Fakt ist! aus Erfurt Kirche im Osten: Ort des Austauschs einer gespaltenen Gesellschaft?
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21. November 2023, 10:59 Uhr
In kaum einer Region weltweit sind Glaube und Religion so weit aus der Gesellschaft verbannt wie im Osten Deutschlands. Um die Ursachen für den Mitgliederschwund, die Bedeutung der Kirchen, aber auch um Lösungen ging es am Montag bei Fakt ist! aus Erfurt.
Für das Leben christlicher Werte brauche es die Institution Kirche nicht. Und überhaupt, die Kirche habe an Bedeutung verloren.
Die Nähe von Staat und Kirche sei auch so ein Problem - Hunderte Millionen an Steuergeldern flössen jährlich zusätzlich zur Kirchensteuer an die großen Kirchen.
Außerdem vermittelten die Gemeinden kaum noch christliche Werte. Die Predigten seien allzu oft politisch - und dann nur in eine Richtung.
Mit Kritik sparten die Zuschauerinnen und Zuschauer bei Fakt ist! am Montagabend nicht. Die Moderatoren Andreas Menzel und Lars Sänger sprachen mit den Gästen über den Bedeutungsverlust der Kirche in Ostdeutschland und überhaupt in der Gesellschaft. In der Runde standen der Pfarrer Justus Geilhufe aus dem sächsischen Großschirma, Anja Siegesmund, Präsidentin des Evangelischen Kirchentags 2025, und der Soziologe Hartmut Rosa von der Uni Jena und Chef des Max-Weber-Kollegs Erfurt.
Mitgliederschwund in beiden Kirchen
Seit Jahren verlieren die beiden großen Kirchen Anhänger. In Deutschland ist mittlerweile nicht einmal die Hälfte der Menschen dabei. In Ostdeutschland sind es noch deutlich weniger: 15 Prozent der Ostdeutschen waren 2022 in der evangelischen Kirche und weniger als fünf Prozent Teil der katholischen Kirche. In kaum einer Region weltweit spielt die Religion so eine geringe Rolle, attestierten einigen Studien dem Osten Deutschlands bereits in der Vergangenheit.
Die Ursachen dafür sind längst aufgearbeitet, kamen in der Sendung aber nochmals zur Sprache: Durch die Repression des DDR-Regimes gegen Christen und Religion allgemein traten besonders in den 1950er- und 1970er-Jahren viele Ostdeutsche aus der Kirche aus.
Und wer familiär ohne christliche und kirchliche Erziehung aufgewachsen ist, wird später eher nicht den Weg zum Glauben finden. Wie Anja Siegesmund sagte, sei aber gerade diese Prägung in der Jugend essenziell. Und Soziologe Rosa ergänzte: Über zwei oder drei Generationen schleife sich die christliche Sozialisation ab.
Die Kirche als Resonanzraum 1989
Für einen kurzen Augenblick, während der Friedlichen Revolution von 1989, strömten die Menschen plötzlich in die Kirchen. "Da ging es um Mut und Zuversicht", sagte Siegesmund. "Damals war Kirche die feste Burg, die man gebraucht hat, um zu sehen, wir kommen in gute Zeiten." In den 90-Jahren bis heute sei davon nicht viel übriggeblieben. Siegesmund zufolge ist zu klären, ob es die Kirche schafft, in der Ansprache an die Menschen und an die Jugendlichen das zu senden, was sie brauchten. "Ich würde sagen, das ist nicht gelungen."
Mehrheit hält Kirche für unbedeutend
Eine aktuelle Befragung von MDRfragt unter 23.000 Menschen in Mitteldeutschland bestätigt diese Einschätzung. Eine klare Mehrheit bezeichnet die Bedeutung christlicher Werte oder der Kirche für die Gesellschaft als gering. Dass Kirchenaustritte für die Gesellschaft problematisch sind, sehen fast zwei Drittel nicht so. Und eine deutliche Mehrheit glaubt, dass die Bedeutung der Kirche zukünftig nicht größer, sondern noch kleiner wird.
Rosa zufolge bot die Kirche 1989 einen Schutzraum, in dem sich die Menschen zuhörten und ins Gespräch kamen. Nach der Wende hätten sie dann anderswo diesen Raum gefunden - die Bedeutung der Kirche ging zurück. Doch mit Blick auf heute und den Raum, den die Kirche bieten kann, schob Rosa nach: "Vielleicht brauchen wir das jetzt wieder."
