Vor Ministerpräsidentenwahl Wie will die Brombeer-Koalition in Thüringen ohne Mehrheit regieren?
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30. November 2024, 12:59 Uhr
Mitte Dezember will sich CDU-Chef Mario Voigt zum Ministerpräsidenten in Thüringen wählen lassen. Seine Brombeer-Koalition mit BSW und SPD hat aber keine Mehrheit im Landtag. Wie will sie überhaupt regieren?
Der Spieß hat sich gedreht. Nur zwei Wochen vor einer möglichen Krönung von CDU-Chef Mario Voigt zum Ministerpräsidenten steht die geschmiedete Brombeer-Koalition mit BSW und SPD ohne eigene Mehrheit da. Während Voigts CDU in den vergangenen Jahren Mehrheitsbeschaffer für die rot-rot-grüne Minderheitsregierung war, kommt seine Koalition jetzt selbst nur auf 44 von 88 Stimmen im Landtag.
Wie soll das alles klappen?
Teil Eins: Die Ministerpräsidentenwahl
Die Ausgangslage ist so klar wie ungewiss. Beim Termin der Wahl geht es schon los: Eigentlich würde die CDU Mario Voigt gerne in der Landtagssitzung vom 11. bis 13. Dezember zum Ministerpräsidenten wählen lassen.
Erste Herausforderung jedoch: BSW und SPD wollen die Zustimmung ihrer Parteien zum Koalitionsvertrag abwarten. Beim BSW entscheidet am 7. Dezember ein Parteitag - wie geschlossen der Landesverband nach dem Machtkampf zwischen Sahra Wagenknecht und Katja Wolf steht, ist absolut unklar.
Bei der SPD läuft bis zum 9. Dezember eine Mitgliederbefragung. Da die Einladung zur Landtagssitzung aber schon früher fertig sein muss, plädiert beispielsweise die SPD für ein Sonderplenum. Dafür gibt es kürzere Fristen und der Landtag könnte sich bereits am Donnerstag, 12. Dezember, mit der Ministerpräsidentenwahl befassen. Wie Andreas Bühl, parlamentarischer Geschäftsführer der CDU, dem MDR sagte, ist auch denkbar, das Plenum nach hinten zu schieben und erst nach der Wahl damit zu beginnen.
Szenarien wie ein Blumenstrauß
Die größte Herausforderung wird für Voigt aber, bei der Wahl überhaupt die Mehrheit zu bekommen. In Erinnerung an die Kemmerich-Wahl und das politische Erdbeben im Nachgang werden in allen Fraktionen gerade die unterschiedlichsten Szenarien durchgespielt.
Klar ist: Wer in den ersten beiden Wahlgängen die absolute Mehrheit (sprich mehr als 44) bekommt, wird neuer Regierungschef. Möglich ist auf jeden Fall, dass Mario Voigt im ersten und zweiten Wahlgang nicht nur die Stimmen der Brombeere, sondern auch Stimmen von Linke oder AfD erhält und damit gewählt ist. Momentan gehen viele aber von einem dritten Wahlgang aus, auch die CDU selbst. Zumal die Linke nicht ohne Zugeständnisse zur Mehrheitsbeschafferin werden will.
Folgende Szenarien drehen sich um den dritten Wahlgang, in dem laut Verfassung gewählt ist, wer "die meisten" Stimmen hat. Für den auch die Linke nicht ausschließt, eine eigene Kandidatin oder einen eigenen Kandidaten aufzustellen. Und für den sich die AfD eh "alle Optionen offenhält".
Szenario eins: Mario Voigt erhält im dritten Wahlgang 44 Ja-Stimmen (Brombeere), er bekommt aber auch 44 Nein-Stimmen (Linke und AfD). AfD und Linke stellen eigene Kandidaten auf. Hat Voigt mehr Ja-Stimmen als die anderen Kandidaten, so ist er verfassungskonform gewählt. So schildern es auch die Juristen des Thüringer Landtags auf MDR-Anfrage.
