und andere Zusatzleistungen beantragt werden. Alleine den Übergang organisieren? "Das möchte ich mir eigentlich nicht ausmalen", sagt Sophie. Ohne ihre gesetzliche Betreuerin Franziska Friedrich wäre es schwierig geworden. Friedrich unterstützt Sophie seit Jahren im Alltag.
Die Betreuerin kennt die Hürden der Behörden-Anträge und gibt ein Beispiel, ebenfalls aus dem Wohngeldantrag: Gleich am Anfang werde man gefragt, welche Leistungen man alle bezieht. "Man kann hier ankreuzen SGB II, SGB XII oder auch SGB VIII. Und wenn ich hier zum Beispiel schon was falsch mache, würde der Antrag gegebenenfalls abgelehnt." Wenn das passiere, müsse man Widerspruch einlegen und hätte schnell drei Monate verloren.
Am Ende sind es Schulden, die dann entstehen.
Als Sophie in den Job einsteigt, muss Friedrich zudem erst einmal Mietschulden abwenden und mit dem Vermieter eine andere Taktung der Mietzahlung aushandeln - bis nach dem Wegfallen der Grundsicherung das erste Gehalt auf Sophies Konto landet.
So gut bei Sophie mittlerweile alles läuft, so schief könne es in anderen Fällen gehen, weiß die Betreuerin. "Oftmals werden ja Betreuungen erst eingerichtet, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Weil es tausende Euro Mietschulden gibt, weil die Leute das Geld nicht beantragt haben oder es anderweitig ausgegeben haben oder nicht wussten, dass da die Miete dabei ist. Am Ende sind es Schulden, die dann entstehen."
Bürgerbeauftragter kämpft gegen Amtsdeutsch
Thüringens Bürgerbeauftragter Kurt Herzberg kennt viele solcher Geschichten. Schon seit Jahren kämpft er gegen kompliziertes Amtsdeutsch. Er ist Vermittler zwischen erbosten und frustrierten Bürgern und "dem Staat". Wenn Behörden nicht "bürgernah" kommunizieren, "beginnt eigentlich das Krebsgeschwür des Unmutes, auch des Zweifelns an der Funktionsfähigkeit unseres demokratischen Rechtsstaates", mahnt Herzberg.
An der Thüringer Hochschule für öffentliche Verwaltung in Gotha gibt der Bürgerbeauftragte zweimal im Jahr ein Seminar zu bürgernaher Sprache. Im Studium werden hier die Beamten und Sachbearbeiter von morgen ausgebildet. Herzberg will die Studierenden sensibilisieren, bevor sie in den Arbeitsalltag entlassen werden. Denn er weiß: "Wenn Menschen Behördenpost bekommen, die sie nicht verstehen, sie in der Regel einfach an die Seite legen und nicht beantworten, nutzt das auch der Behörde nichts, weil an der Stelle dann nichts passiert."
Wir haben ja leider nicht umsonst das Klischee, dass sich das Amt nicht bewegt.
Die Studenten wissen um die Grundspannung, in der sie sich im Berufsleben befinden werden: Zwischen rechtssicheren Schreiben auf der einen, und verständlichen Wörtern und Sätzen auf der anderen Seite. Einer von ihnen, Patrick, findet: "Wir haben ja leider nicht umsonst das Klischee, dass sich das Amt nicht bewegt, dass es festgefahren ist. Aber ich denke, dass sich viele Behörden auch über junges Blut wie uns freuen, weil wir was bewegen wollen."
Sprachwissenschaftlerin wenig optimistisch
Michaela Blaha weiß, wie schwierig es für die zukünftigen Behörden-Mitarbeiter wird. Blaha forscht seit gut 25 Jahren zu Behördensprache und berät mit ihrer Gesellschaft für verständliche Sprache Ämter, wie sie verständlicher kommunizieren können. Rechtssicherheit sei ein wichtiger Punkt, den die Behörden beachten müssten. Oftmals halte man sich aber einfach zu nah am unverständlichen Gesetzestext, obwohl Sätze auch in einfacheres Deutsch übersetzt werden könnten.
Und: Es gebe zwar immer wieder Behörden, die Schreiben anpassen wollten. Aber "die Aussage, ich stehe über dem Bürger und ich habe hoheitliche Aufgaben - warum soll ich mich auf so niedriges Niveau begeben - die höre ich in den Seminaren durchaus öfter."
So wichtig sei deshalb, so Blaha, dass die Verbreitung verständlicher Behördenschreiben auf Führungseben priorisiert würde. "Auf Einsicht braucht man da nicht zu warten, auf Vernunft, auf betriebswirtschaftliches Denken, dass das vielleicht auch eine nützliche Sache sein könnte, auch für die Behörden. Letzten Endes muss Druck ausgeübt werden von den Behörden-Oberhäuptern - bis hinunter in die anderen Hierarchien."
Bundesarbeitsagentur und Finanzministerien geloben Besserung
Die Bundesarbeitsagentur betont, genau das zu versuchen. Über Monate hinweg hat sie die am häufigsten versendeten Jobcenter-Schreiben überarbeitet. Eines davon, die "Aufforderung zur Mitwirkung", werde pro Jahr etwa sieben Millionen Mal verschickt, sagt der Pressesprecher der Bundesbehörde, Christian Weinert, beim Interview in Erfurt. Das Schreiben hat jetzt einen anderen Titel.
"Wir brauchen Ihre Mithilfe", steht da. Darunter zwar ähnlich viel Text wie im alten Schreiben, dafür aber ein QR-Code, der einen direkt zum Digital-Portal der Jobcenter führt, sowie ein Symbol für einen Brief. Das Ziel der Behörde: klarer, übersichtlicher und verständlicher.
