Zweiradtraining Nach tödlichen Unfällen: Was Motorradfahrer in Thüringen dagegen tun
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30. August 2024, 05:00 Uhr
Der August 2024 war ein bitterer Monat für Motorradfahrer in Thüringen. Sechs tödliche Motorradunfälle gab es innerhalb von vier Wochen. Dazu noch einige Unfälle mit Schwerverletzten, darunter ein elfjähriges Kind. Ein Besuch beim ADAC-Motorradtraining in Nohra zeigt, wie Fahrer lernen, in kritischen Situationen cool zu bleiben und lebensrettende Fähigkeiten zu trainieren.
Neun Biker und ein selbsternannter Erklär-Bär sitzen in einem klimatisierten Container auf dem ADAC-Gelände in Nohra unweit von Weimar. Sie kühlen sich ab an diesem warmen Sommertag, trinken etwas, werten die letzte Übung aus und besprechen, was als nächstes ansteht. Gleich gehen die Fahrübungen weiter.
45 Prozent der Motorradunfälle passieren in der Kurve
Die neun Motorradfahrer kommen überwiegend aus Südthüringen, viele sind Arbeitskollegen. Ihre Firma hat ihnen das Training ermöglicht. Die Atmosphäre ist entspannt, was zu einem großen Teil an Trainer Frank Palmen liegt. Er ist eine rheinische Frohnatur und seit 30 Jahren Fahrtrainer. Auf seiner schwarz-roten Leder-Kombi hat er sich den Schriftzug Erklär-Bär einsticken lassen. Gerade erklärt er, dass 45 Prozent der Motorradunfälle in Kurven passieren, "alleinbeteiligt", wie es im Polizeijargon immer heißt. Das bedeutet, dass kein anderer Verkehrsteilnehmer schuld ist, nur der Fahrer selbst.
Langsam fahren: Du musst es fühlen
Deshalb werden gleich Kurven geübt - aber im Schneckentempo. Was einfach klingt, ist tatsächlich schwer: "Langsam fahren ohne hinzufallen" will gelernt sein. Die Biker steigen auf ihre Motorräder und fahren in eine Art Kreisverkehr. Frank gibt seine Anweisungen per Funk durch, die Teilnehmer hören ihn über einen Knopf im Ohr.
Langsam fahren - das wollte auch Teilnehmer Johannes üben. Es scheint paradox, denn viele der Motorräder, die hier stehen, können sehr schnell fahren. Doch Johannes erklärt: "Langsam fahren macht vielleicht ein Prozent des Motorradfahrens aus. Wenn du nach Hause kommst und das Motorrad abstellst oder irgendwo am Café anhältst. Das trainiert man also kaum. Aber man muss es können. Du musst es fühlen. Es gibt so einen gewissen Bereich mit Gas, Kupplung und Bremse - wenn da alles stimmt, macht das Motorrad genau das, was du willst. Ist eins von den Dreien nicht stimmig, dann musst du nachjustieren. "
Es gibt einen gewissen Bereich mit Gas, Kupplung und Bremse - wenn da alles stimmt, macht das Motorrad genau das, was du willst.
Johannes ist kein Vielfahrer, doch er macht bei den Übungen eine gute Figur. Es ist nicht sein erstes Training, er ist zum vierten Mal dabei. Bei den Fragen zu Bremsweg und Reaktionszeiten rechnet er blitzschnell aus, was für andere eher eine Schätzung oder Gefühlssache bleibt. Er weiß, dass zu Hause vier Kinder darauf warten, dass ihr Papa gesund nach Hause kommt.
Kurvenfahren im Thüringer Wald
Seine Kollegin Claudia fährt schon ewig Motorrad, seit 1983. Doch als andere Dinge wichtiger wurden - zum Beispiel die Familie - machte sie eine Motorradpause. Vor fünf Jahren stieg sie wieder aufs Motorrad. "Als ich die Fahrerlaubnis gemacht habe, gab es keine Fahrsicherheitstrainings in dem Sinne." Sie hat auch schon mehrere Fahrsicherheitstrainings absolviert - heute geht es ihr besonders ums Kurvenfahren. "Allein der Vormittag hat sich schon für mich gelohnt", sagt sie. Sie fährt zum Beispiel mit dem Motorrad zur Arbeit. Zwölf Kilometer hin, zwölf zurück. Keine Weltreise, aber wenn man wie Claudia im Thüringer Wald wohnt, sollte man Kurven fahren können.
