Björn Höcke, Bodo Ramelow
Im Thüringer Landtag: Es geht nicht mit und nicht ohne die AfD Bildrechte: IMAGO / Funke Foto Services

Landtagswahl Analyse: Was die Sperrminorität der AfD für Thüringen bedeutet

03. September 2024, 17:47 Uhr

Bei der Landtagswahl 2024 haben die Wähler die rechtsextreme Höcke-AfD mit einer Macht ausgestattet, die ihr als Oppositionspartei große Möglichkeiten gibt, politischen Einfluss zu nehmen: die Sperrminorität. Mit ihr kann die AfD den Freistaat schon jetzt nah an den Rand der Unregierbarkeit treiben.

"Ich kann davor nur warnen. […] Jede Konstellation, an der die AfD nicht beteiligt ist, wird dem Land nicht guttun", sagt Thüringens AfD-Chef Björn Höcke am Wahlabend in der ARD. Es ist ein typischer Höcke-Satz, den er fast beiläufig im Interview fallen lässt, während er darüber spricht, dass die AfD erstmals stärkste Kraft in Thüringen geworden ist und nicht mehr länger ignoriert werden könne. Höcke hat Recht damit.

Nach der Landtagswahl 2024 gibt es keinen Weg an der rechtsextremen AfD mehr vorbei. Mit 32,8 Prozent der Stimmen beim vorläufigen Endergebnis hat sie ihr Wahlziel erreicht: ein Drittel aller Sitze - Sperrminorität. Ein Wort, das man sich merken sollte. Denn die politische Berichterstattung wird es in den kommenden fünf Jahren voraussichtlich noch sehr oft gebrauchen. Es heißt: Ohne die Stimmen der AfD können im Thüringer Landtag keine Entscheidungen von Verfassungsrang mehr getroffen werden. Es bedeutet: Die AfD kann Thüringen nah an den Rand zur Unregierbarkeit treiben. Aber eins nach dem anderen. Fragen wir uns zunächst:

Was kann die AfD mit der Sperrminorität blockieren?

Aus der Gesetzeslage in Thüringen ergeben sich sechs Blockade-Möglichkeiten. Mit der Sperrminorität kann die AfD verhindern, dass …

  1. die Öffentlichkeit aus dem Landtag ausgeschlossen werden kann (Art. 60, Abs. 2 der Thüringer Verfassung)
  2. sich der Landtag aus eigener Kraft auflöst (Art. 50, Abs. 2. Satz 1 der Thüringer Verfassung)
  3. der Landtagspräsident abgewählt wird (§2, Abs. 3 der Geschäftsordnung des Thüringer Landtages).
  4. Richter am Thüringer Verfassungsgericht eingesetzt werden (§3, Abs. 1 im Gesetz über den Thüringer Verfassungsgerichtshof)
  5. eine Parlamentarische Kontrollkommission eingesetzt wird (§25, Abs. 1 im Thüringer Verfassungsschutzgesetz)
  6. die Thüringer Verfassung geändert wird (Art. 83, Abs. 2. der Thüringer Verfassung).

Weil es in der Praxis des Thüringer Landtags bisher so gut wie nie vorgekommen ist, dass ein Antrag auf Ausschluss der Öffentlichkeit gestellt wurde, kann der erste Punkt vernachlässigt werden. Er sei hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Aber die fünf übrigen Blockade-Möglichkeiten haben es in sich, wenn man ihre politische Konsequenz bedenkt.

Wenn sich der Landtag nicht mehr auflösen kann

In Artikel 50 der Thüringer Verfassung ist geregelt, dass der Landtag unter zwei Umständen aufgelöst werden kann, was zwangsläufig Neuwahlen zur Folge hat. Es sind - wenn man so will - die beiden Exit-Strategien, die unsere Thüringer Verfassung für eine ausweglose politische Situation bereithält. Zum einen kann der Landtag beantragen, sich selbst aufzulösen. Dafür braucht es eine Zwei-Drittel-Mehrheit, die mit der Sperrminorität der AfD nicht mehr gegeben ist.

Zum anderen bleibt der gescheiterte Vertrauensantrag des Ministerpräsidenten. Stellen wir uns nur mal vor, Thüringen stolpert nach der Landtagswahl in eine neue Regierungskrise, weil sich ein Ministerpräsident wählen lässt, der wie Thomas Kemmerich 2020 keine Chance auf eine Regierungskoalition hat. Dann kann er zwar zurücktreten, bliebe aber formal im Amt. Der Landtag bliebe bestehen und Thüringen hätte einen handlungsunfähigen Ministerpräsidenten. Der Ausweg ist die Vertrauensfrage.