Sowas denken wir mit.
Szenario zwei: Voigt erhält 44 Ja-Stimmen im dritten Wahlgang. Die Linke (und vielleicht auch die AfD) stellen eigene Kandidaten auf. Die AfD wählt aber - aus reinem Zerstörungswillen heraus - den Linke-Kandidaten. Dann hätten zwei Kandidaten dasselbe Stimmergebnis. "Sowas denken wir mit, auch falls wir auf einmal 45 Stimmen hätten", sagt Christian Schaft. "In dem hypothetischen Fall wären alle unsere Abgeordneten in der Lage - anders als Herr Kemmerich damals - in so einer Situation Nein zu sagen."
Würde ein Gegenkandidat theoretisch genauso viele Ja-Stimmen wie Voigt auf sich vereinen, müsste der Wahlvorgang so lange wiederholt werden, bis ein Kandidat mehr als der andere auf sich vereint.
Szenario drei: Mario Voigt erhält im dritten Wahlgang 44 Ja- und 44 Nein-Stimmen. Es gibt keinen Gegenkandidaten. Zu dieser Situation gibt es in der Rechtslehre zwei unterschiedliche Auffassungen. Folgt man der einen, sind nur die Ja-Stimmen ausschlaggebend. Bei einem einzigen Kandidaten würde also schon eine Ja-Stimme reichen. Die andere Auffassung lautet, ein Kandidat muss mehr Ja- als Nein-Stimmen haben. Linke-Chef Bodo Ramelow unterstützt die erste Auffassung, die bislang auch als Mehrheitsmeinung unter Juristen galt: "Der dritte Wahlgang ist genau so, dass Mario Voigt dann gewählt ist."
Wenn der Landtagspräsident die Wahl Voigts feststellt, könnte eine Fraktion - beispielsweise die AfD - eine Überprüfung vor dem Weimarer Verfassungsgericht anstreben. Die Folge könnte eine Hängepartie in der Thüringer Politik bedeuten.
Szenario vier: Der CDU-Chef erhält im dritten Wahlgang 44 Ja-Stimmen seiner Brombeere. Die Linke enthält sich, indem sie bei der Wahl aus dem Saal geht oder leere Wahlzettel abgibt. Voigt hätte definitiv mehr Ja- als Nein-Stimmen und wäre MP.
Szenario fünf: Auch hier kommt es zu einem dritten Wahlgang. Die Linke stellt keinen eigenen Kandidaten auf und wählt jetzt Mario Voigt, nachdem sie in den ersten zwei Wahlgängen darauf verzichtet hatte. Um auf Nummer sicher zu gehen, dass sich ein Debakel wie 2020 nicht wiederholt.
Szenario sechs: Das BSW stimmt dem Koalitionsvertrag nicht zu und stellt bei einer MP-Wahl mit Katja Wolf eine eigene Kandidatin auf. "Dann wird es schon spannender", sagt der Erfurter Politikwissenschaftler André Brodocz dazu. "Wenn sich alle Stimmen sehr fein aufteilen, könnte in einem solchen Szenario - allein mit den Stimmen der AfD - am Ende vielleicht Björn Höcke gewählt sein."
Teil Zwei: Warum die CDU es nicht einfacher will
Die Brombeere könnte viele Unsicherheiten ausräumen: Seit Monaten wird die Linke nicht müde zu betonen, dass man einer Vereinbarung über eine Zusammenarbeit gegenüber offensteht. CDU-Fraktionschef Bühl kündigte zwar an, dass CDU-Chef Voigt vor der Wahl mit der Linke sprechen will "und mit ihnen Gespräche führt und auf Lösungssuche" geht.
