Landespolitik Welche Mehrheit braucht ein Thüringer Ministerpräsident?
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08. Dezember 2023, 16:32 Uhr
Ein Passus in der Thüringer Verfassung wird seit Jahren diskutiert: Dass im dritten Wahlgang bei nur einem Bewerber als Ministerpräsident gewählt ist, wer die meisten Stimmen erhält. Die CDU-Fraktion im Thüringer Landtag möchte nun diese Passage durch den Thüringer Verfassungsgerichtshof prüfen lassen. Worum es bei dem jahrelangen Streit geht und was Verfassungsrechtler dazu sagen.
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Welche Mehrheit braucht ein Ministerpräsident bei seiner Wahl? Diese einfach klingende Frage ist durchaus kompliziert. Sie wird seit 2009 vor jeder Wahl eines Ministerpräsidenten oder einer Ministerpräsidentin in Thüringen gestellt. Genauer gesagt, handelt es sich um eine Detailfrage, die sich nur in einem möglichen dritten Wahlgang stellt: Ist ein Kandidat gewählt, wenn er mehr Nein- als Ja-Stimmen erhält?
Streit um Formulierung
Die naheliegende Antwort wäre die, die bei jeder anderen Wahl gilt, ob nun in einer Partei oder einem Verein: natürlich nicht. Doch in der Verfassung steht: Gewählt ist, wer "die meisten Stimmen" bekommt. Was das genau bedeutet, darüber wird alle fünf Jahre gestritten. Denn die Interpretation dieses Satzes kann darüber entscheiden, wer Thüringen regiert.
Die CDU ist vor allem auf das Thema fixiert, seit sie 2014 in der Opposition landete. Nachdem sie mit ihrer geforderten Klarstellung der Verfassung nicht im Parlament durchkam, will sie die Frage noch vor der Landtagswahl am 1. September 2024 vom Verfassungsgerichtshof in Weimar klären lassen. Sie hat einen Gesetzentwurf eingebracht, der dies ermöglichen soll. Er wird diese Woche erstmals im Landtag beraten.
Neben der CDU sprach sich auch SPD-Chef und Innenminister Georg Maier auf dem SPD-Landesparteitag zuletzt dafür aus, die Ministerpräsidentenwahl eindeutiger zu regeln. Der Passus sorge für viel Unsicherheit, sagte er.
Worum geht es?
Es geht um Artikel 70 der Thüringer Verfassung. Er regelt die Wahl der Ministerpräsidentin oder des Ministerpräsidenten. Darin heißt es erst einmal: "Der Ministerpräsident wird vom Landtag mit der Mehrheit seiner Mitglieder ohne Aussprache in geheimer Abstimmung gewählt." Kommt in einem ersten Wahlgang keine Mehrheit zustande, wird ein zweites Mal gewählt." Diese Passage ist eindeutig genug: Ein Kandidat braucht im ersten und zweiten Wahlgang die absolute Mehrheit der Landtagsabgeordneten.
Gewählt mit den "meisten Stimmen"
Schwieriger wird es, wenn diese absolute Mehrheit zweimal verfehlt wird: Dann kommt es zum dritten Wahlgang. In diesem "ist gewählt, wer in einem weiteren Wahlgang die meisten Stimmen erhält."
Bei mehreren Kandidaten ist diese Regelung kein Problem. Aber was bedeutet "die meisten Stimmen" bei einem Einzelkandidaten und einer Einzelkandidatin? Wäre dann auch ein Bewerber mit mehr Nein- als Ja-Stimmen gewählt?
Was sagen die Verfassungsrechtler?
Wie so oft in der Rechtswissenschaft gilt: Die einen sagen so - die anderen so. In diesem Fall gibt es aber eine Mehrheits- und eine Minderheitsmeinung.
Die Mehrheitsmeinung wurde erstmals vom Düsseldorfer Verfassungsrechtler Martin Morlok im Jahr 2014 etabliert. Er schrieb in einem Gutachten, das der damalige SPD-Justizminister Holger Poppenhäger in Auftrag gab: "Es zählen nur die Ja-Stimmen". Damit wäre ein Kandidat sogar auch dann gewählt, wenn er nur eine Ja-Stimme bekäme. Die Nein-Stimmen würden gar nicht zählen, selbst wenn die Mehrheit der Abgeordneten mit "Nein" stimmen würde.