Die wiederum könnte die AfD für sich nutzen. Sie könnte dem handlungsunfähigen Ministerpräsidenten in geheimer Wahl geschlossen das Vertrauen aussprechen. Dann bräuchte es noch rund ein Dutzend weiterer Abgeordnete, die aus persönlichen, politischen oder finanziellen Gründen an ihrem Mandat hingen und die Auflösung wäre blockiert. Plötzlich würde die Zustimmung der AfD zur Auflösung des Landtags über das Parlament einen politischen Wert bekommen. All das sind zwar Konjunktive, aber im nächsten Abschnitt wird es schon handfester.

Verfassungskrise oder unabwählbarer AfD-Landtagspräsident möglich

Mit dem neuen Stimmenverhältnis im Thüringer Landtag wird die AfD auch das Amt des Landtagspräsidenten für sich beanspruchen und das Thüringer Parlament vor zwei schwierige* Optionen stellen. Das Vorschlagsrecht für den Landtagspräsidenten liegt nämlich laut Paragraf 2 der Geschäftsordnung des Thüringer Landtags (GOLT) bei der stärksten Fraktion, also der AfD. Wird ihr Kandidat nicht gewählt, findet eine Wiederholung statt. Wird der AfD-Kandidat auch dann nicht gewählt, hätte Thüringen ein Problem.

Denn die GOLT regelt nicht genau, wie dann weiter verfahren wird. Nach Auskunft des Thüringer Landtags könnten dann auch andere Fraktionen Kandidaten zur Wahl stellen. Darauf habe sich der Ältestenrat verständigt. "Ergibt auch der zweite Wahlgang keine Mehrheit, kann die stärkste Fraktion für weitere Wahlgänge den zuerst vorgeschlagenen oder einen neuen Kandidaten vorschlagen und die übrigen Fraktionen können gleichzeitig eigene Bewerber vorschlagen", heißt es hierzu auf Anfrage des MDR.

Ob die Entscheidung des Ältestenrates rechtlich bindend ist, ist jedoch unklar. Zweifel bringt der Verfassungsblog zum Ausdruck, der sich damit beschäftigt hat, was passiert, wenn eine autoritäre oder populistische Partei in Thüringen an die Macht kommen würden. Im "Thüringen Projekt" geht der Verfassungsblog davon aus, dass der Alterspräsident dann als Sitzungsleiter entscheiden muss, wie die Geschäftsordnung konkret auszulegen sei. Der Alterspräsident des neuen Thüringer Landtags wird - aufgrund seiner 73 Jahre - voraussichtlich Jürgen Treutler von der AfD sein.

Ein AfD-Alterspräsident könnte "das Vorschlagsrecht auch nach dem zweiten Wahlgang auf die stärkste Fraktion beschränken", heißt es dazu beim Verfassungsblog. Die Folge wäre ein unausweichlicher Rechtsstreit vor dem Verfassungsgericht und eine Hängepartie bei der Regierungsbildung. Schon bei der ersten Landtagssitzung könnte es also zu einer Verfassungskrise kommen. Das ist eine reelle Gefahr.

Normalerweise würden die Parteien versuchen, diese Hängepartie zu vermeiden, indem sie einen AfD-Landtagspräsidenten akzeptieren. Sie könnten ihn mitwählen, um selbst einen Ministerpräsidenten und eine Regierung zu stellen und den Landtagspräsidenten notfalls wieder abwählen. Aber auch dann gilt: Der Landtagspräsident kann nur mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit abgewählt werden. Die Sperrminorität der AfD wirkt auch hier.

Wichtig ist hierbei, dass die Stellung des Landtagspräsidenten häufig unterschätzt wird. Er hat erhebliche Befugnisse im Thüringer Landtag, im Plenum und eine große Außenwirkung für die Thüringer Demokratie. Ein unabwählbarer AfD-Landtagspräsident könnte sich Staatsgäste von zweifelhaftem Ruf nach Erfurt einladen.

Gar keine oder AfD-Richter am Verfassungsgericht

Eine Sperrminorität kommt auch bei der Wahl von Richtern für den Landesverfassungsgerichtshof zur Geltung. Der Präsident und die acht weiteren Mitglieder werden vom Landtag mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit auf sieben Jahre gewählt. Sie bilden das oberste Gericht in Thüringen. 2026 muss ein Mitglied des Verfassungsgerichts neu gewählt werden. 2029 enden die Amtszeiten aller acht weiteren Mitglieder. Einige stellvertretende Mitglieder des Verfassungsgerichts müssen ebenfalls ab 2025 neu gewählt werden.