Erklär-Bär Frank rät: "Lächeln und atmen"
"Lächeln und atmen", rät Trainer Frank seinen Teilnehmern immer wieder über Funk. Es klingt lustig, hat aber einen ernsten Hintergrund. Wer lächelt und atmet, verkrampft nicht. Acht Stunden lang trainiert er heute seine Motorradgruppe. Er erzählt, macht vor, verbessert, lobt und gibt den Teilnehmern Sprüche mit, die auf T-Shirts stehen könnten: "Wo kein Grip, da kein Halt", "Du fährst mit 'Abstand' am besten" oder "ABS: Auch BMW-Fahrer stürzen".
Er geht auf die Unterschiede zwischen den Motorrädern ein und erklärt, dass der "Supersportler" von Gerry beim starken Bremsen dank Überschlag-Kennung hinten 30 Zentimeter hochgeht und dann genauso schnell wieder runterkommt und worauf die Fahrer achten müssen, deren Maschinen das nicht ab Werk verbaut haben. Er will, dass die Motorradfahrer am eigenen Leib "erfahren", dass Bremsen mit der Hinterradbremse ohne Gepäck und Sozius weniger bringt und länger dauert als mit der Vorderbremse.
Sechs tödliche Motorradunfälle in Thüringen
Wer hier mitmacht, macht schon viel richtig. Der übt Sachen, auf die er oder sie im besten Fall schnell zurückgreifen kann, wenn es brenzlig wird. Und das ist es in Thüringen in den vergangenen vier Wochen sehr oft geworden. Sechs tödliche Motorradunfälle gab es über ganz Thüringen verteilt allein im August. Dazu kommen weitere Unfälle mit Schwerverletzten.
Am 23. August stirbt ein 63 Jahre alter Motorradfahrer im Landkreis Hildburghausen, als er plötzlich auf das Straßenbankett gerät. Garry hat ein HBN-Kennzeichen und erklärt, dass er die Unfall-Strecke kennt. "Die Straße ist schmal. Sie lässt keinen Platz für Fehler."
Bei Magdala im Weimarer Land kommt Mitte August ein Motorradfahrer in einer Kurve von der Straße ab und prallt gegen einen Streukasten. Auch diese Fahrt endet tödlich. Kurz zuvor sterben im Kreis Gotha ein 55 Jahre alter Biker und seine gleichaltrige Mitfahrerin. Ein 30 Jahre alter Motorradfahrer in Südthüringen überlebt eine Ausfahrt am selben Wochenende nicht. Ein Bruchteil einer Sekunde - und alles kann vorbei sein.
Schlecht geschlafen: Motorrad stehen lassen
Die Teilnehmer des Kurses nehmen Notiz von diesen Nachrichten. Aber, so sagt es Claudia, die Angst dürfe nicht mitfahren. Der Kopf müsse frei sein. Sie habe letztens so einen Tag gehabt, schlecht geschlafen, "irgendwas war: Da habe ich das Motorrad stehen lassen."
Der Kopf muss frei sein fürs Motorradfahren.
Die Teilnehmer des Kurses haben ganz unterschiedlich viel Fahrerfahrung. Marco ist seit einem Jahr Motorradfahrer. Er weiß, dass es nichts bringt, auf seine Vorfahrt zu bestehen. Hätte er es an dem einen Tag gemacht, an den er sich jetzt gerade erinnert, säße er vielleicht nicht hier. Er sieht noch den Blick der Autofahrerin, die blinkt und abbiegt - aber nicht auf ihn achtet.
Mit 80 km/h über ein Auto
Martin fährt seit 45 Jahren. Er kennt diese Schreck-Momente und weiß, wie es ist, einen Motorradunfall zu haben: "Mit 80 km/h über ein Auto. Das tut weh. Aber ich hatte Glück! Ein paar Prellungen, nichts weiter. Aber in dem Moment, wo du fliegst, da gehen tausend Sachen durch den Kopf. Wenn ich Glück habe, lande ich zwischen den Bäumen", zum Beispiel. Im "Bruchteil einer Sekunde" kämen "enorm viele Gedanken."
