Mehrere Kruzifix verblassen.
Nur noch jeder fünfte Ostdeutsche ist Kirchenmitglied. Aber: Die Kirchenaustritte in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sind gebremst. Bildrechte: MDR/MDR Data

Reformationstag Glaube und Religion: Wie es um die Kirche in Mitteldeutschland steht

31. Oktober 2023, 07:57 Uhr

In Ostdeutschland sind historisch bedingt weniger Menschen religiös. Auch im europäischen Vergleich spielt Religion eine besonders kleine Rolle. In Sachsen-Anhalt wird Religion sogar europaweit die geringste persönliche Bedeutung zugemessen. Hinzu kommt, dass viele Menschen aus den Kirchen ausgetreten sind. Die Kirchen wollen deshalb moderner werden.

Weniger als 15 Prozent der Ostdeutschen sind im Jahr 2022 noch Mitglied in der evangelischen Kirche. Weniger als fünf Prozent sind Teil der katholischen Kirche. Das geht aus den Zahlen der Evangelischen Kirche Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz hervor. Damit liegen die ostdeutschen Bundesländer weiterhin deutlich unter dem bundesweiten Durchschnitt. Bundesweit sind knapp 22,7 Prozent der Menschen Mitglieder der evangelischen Kirche, 24,8 Prozent sind Teil der katholischen Kirche.

Die Zahl der ostdeutschen Kirchenmitglieder hat über die Jahre immer weiter abgenommen. Inzwischen treten aber weniger Menschen aus den Kirchen aus. Der Religionssoziologe Gert Pickel forscht an der Universität Leipzig zu Religion und Gesellschaft. Er erwartet, dass die Mitgliederzahlen in den nächsten fünf Jahren auf einem ähnlichen Niveau bleiben: "Es wird voraussichtlich so eine Art Basislinie geben. Wo genau die liegt, wissen wir nicht, aber in Ostdeutschland könnte sie gerade zum ersten Mal sichtbar werden."

Dass die Kirchenflucht gestoppt ist, erkennt auch Christian Fuhrmann, Oberkirchenrat der der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM): "Wir können beobachten, dass es inzwischen einen verhältnismäßig stabilen Personenkreis gibt, der mit der Kirche stark verbunden ist." Dieser sei allerdings viel geringer als in Westdeutschland.

Ostdeutsche Bundesländer spiegeln europäische Entwicklung

Der große Unterschied der Religiosität in den ost- und westdeutschen Bundesländern hat einen historischen Hintergrund. Durch die kritische Haltung der sozialistischen DDR-Regierung gegenüber Religion traten in den 1950er- und 1970er-Jahren besonders viele Ostdeutsche aus der Kirche aus, um Nachteile aufgrund ihres Glaubens zu vermeiden. Jüngere Generationen sind seitdem häufig ohne einen Bezug zur Religion aufgewachsen. Die Kirchenbindung ist dadurch auch nach der Wende gering geblieben.

Die Forschungsprojekte European Value Study und World Value Survey erheben seit Jahren weltweit unter anderem die Ansichten der Menschen zur Religion. Zwischen 2017 und 2022 wurden Menschen in Europa nach der Bedeutung von Religion für ihr Leben befragt. Dabei zeigte sich, dass in kaum einer anderen Region Europas die persönliche Bedeutung von Religion so gering eingeschätzt wird wie in Ostdeutschland.

Die britische Zeitung "The Guardian" bezeichnete Ostdeutschland 2012 sogar als den "gottlostesten Ort der Welt". Die Zeitung berief sich dabei auf die länderübergreifende Studie "Beliefs about God across Time and Countries". Dass immer mehr Menschen ihren Glauben ablegen, ist aufgrund der ostdeutschen Geschichte hierzulande schneller passiert. Westdeutschland und andere Regionen in Europa holen diese Entwicklung nach. Das ergibt die Forschung von Gert Pickel von der Universität Leipzig. Tschechien dürfte Ostdeutschland inzwischen als die am wenigsten religiöse Region Europas abgelöst haben, so Pickel. 

"Zwar ist Kirchenbindung und Religiosität in Ostdeutschland sehr niedrig, aber Estland ist inzwischen ungefähr auf gleichem Niveau, die Niederlande sind nicht mehr weit weg", sagt Pickel.

Wie Kirchen alternativ nutzbar werden

Der Kirchenvertreter Christian Fuhrmann möchte die Menschen wieder zurückgewinnen. Es werde zukünftig darauf ankommen, den Menschen besser deutlich zu machen, welche Bedeutung die Kirche für das Leben des Einzelnen habe, sagt er. Ostdeutsche würden häufig aus der Kirche austreten, weil sie in ihrem Leben eine zu geringe Rolle spiele. "Die Leute fragen sich irgendwann, warum sie nochmal die Kirchensteuer zahlen und treten häufig im jungen Erwachsenenalter aus", sagt Fuhrmann.

Sinkende Mitgliederzahlen bedeutet auch weniger Geld für die Kirchen. Die Kirche müsse ihre Aufgaben überdenken, sagt Fuhrmann: "Wir müssen uns daran ausrichten, was nötig ist, damit die Menschen wieder sehen, was die Kirche leisten kann". Gewohnheiten zu hinterfragen, sei dabei schmerzhaft.

Dazu zählen auch ungenutzte Kirchen. Die Mitteldeutsche Kirche habe die meisten denkmalgeschützten Kirchen des Bundes, sagt Fuhrmann. "Der Erhalt der häufig historisch sehr wertvollen Kirchen liegt im Interesse der Anwohner, ob Kirchenmitglied oder nicht".

Kirchen sollen auch für Nichtchristen offen sein

Er möchte deshalb die Kirchen für nichtchristliche Menschen öffnen. In Dörfern müssten die Kirchen auch von der Gemeinde genutzt werden können. In Thüringen gibt es bereits sogenannte Herbergskirchen. Im Sommer können Durchreisende im Kirchenschiff übernachten. In einigen Kirchen gebe es unter den Emporen inzwischen Wärmeräume und Toiletten, sagt Fuhrmann. Diese sollten seiner Meinung nach im Winter geöffnet werden.

Ich bin dafür, dass wir Kirchen auch wirklich mal ein bisschen flippig umnutzen.

Christian Fuhrmann, Oberkirchenrat der Mitteldeutschen Kirche

Auch die Einrichtung findet er nicht immer zeitgemäß. Kirchenbänke seien "Kommunikationstöter". Dass vorne einer spricht und alle anderen zuhören, passe nicht mehr in die moderne Zeit, sagt der Kirchenvertreter. "Ich bin dafür, dass wir Kirchen auch wirklich mal ein bisschen flippig nutzen. Zum Beispiel kann ich mir vorstellen, dass man in der Kirche tanzt." Einige Kolleginnen habe die Idee gehabt, einen Raum als Schwimmbad für die Region umzufunktionieren. Der Denkmalschutz stehe aber oft im Weg, sagt er.

Für Fuhrmann haben Kirchen außerdem eine demokratische Funktion. "Was Kirchen tun können, ist, Gespräche anzuregen, Positionen zur Diskussion zu stellen, offen zu sein und zum Gespräch einzuladen". Wichtig sei ein vorurteils- und rassismusfreier Diskurs. "Da hat Kirche einen Beitrag zu leisten, gerade heute und hier."

MDR (Gyde Hansen, Leonhard Eckwert, Julia Bartsch)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 30. Oktober 2023 | 17:00 Uhr

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