Der Sitz des Thüringer Verfassungsgerichtshofes in Weimar
Der Sitz des Thüringer Verfassungsgerichtshofes in Weimar. Welche Richter dort künftig arbeiten, darüber kann die AfD wohl künftig mitentscheiden. Bildrechte: picture alliance / Martin Schutt/dpa-Zentralbild/dpa | Martin Schutt

Mit ihrer Sperrminorität kann die AfD versuchen, Verhandlungen mit den anderen Parteien zu erzwingen. Frei nach dem Motto: Wir wählen euren Kandidaten mit, nachdem ihr unseren Richter bestätigt habt. So wäre es der AfD möglich, das höchste Gericht in Thüringen personell zu beeinflussen. Lassen sich die anderen Parteien darauf nicht ein, könnte die AfD alle Kandidaten verhindern. Kurzfristig würde die Handlungsfähigkeit des Gerichts nicht unmittelbar beeinträchtigt, da "die Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs bis zur Ernennung des Nachfolgers die Amtsgeschäfte" fortführen (§3, Abs. 3 des Gesetzes über den Thüringer Verfassungsgerichtshof).

Langfristig könnte der Thüringer Verfassungsgerichtshof aber zu einer Problemstelle werden. Denn irgendwann würden dem Gericht die Richter und Stellvertreter ausgehen. Der Verfassungsblog verweist auf den Einwand des Staatswissenschaftlers Lukas C. Gundling, dass "die Amtsfortführung nicht 'unbegrenzt' möglich sei […] Tod, Rücktritt, Altersgrenze, Eintritt in die Landesregierung oder Wahl in den Landtag würden unmittelbar die Amtszeit eines Mitglieds des Verfassungsgerichtshofes beenden und gegebenenfalls eine Beschlussunfähigkeit des Verfassungsgerichtshofes provozieren." Auf lange Sicht könnte die AfD das Landesverfassungsgericht mit der Sperrminorität also lahmlegen.

Der Vollständigkeit halber sei hier erwähnt, dass die Sperrminorität auch Einfluss auf den Richterwahlausschuss hat. Zehn der 15 Mitglieder des Ausschusses werden aus dem Landtag mit einer zwei Drittel Mehrheit gewählt (Art. 89, Abs. 2 Verf TH). Der Richterwahlausschuss entscheidet zusammen mit dem Justizminister darüber welche Richter aus allen übrigen Zweigen der Gerichtbarkeit auf Lebenszeit berufen werden.

Kann die AfD den Thüringer Verfassungsschutz ausschalten?

Noch schlimmer könnte es den Thüringer Verfassungsschutz treffen, den die AfD in ihrem Sinne umbauen will. Die Sperrminorität gibt ihr nun Mittel an die Hand, Einfluss auf den Verfassungsschutz zu nehmen, denn alle Mitglieder der Parlamentarischen Kontrollkommission müssen mit zwei Dritteln der Stimmen im Landtag gewählt werden. Die Kommission überwacht und legitimiert den Thüringer Verfassungsschutz. Ohne sie zu informieren, können viele nachrichtendienstliche Mittel wie der Einsatz von V-Leuten oder Überwachungen nicht durchgeführt werden.

Schon in der bisherigen Legislatur wurde der Verfassungsschutz übergangsweise von der Kommission der vorherigen Wahlperiode (also 2014 bis 2019) kontrolliert. Das ist in Paragraf 26 des Thüringer Verfassungsschutzgesetzes geregelt, geht aber nur maximal eine zusätzliche Wahlperiode lang. Erst im August 2024 setzte der Thüringer Landtag eine Rumpf-Kommission aus vier (statt fünf vorgeschriebenen) Mitgliedern ein. Dagegen klagte die AfD bereits vor dem Thüringer Verfassungsgerichtshof, scheiterte aber.

Diese Rumpfkommission kann den Verfassungsschutz also maximal noch bis zum Ende der kommenden Wahlperiode im Jahr 2029 kontrollieren. Danach müsste sie aufgelöst werden und der Verfassungsschutz bräuchte eine neue politische Legitimation. Das heißt, wenn die AfD einen langen Atem beweist, kann sie mit der Sperrminorität die Kontrollkommission auslaufen lassen und darauf spekulieren, auch bei der Landtagswahl 2029 mindestens ein Drittel aller Stimmen zu sammeln. Dann hätte sie den Verfassungsschutz rechtlich delegitimiert.

