Das Alumnat der Leipziger Thomaner 6 min
Beim Thomanerchor wurde ein sexueller Übergriff bekannt. Nun gibt es Kritik von Eltern: Am Umgang der Leitung im Fall, und am geltenden Schutzkonzept. Carolin Büscher im Gespräch mit Thomas Bille über die Hintergründe. Bildrechte: picture alliance / ZB | Hendrik Schmidt

Thomaner-Chor Nach sexuellem Übergriff: Thomaner-Eltern stellen Schutzkonzept infrage

20. Februar 2025, 03:30 Uhr

Eine Woche, nachdem bekannt wurde, dass es sexuelle Übergriffe durch einen Schüler des Thomaner-Chors gab, werden Vorwürfe von Eltern laut: Man habe in dem Fall schon früher aufmerksam werden können. Auch im Nachhinein würden die Eltern nicht ausreichend gehört, die Leitung sei "überbehutsam." Von der Chorleitung heißt es, man nehme das Thema ernst. Auf die konkreten Vorwürfe geht sie nicht ein – wegen der Schulferien.

Es begann mit einer Mail kurz vor Weihnachten, die einige Eltern später als zu "lapidar" kritisieren. In neun Sätzen werden darin die Eltern der Thomaner informiert, dass ein Schüler andere bedrängt und in zwei Fällen auch zu sexuellen Handlungen genötigt habe. Man wolle vermitteln; das geltende Schutzkonzept sei in Gang gesetzt worden. Die Aufarbeitung läuft also. Doch wie sie bisher erfolgt, sei zu wenig konsequent – das kritisieren nun eine Mutter und ein Vater im Gespräch mit MDR KULTUR.

Anonyme Quellen Alle zitierten Gesprächspartner sorgen sich vor negativen Konsequenzen für sich oder ihre Kinder. Daher werden ihre Namen auf ausdrücklichen Wunsch nicht genannt. Die Aussagen liegen MDR KULTUR vor.

Der Thomanerchor
Vergangene Woche wurden Übergriffe unter Mitschülern des Thomanerchors öffentlich. Bildrechte: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild/Jan Woitas

Neues Schutzkonzept für Thomaner-Kinder

Erst seit Frühjahr 2024 gilt ein neues Schutzkonzept: Auf 55 Seiten ist detailliert festgehalten, welche Regeln und Grenzen es gibt – für die Betreuer im Umgang mit den Minderjährigen, wie auch für die Schüler untereinander. Sie sollen das nahe Zusammenleben im Alumnat klar regeln. So zeigen unter anderem "Verhaltensampeln" an, was okay ist und was nicht. Das Konzept muss von allen verinnerlicht und unterschrieben werden – so die Vorgabe der Chorleitung.

Bloß nicht zu viel – das stand über allem.

Kritik eines Elternteils an der Aufklärung der Chorleitung

Was aber passiert, wenn sich jemand darüber hinwegsetzt? Das sei in dem vorliegenden Fall, der vergangene Woche an die Öffentlichkeit kam, nicht ausreichend in den Blick genommen worden, lautet die Kritik einiger Eltern. Sie sagen, unter den Kindern sei bekannt gewesen, dass es immer wieder Konflikte mit dem betreffenden Jungen gegeben habe – doch darauf sei nicht ausreichend reagiert worden. Eine Aussage lautet: "Intern muss es doch Kontrollmechanismen geben, dass man sagt: Der hat Mist gebaut, wo wurden noch Probleme gemeldet?"

Kritik an Aufarbeitung

Das Thomaner-Schutzkonzept setzt einen Fokus auf Fehlerkultur: Bei Vorfällen soll die ganze Struktur mit einer "Kultur der Achtsamkeit" in den Blick genommen werden – um nachzuvollziehen, welche Faktoren das Problem begünstigt haben und wie Wiederholungen vorgebeugt werden. So steht es in dem Schutzkonzept. Nur: In dem vorliegenden Fall sei es klar ein Kind gewesen, dass sich grenzüberschreitend verhalten habe, schildert ein Elternteil und folgert: "Ich sehe das Risiko, dass man vor lauter Struktur und das Ganze in den Blick zu nehmen, dann doch den Blick für den Einzelnen verliert."

