
Niederroßla Denkt nicht an Ruhestand: Ärztin arbeitet auch mit 84 Jahren noch
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10. März 2025, 07:11 Uhr
Christl Giesemann könnte schon 20 Jahre in Rente sein. Doch die Ärztin aus Niederroßla bei Apolda zieht nach wie vor ihren Arztkittel an. Die Medizinerin praktiziert auch noch im hohen Alter. Damit schließt sie Versorgungslücken - insbesondere auf dem Land.
Eigentlich wollte Christl Giesemann Lehrerin werden. Auch über einen Beruf im Bankwesen oder im Außenhandel hat sie zum Ende ihrer Schulzeit nachgedacht. "Doch dann kam der plötzliche Entschluss und ich habe Medizin studiert und das obwohl keiner in meiner Familie einen derartigen Hintergrund hat. Ich habe es nie bereut. Es war wohl so etwas wie Eingebung."
Christl verließ ihre Heimatstadt Altenburg und ging nach Leipzig, um dort zu studieren. "Das war 1959 und es war so wie heute. Es gab keine Ärzte. Sie haben ausgebildet, was nur ging. Wir waren 1.000 Studenten im Jahrgang. Leipzig war darauf gar nicht ausgelegt. Da wurden manche Vorlesungen dreimal gelesen und wir saßen auf den Stufen, weil kein Platz war."
Ich habe Medizin studiert und das obwohl keiner in meiner Familie einen derartigen Hintergrund hat. Ich habe es nie bereut.
Irgendwann aber trennte sich Spreu von Weizen. Christl Giesemann schlug die Fachrichtung Allgemeinmedizin ein und kehrte für den praktischen Teil ihrer Ausbildung nach Altenburg zurück. "Nach einem Viertel- oder halben Jahr mussten wir schon Hausbesuche fahren und wurden praktisch in die Menge geworfen. Schon zu diesem Zeitpunkt habe ich Landarzt-Vertretungen gemacht und das hat mir damals schon gefallen."
Gemeinsam mit ihrem Mann hat Christl Giesemann nach ihrer Facharzt-Ausbildung und einem ersten Jahr Praxiserfahrung in Altenburgs Poliklinik eine neue Anstellung gesucht. "Damals war es nicht einfach, eine Wohnung zu finden und dann tat sich eine Chance in Niederroßla auf. Dort wurde in einer staatlichen Praxis auf dem Land ein Arzt gebraucht. Mein Mann ging zu Zeiss nach Jena und dann sind wir sind 1970 hier gelandet."
Eine von 300 Christl Giesemann ist eine von fast 300 Ärztinnen und Psychotherapeuten, die im Alter noch arbeiten. Seit 2020 ist die Zahl der Ärztinnen und Ärzte im Rentenalter um rund 30 gestiegen, wie aus Daten der Kassenärztlichen Vereinigung Thüringen hervorgeht. Vor allem bei Frauen gab es über die Jahre einen kontinuierlichen Anstieg.
Damals enges Verhältnis zwischen Ärztin und Patienten
Dr. Christl Giesemann war verantwortlich für ein ganzes Dorf. Auch im benachbarten Mattstedt hatte sie eine Zweigstelle ihrer Praxis. "Das Verhältnis Arzt zu Patient war damals viel näher. Man gehörte dazu. Man wurde eingeladen zu Festen und wenn geschlachtet wurde, da gab es Schlachtpakete und Eier kamen immer. Das war nicht schlecht." Christl Giesemann denkt gern an die Zeit zurück, in der die Arbeit familiärer und enger war.
Wie oft hat unser Telefon in der Nacht geklingelt oder die Leute standen einfach vor der Tür.
"Ich habe Kinder aufwachsen sehen und ganze Familien betreut - bis hin zur Uroma. Man kannte ganze Generationen und war mit einbezogen in die Familienverhältnisse." Allerdings bedeutete diese Nähe auch ständige Erreichbarkeit. "Es gab zwar einen Notdienst im nahen gelegenen Apolda, aber wie oft hat unser Telefon in der Nacht geklingelt oder die Leute standen einfach vor der Tür. Auch viele Hausbesuche gab es. Das gehörte einfach dazu."
Giesemann wollte Niederroßla treu bleiben
20 Jahre betrieb Dr. Giesemann ihre Praxis als Angestellte einer Poliklinik, bis die politische Wende und wenige Monate später auch die Kündigung kam. Familie Giesemann stand 1990 vor einer Entscheidung - investieren oder den Ort verlassen. Die Familie wollte bleiben. "Wir haben Kredite aufgenommen, haben in die Praxis und Technik investiert und ich habe mich als niedergelassene Ärztin selbstständig gemacht."