Schneller und einfacher wäre es jedoch, wenn sich die AfD mit ihrer Sperrminorität einen Zugang in die Kontrollkommission erzwingen würde. Genau wie bei den Verfassungsrichtern könnte sie die Wahl ihrer Kandidat mit der Wahl anderer Kandidaten verknüpfen. Zwar sind die Sitzungen der Kontrollkommission geheim und sämtliche Mitglieder auch nach ihrer Tätigkeit der Geheimhaltung verpflichtet, aber das Wissen, welche Maßnahmen der Thüringer Verfassungsschutz gegen die AfD durchführt, wäre dann mindestens Einzelnen in der Partei bekannt.

Das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz
Das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz in Erfurt. Welchen Einfluss auf den Inlandsgeheimdienst hat künftig die AfD? Bildrechte: picture alliance/dpa/Martin Schutt

Keine Änderungen der Thüringer Verfassung mehr möglich

Die politisch größte Einflussnahme bekommt die AfD bei Verfassungsänderungen in Thüringen. Diese sind dank der Sperrminorität nun nicht mehr ohne die AfD möglich. Auch diese Änderungen brauchen mindestens zwei Drittel aller Stimmen des Landtages. Das mag zunächst weniger wichtig scheinen, weil es den meisten Thüringern egal sein dürfte, ob in der Verfassung statt "Behinderte" nun "Menschen mit Behinderung" steht. Das wurde beispielsweise im April 2024 so geändert und hat für die meisten Menschen keine unmittelbaren Auswirkungen auf ihr Leben.

Verfassungsänderungen legen aber die Grundregeln unseres demokratischen Miteinanders fest. In der gleichen Landtagssitzung im April 2024 wurde zum Beispiel auch festgelegt, dass die Stärkung des Ehrenamts und das Prinzip der Nachhaltigkeit künftig eine Grundlage des staatlichen Handelns in Thüringen sein sollen. Das klingt abstrakt, ist aber ein einklagbares Recht für Bürger, Vereine und alle, die sonst in irgendeiner Weise durch staatliches Handeln beschnitten werden könnten.

Verfassungsänderungen verändern also die Rechtssetzung jeder künftigen Regierung. Sie geben die Leitplanken für staatliches Handeln vor. Darauf Einfluss nehmen zu können, ist für die rechtsextreme AfD, die auf einen grundlegenden Systemwechsel hinarbeitet, enorm wertvoll. Sie kann somit Einfluss auf ihre zukünftigen Entscheidungsmöglichkeiten nehmen, für den Fall, dass sie eines Tages Thüringen regiert.

Im April 2024 hat der Verfassungsblog mit dem "Thüringen Projekt" eine Reihe von Handlungsempfehlungen gegeben, wie mitunter Verfassungsänderungen dazu beitragen können, die Demokratie gegen die Einflussnahme von "autoritär-populistischen Partei" zu schützen. Gemeint sind damit Parteien wie die AfD. Die meisten dieser Handlungsempfehlungen können durch den Landtag nun nicht mehr umgesetzt werden.

Fazit: Am Rande der Unregierbarkeit

Die Sperrminorität in den Händen der AfD ist eine Gefahr für die Thüringer Demokratie. Die AfD kann die anderen Parteien im Landtag damit vor schwierige Entscheidungen stellen, kann sich Posten, Ämter und Sitze in bestimmten Gremien erpressen und kann Einfluss auf ihre zukünftigen Gestaltungsmöglichkeiten nehmen.

Am wertvollsten dürfte die Sperrminorität für die AfD aber deshalb sein, weil sie allein mit der Drohung einer Blockade bei wichtigen Entscheidungen die anderen Parteien dazu zwingen kann, mit ihr zusammenzuarbeiten. Insofern hat Höcke Recht: Die AfD kann jetzt nicht mehr politisch ignoriert werden. Das Problem ist: Aufgrund ihrer rechtsextremen und antidemokratischen Ideologie, schließen alle andere Parteien eine Kooperation derzeit aus. Es geht nicht mit und nicht ohne die AfD und das bedeutet: Die AfD kann Thüringen nah an den Rand zur Unregierbarkeit treiben.

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*Hinweis der Redaktion: In der ursprünglichen Fassung dieses Beitrags hatten wir von "zwei schlechten Optionen" geschrieben, vor denen das Thüringer Parlament stehe. Wir haben dies in "zwei schwierige Optionen" geändert.

MDR (rom)

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN | MDR THÜRINGEN JOURNAL | 01. September 2024 | 19:00 Uhr

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