Die Linke aber will verbindliche Absprachen mit der gesamten Brombeere - auch mit Blick auf Gesetzesvorhaben, wie Fraktionschef Christian Schaft dem MDR zuletzt sagte. "Um wechselnde Mehrheiten mit der AfD auszuschließen", brauche es das auch "auf Papier". Bislang, so Schaft, gab es keine Einladung zum Gespräch mit der gesamten Brombeere.
Warum sich die Brombeere nicht rührt? BSW- und SPD-Vertreter möchten darauf angesprochen am liebsten keine großen Worte verlieren. "Diese Grundsatzfrage müssen Sie der CDU stellen", sagt die Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD, Janine Merz. Bei Tilo Kummer vom BSW klingt das ähnlich: "Vielleicht sollten sie das eine andere Fraktion fragen."
Dass wir miteinander reden müssen, steht völlig außer Frage.
Leitet man die Frage weiter an Andreas Bühl, sagt der: "Dass wir miteinander reden müssen, steht völlig außer Frage." Aber eben nicht mit einer schriftlichen Vereinbarung, "denn da sehe ich keine Notwendigkeit". Wichtig sei, dass nicht der Eindruck einer "Abwehrkoalition" entsteht - "ergänzt durch die Linke gegen die AfD".
Teil Drei: Zauberwort "Konsultationsverfahren"
Um trotzdem in Zukunft irgendwie Mehrheiten mit der Linke finden zu können, war die Brombeere deshalb kreativ. Sie hat das Konsultationsverfahren erfunden:
Wir zielen darauf ab, dass wir die Linke frühzeitig einbinden.
Bei Gesetzen will sie in Zukunft die anderen Fraktionen vorher über die Eckpunkte informieren und deren Meinungen einholen. Um Änderungswünsche schon vor der ersten Beratung im Landtag anbringen zu können, erklärt Janine Merz von der SPD. "Wir zielen darauf ab, dass wir die Linke frühzeitig einbinden, ohne dass man das aus CDU-Sicht jetzt schon so als Zusammenarbeit sehen müsste."
Details des Verfahrens noch unklar
Andreas Bühl von der CDU drückt das ein bisschen anders aus: "Alle Fraktionen können Rückmeldung geben." Er sei gespannt, ob sich die AfD "konstruktiv" daran beteiligt. Generell, so sagt es Bühl, soll es zwei Varianten geben: Die Fraktionen könnten dann entweder zu relativ konkreten Gesetzesentwürfen der Regierung oder zu Referentenentwürfen in früheren Stadien Stellung beziehen.
Brombeer-Vertretern zufolge soll das neue Verfahren in der Geschäftsordnung des Landtags definiert werden - noch wird an den Details gearbeitet. Unklar ist auch noch, ob sich Vertreter der Fraktionen direkt absprechen werden. Klar ist für Tilo Kummer vom BSW nur: "Die Regierung will für sich damit klären: Ergibt es Sinn, in den Gesetzgebungsprozess einzusteigen?"
Wer genau in den Koalitionsverhandlungen die zündende Idee für diese Verfahren hatte, will man nicht so genau sagen. Die rechtliche Grundlage finde sich auf jeden Fall in der Verfassung, heißt es bei der SPD, mit Verweis auf den sehr allgemeinen Satz: "Die Landesregierung unterrichtet den Landtag rechtzeitig" (Artikel 67, Absatz vier).
André Brodocz von der Uni Erfurt findet das Verfahren "grundsätzlich eine gute Idee" und besser als Hinterzimmer-Absprachen. Spannend sei auf Dauer zu beobachten, ob die Brombeere daran nicht zerbricht - wenn immer wieder Interessen eines Koalitionspartners "abgeschliffen" würden: "Wenn sich das auf Dauer für einen Partner wiederholt, dass er sich als Opfer sieht, um Zustimmungen oder Enthaltungen auf Seiten der Linken zu generieren."