Weitere Kritik gibt es an der Art und Weise, wie Teile der Chorleitung kommunizieren. Das erste konkrete Hilfsangebot habe es nicht von der Chorleitung, sondern aus der Elternschaft gegeben. Der Schule werfen Eltern im Gespräch mit MDR KULTUR "Überbehutsamkeit" statt Klartext vor. Zwar habe es zwei Elternversammlungen gegeben. Dennoch sei einigen Eltern immer noch nicht klar, was genau vorgefallen ist.

Thomaskantor Georg Christoph Biller und Sänger des Leipziger Thomaner-Chors
Der Thomaner-Chor wurde einst von Bach geleitet und hat eine lange Traditon. Dadurch gibt es einen starken Zusammenhalt und großes Pflichtbewusstein unter den Mitgliedern. Bildrechte: imago/STAR-MEDIA

Auch habe es keine eindeutige Entschuldigung oder weitere Konsequenzen jenseits der Suspendierung gegeben. Den Prozess beschreiben die Eltern in Teilen als "unglaublich schleppend." Eine deutliche Aussage lautet: "Bloß nicht zu viel – das stand über allem: zu viel Info, zu viel Aufklärung gleich am Anfang. Das ist vielleicht eine Herangehensweise, die in Konzepten steht. Aber die wurde dem, was wir in dem Moment empfunden haben, einfach nicht gerecht."

Selbstverständlich nehmen wir die geäußerten Kritikpunkte ernst und prüfen die Sachverhalte intern.

Antwort des Thomanerchors auf die Kritik von Eltern

Thomaner-Leitung äußerte sich nicht zur Kritik

MDR KULTUR hat die Chorleitung mit den zentralen Kritikpunkten der Thomaner-Eltern konfrontiert. Man habe derzeit keine Möglichkeit, abschließende Antworten zu geben, heißt es seitens der Pressestelle. Als Grund werden die derzeitigen Schulferien genannt. "Unser Fokus liegt weiterhin darauf, die internen Abläufe professionell und sachgerecht zu handhaben. Selbstverständlich nehmen wir die geäußerten Kritikpunkte ernst und prüfen die Sachverhalte intern", heißt es in der Antwortmail.

Bereits vergangenen Freitag teilte der geschäftsführende Leiter, Emanuel Scobel, auf Nachfrage des MDR mit, der Thomanerchor habe direkt nach Bekanntwerden des Falls "entschieden gehandelt". Oberste Priorität habe den betroffenen Familien und Mitgliedern des Chores sowie dem Schutz der Minderjährigen gegolten. Unter anderem sei die Meldekette eingehalten, die Familien und Mitarbeiter transparent informiert worden, sagte Scobel.

Sänger des Leipziger Thomaner-Chors anläßlich eines Festaktes zum 20jährigen Dienstjubiläum von Thomaskantor Georg Christoph Biller am 01.12.2012 im Neuen Rathaus Leipzig.
Der Leipziger Thomaner-Chor ist einer der bekanntesten Chöre Deutschlands und tourt weltweit - dadurch stehen die Schüler unter besonderer Beobachtung. Bildrechte: IMAGO/STAR-MEDIA

Internat als "Nährboden für Tabuisierung"

In der Vergangenheit hat es bereits ähnliche Fälle bei den Thomanern gegeben. Ein ehemaliger Schüler, der in den späten 1990er-Jahren auf das Alumnat kam, erinnert sich im Gespräch mit MDR KULTUR an einen Fall zu seiner Zeit. "Damals wurde auch mit Suspendierung reagiert und das Gespräch mit allen Betroffenen gesucht. Auch Psychotherapeutische Behandlung wurde organisiert."

Das ist ein Nährboden für Tabuisierung und Skandalisierung.

Ex-Thomaner über das Leben im Alumnat

Eine spezifische Herausforderung sieht der Ex-Thomaner in der Kombination aus dem engem Zusammenleben der Schüler und einer großen öffentlichen Beobachtung, welcher der weltbekannte Chor ausgesetzt ist. Einerseits brauche es einen besonderen Schutz der Kinder im Alumnat – gleichzeitig habe der renommierte Chor eine besonders hervorgehobene Stellung und stehe dementsprechend unter viel Beobachtung. "Das ist ein Nährboden für Tabuisierung und Skandalisierung."

Quellen: MDR KULTUR (Carolin Büscher), MDR Sachsen, Thomanerchor Leipzig
Redaktionelle Bearbeitung: bh

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 20. Februar 2025 | 07:10 Uhr

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