Erstes Gutachten: Stabilität das Wichtigste
Aus Sicht des Rechtsprofessors kann bei der Ministerpräsidentenwahl nicht verlangt werden, dass der Kandidat mehr Ja- als Nein-Stimmen bekommt. Denn dies stünde der Intention der Verfassung entgegen, dass es nach einer Wahl eines neuen Landtags auch eine neue Regierung geben müsse. Das Ziel sei Stabilität. So bestätigte es auch der frühere FDP-Politiker Andreas Kniepert, der zu Beginn der 1990er Jahre federführend an der Erarbeitung der Verfassung beteiligt war.
Morlok bezog sich in seinem Gutachten auch auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 2008 zum sogenannten "Meiststimmenverfahren". Ähnliche Regelungen zur Ministerpräsidentenwahl gebe es in mehreren Bundesländern, darunter in Berlin, Brandenburg oder Niedersachsen.
Zweites Gutachten: Mehr Ja- als Nein-Stimmen nötig
Das zweite Gutachten wurde im Auftrag des damaligen Landtagspräsidenten Christian Carius (CDU) als Antwort auf das erste Gutachten erstellt. Es stammt von Wolfgang Zeh, einem ehemaligen Direktor der Bundestagsverwaltung. Danach muss der Kandidat im dritten Durchgang mehr Ja- als Nein-Stimmen bekommen. Auf dieses Gutachten von 2014 beruft sich die CDU-Fraktion bis heute, auch wenn Zeh sich mit seiner Auslegung klar in der Minderheit befindet.
Neuer Verfassungskommentar: Möglichkeit, mit Nein zu stimmen, ausschließen
Inzwischen wirkt die Rechtsmeinung Morloks noch dominanter. Die Jenaer Jura-Professorin Anna Leisner-Egensperger gibt im neuesten, gerade erschienenen Kommentar zur Thüringer Verfassung sogar die Empfehlung, auf den Stimmzetteln im dritten Wahlgang "hinter dem Namen jedes Kandidaten nur ein einziges Feld für eine Wahlentscheidung mit 'Ja'" vorzusehen. Das schließe die Möglichkeit "einer ablehnenden Wahl oder Stimmenthaltung" aus. Es gäbe in diesem Falle also gar keine Diskussion um mehr Ja- als Nein-Stimmen.
Kann es überhaupt zu diesem Fall kommen?
Ja. Schon 2009 wurde die damalige Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht (CDU) erst im dritten Wahlgang gewählt. Wenn es nicht einen Gegenkandidaten gegeben hätte - es war damals der spontan antretende Linke-Fraktionschef Bodo Ramelow - hätte der Fall eintreten können. Interessanterweise vertrat die CDU damals noch die Meinung, dass die Nein-Stimmen in diesem Fall nicht zählen würden.
Die CDU änderte aber ihre Meinung - siehe das von CDU-Landtagspräsident Carius beauftragte Gutachten - vor der Ministerpräsidenten-Wahl von Bodo Ramelow im Dezember 2014. Nachdem der Linke-Kandidat im zweiten Wahlgang mit der rot-rot-grünen Mehrheit gewählt war, stellte sich die Frage jedoch gar nicht.
Im Winter 2020, als Ramelow ohne Mehrheit zur Ministerpräsidentenwahl antrat, tobte die Debatte am lautesten. Der damalige CDU-Fraktionschef Mike Mohring setzte darauf, dass der Linke im dritten Wahlgang ohne Gegenkandidaten mehr Nein-Stimmen bekäme - und delegitimiert wäre. Das war ein Grund dafür, dass er selbst nicht antrat.
Regierungskrise 2020
Doch diese Strategie wurde ihm erst durch die AfD, die einen parteilosen Bürgermeister aufstellte, und dann durch die FDP durchkreuzt. Die Liberalen stellten ihren Parteichef Thomas Kemmerich, der in geheimer Wahl von AfD und CDU unterstützt wurde, im dritten Wahlgang auf. Am Ende war Kemmerich knapp gewählt. Das Ergebnis war die bekannte Regierungskrise, die bundesweit Wellen schlug.