Linke: Brombeere hat keine De-facto-Mehrheit
Die Linke, an die das Konsultationsverfahren also praktisch adressiert ist, will aktuell nicht viel davon wissen. Das Konsultationsverfahren könne zwar ein richtiger Rahmen sein, um eine Zusammenarbeit bei Gesetzen zu besprechen. Christian Schaft beruft sich aber auch hier wieder auf eine gemeinsame Vereinbarung: "Man muss es festschreiben. Ich bin ein Freund von Verbindlichkeit statt Zusagen auf dem Flur."
Es könne auch durchaus vorkommen, dass die Linke genau wie die AfD gegen ein Gesetz der Brombeere stimmt. Zwar "immer aus anderen Gründen", aber "wir werden unser Abstimmungsverhalten nicht von der AfD abhängig machen." Aus Sicht der Linke haben CDU, BSW und SPD daher auch keine De-facto-Mehrheit.
Teil Vier: Endgegner AfD-Sperrminorität
Ein wichtiger Punkt fehlt noch: Was passiert, wenn die zukünftige, mögliche Brombeer-Regierung nicht nur einfache Mehrheiten braucht, sondern eine Zweidrittel-Mehrheit? Stichwort Sperrminorität der AfD. Wenn etwa die Verfassung geändert, oder auch der Landtag (in einer Regierungskrise) aufgelöst werden soll. Nichts ginge dann mehr ohne die Zustimmung (zumindest einzelner Abgeordneter) der AfD. "Das wird schwierig", sagt Andreas Bühl von der CDU. "Das wird uns herausfordern."
Bereits zur vergangenen Landtagssitzung Mitte November hatte die CDU deshalb eine Paketlösung - einen Deal - mit der AfD angestrebt: Die CDU wollte die Wahlausschüsse für Richter und Staatsanwälte wählen lassen und hätte im Gegenzug Jörg Prophet von der AfD zum Landtagsvizepräsidenten gewählt.
Das Vorhaben scheiterte am Druck der SPD - doch dieser Tauschhandel könnte es in den kommenden Jahren immer wieder geben. "Wir müssen uns nichts vormachen", so Andreas Bühl, "wir sind im politischen Geschäft. Da gibt es unterschiedliche Interessen und Motivlagen. Wir müssen das dann immer situativ und an der jeweiligen Stelle gemeinsam entscheiden und abwägen."
Grundsätzlich finden wir diese Paketlösungen gut.
Und die AfD? "Grundsätzlich finden wir diese Paketlösungen gut", hatte Jens Cotta aus der Fraktion Mitte November dem MDR gesagt. Und betont: "Wir haben nicht die Absicht, unsere Sperrminorität nur dafür einzusetzen zu stänkern. Im Gegenteil: Wir wollen ja sehr konstruktiv vorangehen."
Wie "konstruktiv" sich die AfD bei dieser Ministerpräsidentenwahl gibt, wird sich voraussichtlich am 12. Dezember zeigen. Und auch, wie alle anderen dann reagieren.
Warum eigentlich "Brombeer-Koalition?" Ende August schrieb der Parteienforscher Karl-Rudolf Korte einen Gastbeitrag in der "Zeit" und mutmaßte in der Überschrift: "Vielleicht wird's ja eine Brombeer-Koalition." Höchstwahrscheinlich war das die Geburtsstunde des Begriffs. Spätestens seit der Thüringer Landtagswahl am 1. September hat er sich als Bezeichnung für eine mögliche Regierung aus CDU, BSW und SPD etabliert. Die Farben der Parteien (Rot, Lila, Schwarz) zielen auf die Frucht in ihren unterschiedlichen Reifegraden ab.
Die drei angehenden Regierungsparteien in Thüringen haben ihren Koalitionsvertrag vorgestellt: Am kommenden Montag fragt Fakt ist! Aus Erfurt die Bürger, was sie von den Plänen halten. Ab 20:30 Uhr im Livestream:
MDR (dst)/mit Material der dpa
Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN | MDR THÜRINGEN JOURNAL | 30. November 2024 | 19:00 Uhr
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