Eine Frau und zwei Männer sitzen in einem Hörfunkstudio
Am Freitag war AfD-Spitzenkandidat Jörg Urban bei MDR SACHSEN zu Gast, zum Interview zur Landtagswahl am 1. September. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Landtagswahl-Interview Vom AfD-Spitzenkandidaten geforderter Faktencheck widerlegt seine Behauptung

25. August 2024, 16:37 Uhr

Im Vorfeld der Landtagswahl in Sachsen führt der MDR ausführliche Live-Interviews mit Spitzenkandidatinnen und -kandidaten. Am Freitag war Jörg Urban (AfD) zu Gast und forderte die Redaktion auf, seine Aussage zu "66 Vergewaltigungen durch Ausreisepflichtige" in einem Faktencheck zu überprüfen. Ergebnis: Er lag falsch.

Für ein 52-minütiges Live-Interview mit Spitzenpolitikern können und sollten sich Journalisten auf möglichst viele, durchaus auch absehbare Aussagen ihres Gegenübers bestmöglich vorbereiten. Das ist ihr Job. Definitiv unmöglich ist es aber, für wirklich jede, mitunter auch sehr spontan geäußerte, Behauptung des Interviewpartners einen entsprechenden Faktencheck bereit zu halten.

Unattraktivität liegt im Auge des Betrachters

So konnte Uta Deckow in dem Interview mit Jörg Urban, um das es hier auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin geht, dessen Behauptung kontern, Deutschland sei für Fachkräfte aus dem Ausland vor allem wegen der hohen Steuern und der Kriminalität unattraktiv.

Tatsächlich schneidet Deutschland als Arbeitsort für sogenannte "Expats" sogar noch am besten ab in den Kategorien "Gehalt" und "Sicherheit". Im Gesamtranking landet Deutschland aber seit Jahren auf den letzten Plätzen (aktuell 49. Von 53), vor allem wegen der relativ hohen Sprachbarriere und der als besonders unfreundlich empfundenen, einheimischen Bevölkerung.

Screenshot über Expats in Deutschland
Bildrechte: Screenshot Internations.org

Was sind Expats? Unter Expats, Kurzform für Expatriates, versteht man Personen, die ohne Einbürgerung in einem ihnen fremden Land oder einer ihnen fremden Kultur leben. Quelle: ikud-seminare.de

AfD-Spitzenkandidat fordert Faktencheck

Beim Themenkomplex "Migration" im Interview mit AfD-Spitzenkandidat Jörg Urban behauptet dieser, im ersten Halbjahr 2024 hätte es in Sachsen 66 Vergewaltigungen durch Ausreisepflichtige gegeben. Urban ergänzt: "Wenn der Freistaat Sachsen, wenn Herr Kretschmer seine Arbeit gemacht hätte, wären diese Menschen nicht mehr hier und diese Straftaten wären einfach nicht erfolgt". Uta Deckow räumt ein, diese Zahl gerade nicht überprüfen zu können, das aber nachzuholen, worauf Urban entgegnet: "Absolut. Faktencheck!".

Halbjahreszahlen mit anderer Aussage

Von sich aus veröffentlicht die Polizei üblicherweise keine Halbjahreszahlen zu Straftaten. Urban bezieht sich auf eine sogenannte "Kleine Anfrage" seiner AfD-Fraktion an das Innenministerium, in der es nicht explizit um "Vergewaltigungen" geht, sondern um alle Straftaten in Sachsen mit tatverdächtigen Zuwanderern.

Das Sächsische Innenministerium hatte die Anfrage Anfang August beantwortet. Darin werden die Delikte nicht einzeln aufgeführt, sondern in Straftatenobergruppen zusammengefasst. Beispielsweise als "Straftaten gegen das Leben", "Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung insgesamt" oder "Vermögens- und Fälschungsdelikte". Der Straftatbestand "Vergewaltigung" taucht in dem fünfseitigen Dokument also gar nicht auf.

Screenshot aus einer Kleinen Anfrage zu Straftaten
Bildrechte: Screenshot Sächsisches Innenministerium

Urban geht einfach vom Schlimmsten aus

Die von Urban genannte Zahl bezieht sich in der Antwort des Innenministeriums somit nicht etwa auf "66 Vergewaltigungen" durch Ausreisepflichtige, sondern auf "66 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung insgesamt". In dieser Straftatenobergruppe werden in der Polizeilichen Kriminalstatistik 76 Straftatenschlüssel zu unterschiedlichen Sexualdelikten und Begehungsweisen zusammengefasst.

Screenshot aus einer Kleinen Anfrage zu Straftaten
Bildrechte: Screenshot Sächsisches Innenministerium

Nicht jedes Sexualdelikt ist eine Vergewaltigung

Die Bandbreite reicht von "Erregung öffentlichen Ärgernisses" (beispielsweise "Wildpinkeln" in der Öffentlichkeit), über "Sexuelle Belästigung" (Straftatbestand wurde erst 2017 eingeführt), "Erwerb und Besitz von Sexpuppen mit kindlichem Aussehen" bis zur Vergewaltigung. In der Polizeilichen Kriminalstatistik 2023 wurden in Sachsen 5.152 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung erfasst, davon 280 als Vergewaltigung (5,4 Prozent).

Urban führt AfD-Anfrage ad absurdum

Hätten diese 66 Sexualdelikte, die Jörg Urban im Interview pauschal "Vergewaltigungen" nennt, also durch rechtzeitige Abschiebung verhindert werden können, wie der AfD-Spitzenkandidat behauptet? Dass dem nicht so ist, sollte Urban eigentlich wissen. Denn seine AfD-Fraktion hatte wegen dieser Straftaten gar nicht nach "unmittelbar" Ausreisepflichtigen gefragt, sondern explizit nach "Geduldeten Ausländern". Personen also, bei denen ein Abschiebungshindernis vorliegt!

Screenshot aus einer Kleinen Anfrage zu Straftaten
Bildrechte: Sächsisches Innenministerium

Radio (auch) für die Augen

Die Interviews mit sieben sächsischen Spitzenkandidatinnen- und Kandidaten für die Landtagswahl werden live im Radio über MDR SACHSEN ausgestrahlt und als Stream mit mehreren Kameras aufgezeichnet. Diese Videos, darunter auch das hier thematisierte Interview mit Jörg Urban, können über unser umfassendes Informationsangebot zur Landtagswahl abgerufen werden.

Der Spitzenkandidat der AfD, Jörg Urban, sitzt vor dem Mikrofon im Studio von MDR SACHSEN. 50 min
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | MDR SACHSEN Extra - Landtagswahl 2024 | 23. August 2024 | 18:00 Uhr

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