Martin hat auch schon mehrere Trainings absolviert. "Es ist immer Luft nach oben", sagt er. Mit jedem Training habe er etwas dazugelernt und einen Tag mit coolen Leuten verbracht.
In dem Moment, wo du fliegst, da gehen tausend Sachen durch den Kopf.
Von der Straße abgedrängt
Eine davon ist Nadine. Sie hat ihren Führerschein mit über 40 gemacht. Heute fährt sie 8.000 bis 10.000 Kilometer Motorrad pro Saison. Diesen Sommer war sie in Italien, gerade kommt sie von der Ostsee zurück. Ob auch sie "diese" Momente kennt, wo es für Motorradfahrer eng werden kann?
"Oh ja", sagt sie. "Ein VW-Bus hat meinen Mann auf der Autobahn fast in die Leitplanke geschoben. Wir waren mit 130 km/h unterwegs. Das ist ja keine Geschwindigkeit. 20 Minuten später hat mich rechts fast einer touchiert", erinnert sie sich und beklagt die Ungeduld mancher Verkehrsteilnehmer.
Straße mit Rennstrecke verwechselt
Gerry, der mit der BMW RR beim Training ist und dessen Knieschleifer die ein oder andere Spur von Straßenkontakt in der Kurve zeigen, hat zwei andere Probleme ausgemacht: Senioren, die mit über 80 Jahren noch Motorrad fahren - und das "nicht auf der Straße, sondern teilweise auf der Gegenfahrbahn. Wenn sie dann noch meinen, sie müssten unbedingt auch am Wochenende raus, obwohl sie die ganze Woche Zeit haben" und das andere Extrem: Die Fahrer, die im "Tiefflug unterwegs sind", zum Beispiel bei Oberhof - damit meint er diejenigen, die eine Landstraße mit einer Rennstrecke verwechseln.
Das ärgert nicht nur Gerry, das ärgert auch Johannes: "Ich erinnere mich an einen Unfall, bei dem ein Biker in einer Kurve die Kontrolle verloren hat und in eine Moped-Gruppe gefahren ist. Der hat sechs Mopeds mitgenommen. Das ist schlimm. Das muss nicht sein. Wer gerne schnell fahren will, kann das in Oschersleben auf der Rennstrecke machen. Das macht mich wütend", erzählt er. "Diese Unvernunft."
Wer schnell fahren will, kann das in Oschersleben auf der Rennstrecke machen.
Nicht messen, nichts beweisen
Austoben auf der Rennstrecke statt im "Realverkehr" - dafür plädiert auch Roger Dötenbier. Er ist Trainerleiter und stellvertretender Leiter des Fahrsicherheitszentrums des ADAC in Thüringen. "Ich gehe zwei Mal im Jahr mit meinen Töchtern auf die Rennstrecke", erzählt er. "Die sollen sich dort austoben, damit sie das eben auf der Straße nicht machen müssen. Sie müssen sich nichts beweisen. Sie müssen anderen nichts beweisen. Und sie sind weit davon entfernt, sich mit anderen zu messen. Das ist das Wichtigste."
"Situationselastisch" bleiben
Mit Blick auf die vielen schlimmen Unfälle im August in Thüringen sagt Dötenbier, es seien nicht die typischen "Raser-Unfälle" gewesen. Aber bei allen sei eine Art von Fahrfehler passiert - ob nun beim entgegenkommenden oder abbiegenden Auto oder beim Biker selbst.
In Millisekunden kommen "nur noch Angst, Panik, Angst, Panik, Angst, Panik. Wenn Sie nicht genügend Zeit haben, alles zu lösen und im Realitätsmodus aufzutauchen, dann haben Sie verloren. " Üben, üben, üben - lautet sein Tipp. Erklär-Bär Frank nennt es "situationselastisch" bleiben und es hinkriegen, zu atmen. Lächeln klappt vielleicht nicht in jedem Fall. Aber atmen ist immer ein guter Tipp.
MDR (ifl)
Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Fazit | 29. August 2024 | 19:00 Uhr
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