Ich wollte schon, dass sie weniger macht. Aber intensiv nach einem Nachfolger haben wir nicht Ausschau gehalten.
Die Giesemanns haben im Ort ein Haus gebaut, in das die Praxis 1999 umgezogen ist. Parallel hat Christl Giesemann Sprechstunden im Carolinenheim in Apolda gehalten und dort die Senioren medizinisch betreut. Auch Notdienste im Krankenhaus gehörten dazu. So arbeitete die Ärztin bis 2014.
Praxis nach 44 Jahren verkauft
Ihr Mann, der inzwischen selbst in der Arztpraxis angestellt war und bei technischen Dingen aushalf, begann zu drängeln. "Ich wollte schon, dass sie weniger macht. Aber intensiv nach einem Nachfolger haben wir nicht Ausschau gehalten. Allerdings kam dann doch jemand auf uns zu", berichtet Ehemann Peter Giesemann.
Nach 44 Jahren in Niederroßla verkaufte Christl Giesemann ihre Praxis. Ein neuer Arzt zog ein. "Ich habe den Verkauf auch ein bisschen bereut. Ich hätte gern noch weitergemacht, auch wenn ich da schon 74 Jahre war."
Vertretung in anderen Arztpraxen
Von einem Tag auf den anderen aufhören kam also nicht infrage. "Deshalb habe ich Kollegen Vertretungen angeboten und die haben gern angenommen." Nur zwei Monate hat die Ärztin pausiert und dann kam schon die erste Praxisvertretung. "Hinter Stadtroda war ich ein paar Monate im Einsatz und dann auch hier in der Region."
Arbeit beim Notdienst
Bis heute ist die 84-Jährige als Ärztin aktiv. Sie übernimmt Notdienste für die Kassenärztliche Vereinigung im Krankenhaus, arbeitet feiertags und an den Wochenenden. "Diese Tage sind bei jungen Menschen mit Familien nicht so beliebt."
Mein Beruf ist und bleibt meine Leidenschaft. Außerdem - was würden die denn ohne uns Ältere machen?
Montags ist sie bei einer Kollegin angestellt und hilft dort aus. "Das stellt mich vor völlig neue Herausforderungen. Dort sind viele ausländische Patienten und wir verständigen uns oft nur über das Handy." Auch beim Gesundheitsamt hat Christl Giesemann gearbeitet und dort unter anderem Kindergarten- und Schuluntersuchungen mitgemacht.
Giesemann denkt nicht ans Aufhören
Die Seniorin, die sich eigentlich längst zur Ruhe setzen könnte, denkt gar nicht daran aufzuhören. "Ich bin fit genug und liebe den Kontakt zu Leuten. Auch wenn sich das Verhältnis Arzt-Patient sehr verändert hat. Mein Beruf ist und bleibt meine Leidenschaft. Außerdem - was würden die denn ohne uns Ältere machen?" Tatsächlich braucht es Menschen wie Christl Giesemann, um Versorgunglücken zu füllen und Mediziner-Kollegen zu entlasten.
Es ist kein Ende gesetzt.
"Es ist ganz unterschiedlich. Hier bei uns in der Region sieht es gut mit Ärzten aus, aber manche Gegenden sind doch total unterversorgt. Was ich aber festgestellt habe: Die Einstellung der Ärzte ist eine andere geworden", sagt Giesemann. "Die jungen Kollegen drängen oft auf einen pünktlichen Feierabend, nehmen nur bestimmte oder eine begrenzte Anzahl von Patienten an oder lehnen Hausbesuche ab. Und nicht nur das. Auch die Patienten selbst haben sich verändert. Einige sind sehr fordernd und haben große Ansprüche. Das macht die Versorgung insgesamt sehr viel schwieriger."
"Wenn man nicht dahintersteht, sollte man es lassen"
Von einer Landarzt-Prämie, wie es sie seit einige Zeit für Berufsanfänger gibt, hält Dr. Giesemann dennoch nichts. "Ich finde es nicht gut, Ärzte mit Geld-Versprechen aufs Land zu locken. Man muss das wollen. Wenn man nicht dahintersteht, sollte man es lassen."
Wie lange sie noch praktizieren will? "Es ist kein Ende gesetzt." Die 84-Jährige möchte noch lange im weißen Kittel vor Patienten stehen.
MDR (anh)
Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Der Nachmittag | 09. März 2025 | 13:16 Uhr
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