Bei der Wiederwahl Ramelows vier Wochen später - nach Kemmerichs Rücktritt - versuchte die AfD noch einmal die Taktik Mohrings: Sie zog ihren Gegenkandidaten - Fraktionschef Björn Höcke - im dritten Wahlgang zurück. Aber die CDU hatte mit Ramelow vereinbart, durch Enthaltung für eine relative rot-rot-grüne Mehrheit zu sorgen.
Was ist im nächsten Jahr, wenn am 1. September ein neuer Landtag gewählt wird?
Es wird wohl wieder schwierig. Laut der jüngsten Umfrage des MDR aus dem Sommer kämen AfD (34 Prozent) und Linke (20 Prozent) wieder auf mehr als die Hälfte der Sitze. Weil aber mit der AfD weiter niemand zusammenarbeiten will sowie CDU und FDP eine Koalition mit der Linken ausschließen, dürfte es erneut sehr schwer werden, eine Mehrheitsregierung zu bilden.
Das heißt, dass Koalitionen, die denkbar wären, beispielsweise Rot-Rot-Grün oder CDU-SPD-FDP, keine Mehrheit hätten. Sie müssten - wie die jetzige Landesregierung auch - eine Minderheitsregierung bilden. Dadurch würden allein die Stimmen der eigenen Koalition bei einer Ministerpräsidentenwahl nicht zur Mehrheit reichen. Wenn also keine Abgeordneten der Opposition der Wahl zustimmten, käme in den ersten beiden Wahlgängen keine Mehrheit zustande. Es käme zum dritten Wahlgang - mit all seinen Fragezeichen.
Wie ginge es nach der Ministerpräsidentenwahl weiter?
Für den Fall, dass sich nur eine Person zur Ministerpräsidentenwahl stellt und auf sie tatsächlich mehr Nein- als Ja-Stimmen entfielen, käme es tatsächlich an auf die Auslegung von Artikel 70 und den Passus "die meisten Stimmen". Die erste Interpretation würde die Landtagspräsidentin oder der Landtagspräsident treffen. Dieses Amt könnte nach der Wahl die AfD inne haben. Denn nach der aktuellen Geschäftsordnung des Landtages hat die größte Fraktion das Vorschlagsrecht für den Parlamentsvorsitz.
Es kann aber als sicher gelten, dass aus dem Landtag heraus eine Überprüfung durch das Verfassungsgericht eingeleitet würde. Dem will nun die CDU zuvorkommen.
Was möchte die CDU genau?
Die CDU will das Verfassungsgerichtsgesetz ändern und darin ausdrücklich erlauben, dass der Landtag vorab Artikel 70 prüfen lässt, wie zuerst die "Thüringer Allgemeine" (+) berichtete. Diesen Weg hatte im Oktober Gerichtspräsident Klaus-Dieter von der Weiden ausdrücklich gewiesen, als er zu einer Klärung der Frage riet: "Sei es durch eindeutige Formulierungen im Verfassungstext […], sei es durch […] Klärung durch den Thüringer Verfassungsgerichtshof auf der Grundlage des bestehenden Verfassungstextes." Nach der Gesetzesänderung könnte das Gericht angerufen werden.
Wird die CDU die Gesetzesänderung erreichen?
Das ist unwahrscheinlich. Linke-Fraktionschef Steffen Dittes äußerte sich auf X, vormals Twitter, skeptisch. Er schrieb in seinem Blog, das "Meiststimmenprinzip" sei nicht unklar. Eine mit der "Thüringer Regelung vergleichbare Regelung zum dritten Wahlgang gibt es in zahlreichen Bundesländern". Im übrigen sprach sich auch SPD-Chef Georg Maier gegen den aktuellen CDU-Antrag aus.
MDR (caf)
Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN | MDR THÜRINGEN JOURNAL | 08. Dezember 2023 | 19:00 Uhr
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