Aber warum kommt das erst jetzt - im Jahr 2024? "Das geht nicht auf einen Schlag", sagt der Pressesprecher. "Weil wir über 300 Vorlagen umarbeiten müssen. Das kann bei uns keine Werbeagentur übernehmen, sondern da sind tatsächlich Praxiserfahrungen von Kolleginnen und Kollegen gefragt, die sich dann in Gruppen sammeln und das umschreiben." Auch hier bleibe das Spannungsfeld das alte: Schreiben müssen rechtssicher bleiben, damit sie auch vor Gericht bestand haben.
Auf viele Fachbegriffe kann nicht verzichtet werden.
Auch die Finanzämter geloben Besserung, was ihre Steuerbescheide und Co. betrifft. Auf Nachfrage schreiben die Finanzministerien von Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen zusammen: Seit 2018 sei ein "Basisregelwerk" zur bürgernahen und geschlechtergerechten Sprache entwickelt worden. 2.000 Musterschreiben oder Ausfüllanleitungen der Finanzverwaltung seien überprüft worden. Und das sei, so die Ministerien auch "im Wesentlichen abgeschlossen".
Die Ministerien nennen auch Vorher-Nachher-Beispiele von Formulierungen:
"vom Hundertsatz" heißt jetzt "Prozent"
"fernmündlich" wurde zu "telefonisch"
"ich stelle anheim,…" ist "es steht Ihnen frei,…"
Doch auch hier: Ohne Rechtssicherheit ginge es nicht: "Durch die Finanzverwaltung müssen rechtlich bindende Entscheidungen kommuniziert werden, was eine präzise und einheitliche Sprachverwendung erfordert. Daher kann auf viele Fachbegriffe nicht verzichtet werden."
Familie suchte sich Hilfe
Straßenbahnfahrer Matthias und seine Frau Christin waren vor lauter "Fachchinesisch", wie sie sagen, so hilflos, dass sie sich Hilfe gesucht haben. Bei Sozialarbeiterin Sabine Bier im Erfurter "Kontakt in Krisen", kurz KiK. Der gemeinnützige Sozialbetrieb bietet laut eigenen Angaben "flexible und und kreative Hilfe zur Armutsprävention", eine Schuldnerberatung oder auch ein Übergangswohnheim für Familien.
Achtzig Prozent der Leute kämen wegen Verständnisproblemen mit Amtspost, sagt sie. Bier weiß, was für viele Menschen auf dem Spiel steht. Sie kenne genug Familien, deren Leistungen eingestellt wurden, weil Briefe aus Angst nicht geöffnet wurden. "Ganz viele leiden auch seit Corona an Depressionen und stecken einfach den Kopf in den Sand - was ich nicht sehe, ist nicht da. Und wenn die Leistungen eingestellt sind, führt es halt auch dazu, dass der Wohnungsverlust droht. Das ist dann die blanke Katastrophe."
Das sagen unsere User
Den Grundtenor gibt rene bertram vor: "Die Wortfindung in deutschen Amtsstuben und Verklausulierung sind unterirdisch." Jette J dazu: "Wo ich arbeite, gab es vor 20 Jahren ein Fünftel Belehrungstext auf der Anfangsseite. Mittlerweile umfassen die Belehrungen und Erläuterungen ca. 5 Seiten Text in kleiner Schrift und schwerer Sprache."
astrodon dagegen sieht die Schuld nicht alleine bei den Behörden: "Die Fragen und Antworten müssen nun mal rechtssicher sein, sonst klagt wieder irgend einer." Unterstützt wird er von Anita L.: "Solange es immer wieder findige Rechtsvertreter gibt, die sich bereiterklären, für ihre Klienten die sprichwörtliche sprachintensive Krümelkackerei zu betreiben, wird sich an den Formulierungen in der Behördenpost nichts ändern." Dagegen blieb part dabei, dass eine "Fürsorgepflicht" des Staates für jedermann verständliche Schreiben erzwingen müsse. Mit Blick auf Gerichtsurteile, die ohne Kommentare nicht verständlich seien, kritisierte er "Standesdünkel" der Juristen. Noch viel tiefer verwurzelter sieht es Anni22: "Von der Wiege bis zur Bahre, Formulare, Formulare. Das ist doch typisch deutsch und ein Teil unserer Kultur und Identität ;-)“
Wenigstens eine deutschlandweite Standardisierung sollte möglich sein, meinte Jan Will: "Und wenn Formulierungen beispielsweise juristisch formuliert werden müssen, dann muss eben eine verständliche "Übersetzung" ergänzt werden." Er forderte automatisierte Online-Interviews für schrittweise Abfragen mit Hinweisen auf Unvollständiges. Für DonnaH hilft das Internet: "Wenn man feststellt, dass man alles in Behördenschreiben googlen kann, wird das Leben deutlich einfacher. Man ist quasi nie der/die erste, der eine Formulierung erhält, und auch unbekannte Begriffe sind kein Hexenwerk." Alle finden es unverständlich ohne Hilfe? Nicht alle – ein tapferer User widersteht dem Unmut: "Ich finde diese Schreiben meistens trotzdem verständlich. Man muss sich auf die umständlichen Formulierungen einlassen. Allerdings stehe ich mit dieser Meinung auch in der Familie alleine da..." (MalNachdenken)
MDR (dst)
Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN | MDR Exakt | 03. Juli 2024 | 20:45 Uhr
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