Sinkende Zahlen und Umfragen lassen Justus Geilhufe, den Pfarrer in der Runde, nach eigener Aussage kalt. Der 33-Jährige hat die DDR nicht miterlebt, kenne also nur die heutige atheistische Gesellschaft. "Die Taufen werten Austritte mehr als auf", sagte er in der Sendung. Sein Glaube gebe ihm Optimismus. Sein Dienst als Gemeindepfarrer sei nicht nur für gläubige Menschen gedacht, sondern für alle Einwohner der Region.
Pfarrer mit düsterer Prognose auch für Westdeutschland
Auch auf den Befund, christliche und kirchliche Werte gehen in ihrer Bedeutung zurück, gibt er nichts. Entgegen dieser Stimmung schickten Eltern ihre Kinder dann doch in evangelische oder katholische Kindergärten oder Schulen, da sie wüssten, dass dort Grundwerte vermittelt werden, sagte Geilhufe. Er ist überzeugt: Bindung und Mitgliederzahl der westdeutschen Gesellschaft erreichen früher oder später ostdeutsches Niveau. "Die Westkirchen können deshalb von den Ostkirchen lernen."
Brauchen wir die Kirche noch?
Und von noch etwas ist Geilhufe überzeugt: In einer Zeit, in der Menschen sich nicht mehr begegnen und offenbar nicht mehr einander zuhören, brauche es die Kirche. Heutiges Problem in Ostdeutschland sei, dass jeder glaube, die absolute Wahrheit zu kennen, sagte Geilhufe. Ein Christ glaube dagegen, die Wahrheit nur ein Stück weit zu kennen und brauche deshalb den anderen. Aber es benötige eben auch die Institution, sagte er. Oftmals sei das Kirchengebäude noch der einzige Ort, wo sich Menschen im Dort begegnen und reden. "Und darauf kommt es an."
Doch welche Rezepte gibt es, Menschen für christliche Werte oder die Kirche an sich zu gewinnen? "Wir müssen zu den Menschen hin", ist Geilhufe überzeugt. Gib niemanden verloren, sei das, was die Menschen von der Kirche erwarten könnten.
Mit dem 25-jährigen Robin Wagner aus dem Saalfelder Ortsteil Graba saß ein junger Mann im Publikum, der sich in der Kirche engagiert. Er setzt in seiner Gemeinde beispielsweise auf historische Führungen, um Spiritualität zu erfahren, wie er sagte. Und laut Erfurts ehemaligem Oberbürgermeister Manfred Ruge (CDU) - ebenfalls Gast im Publikum - müsste die Kirche viel mehr auf Laien, also auf Angehörige setzen, die keinem geistlichen Amt angehören.
Orientierung in Krisenzeiten
Für die Präsidentin des kommenden Evangelischen Kirchentags geht es gerade in Zeiten von Kriegen und sozialen Spannungen darum, Orientierung zu geben. Mitgliederzahlen sagen Anja Siegesmund zufolge nicht unbedingt etwas über das Verhältnis zu Gott aus.
Es gehe um die Frage, wie Menschen die Werte der Kirche - Streben nach Freiheit, Gerechtigkeit, Nächstenliebe, Barmherzigkeit - praktizieren. Nur weil sich jemand nur einmal im Jahr in der Kirche blicken lasse, sei er kein besserer oder schlechterer Christ. "Es geht darum, Gemeinschaft zu erzeugen. Das muss nicht unbedingt sonntags um 10 Uhr im Gottesdienst sein."
"Wo Kirche eine wichtige Rolle spielen kann, ist in der Art, wie wir miteinander in einer Konfliktsituation umgehen", sagte der Soziologe Rosa. Hören und Antworten sei eine Grundform, die man in religiösen Praktiken lernen kann. Wir sollten uns ihm zufolge fragen, ob religiöse Kultur etwas schaffen kann, das Menschen dazu bringt, um auf bestimmte Weise miteinander umzugehen und dadurch Freiheitsräume und Menschenwürde zu ermöglichen. "Ich glaube, das brauchen wir heute mehr denn je."
MDR (sar)
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Fakt ist! aus Erfurt | 20. November 2023 | 22:10 Uhr
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