Russland und Ukraine Dmitrij Kapitelman schreibt über Ukraine, den Krieg und sein Leben in Leipzig
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17. März 2025, 18:53 Uhr
Der teils in Leipzig aufgewachsene Autor Dmitrij Kapitelman beherrscht die große Kunst, in seinen Romanen das Autobiografische ins Allgemeine zu wenden. Bereits in seinem Debüt "Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters" hat er sich an der Geschichte seiner Familie abgearbeitet – jüdischen Kontingentflüchtlingen aus der Ukraine. In seinem neuen Buch "Russische Spezialitäten" geht es vor allem um die Mutter des Autors und, das kann kaum anders sein, um den Krieg Russlands gegen die Ukraine.
- In "Russische Spezialitäten" wirft Dmitrij Kapitelman einmal mehr den Blick auf die eigene Biografie.
- Er beschreibt, wie sehr der Krieg in der Ukraine die russischsprachige Gemeinde spaltet.
- Das Buch spielt in Leipzig, führt die Leserinnen und Leser aber auch in die Ukraine – unter anderem nach Butscha.
Die Kapitelmans sind jüdische Kontingentflüchtlinge aus Kiew, "Wiedergutmachungsjuden", wie der Autor sie selbst einmal nennt. Als sie Mitte der 90er-Jahre in Leipzig ankommen, eröffnen sie einen kleinen Laden, ein "Magasin", und bieten dort "Russische Spezialitäten" an.
Ich trage eine Sprache wie ein Verbrechen in mir und liebe sie doch.
Sehnsuchtsort Lebensmittelladen
Pelmeni, Wodka und Krimsekt, getrockneten Fisch, Kwas und Weißkrautsalat gibt es, aber auch die gewohnte Mentalität, wie Kapitelman schreibt: "Mama hat darauf bestanden, dass wir Ira einstellen, weil Mama sich sicher war, dass Ira stets unfreundlich zu unseren Kunden sein würde, auf die gute, authentisch-sowjetische Art. Und Papa mag Ira nicht zuletzt, weil sie auch eine Jüdin ist."
Das Magasin ist ein Ort der Nostalgie für alle "Naschi", die "Unseren", die entwurzelten Russen und Ukrainer, die in Leipzig gestrandet sind. Hier können sie ihr Heimweh wenigstens kulinarisch stillen. Und sie können russisch sprechen – auch der Erzähler Dmitrij. Russisch ist die Sprache seiner fast schon mythischen Kindheit.
Angriff auf Ukraine entzweit russischsprachige Diaspora
Doch mit Beginn des Krieges in der Ukraine wird alles anders: "Neben aus der Ukraine geflohenen Menschen stehe ich stumm wie ein Baumstumpf. Zumindest bis ich einige von ihnen ebenfalls russisch sprechen höre."
Unter der Knute des Sowjetreiches war Russen und Ukrainern eine gemeinsame Sprache auferlegt worden. Dmitrij Kapitelman erzählt in seinem Roman, wie das Russische nun vor allem für Putins Kriegshetze steht.
Die Kreml-Propaganda entzweit die Diaspora-Gemeinde und auch seine eigene Familie: "Neulich erklärte Mama rundheraus, dass das Massaker von Butscha fake sei. Dass die Ukrainer das alles inszeniert hätten mit Schauspielern, die sich totstellen, um gegen Russland aufzuwiegeln."
Leseübung gegen die Kreml-Propaganda
Dmitrij versucht, die Propagandareden seiner Mutter weitgehend zu ignorieren und verordnet sich eine tägliche "Sprachinhalation", wie er sie nennt: Seit der Invasion liest er täglich so viele Seiten russische Literatur, wie er alt ist, aktuell 37.
Das blanke Grauen, das im Fernsehen zu sehen war, bleibt auch das blanke Grauen im Nahesehen.
Warum er das tut? Dmitrij sagt: "Um etwas, das ich gar nicht näher bestimmen kann, nicht an die Vergangenheit zu verlieren. Möglichst halblaut, damit ich meine Muttersprache von mir selbst höre. Ich trage eine Sprache wie ein Verbrechen in mir und liebe sie doch, bei aller Schuld."
Reise in die alte Heimat
Um mit sich und seiner Mutter ins Reine zu kommen, fährt er mit dem Bus in die alte Heimatstadt Kiew. Selbst nach der Übersiedlung ist er oft mit den Eltern dort hingereist, um Nachschub fürs Magasin einzukaufen.
Nun besucht er in der alten Heimat Freunde von früher und Verwandtschaft: "Die Einreise vom Westen her beginnt mit eindeutig surrealer ukrainischer Landidylle. Doch dann kommen die ersten Soldatenfriedhöfe. Und in Kiew gibt es ein riesiges Trauerbanner für Mariupol statt blinkender Attraktionen."
In Dmitrij Kapitelmans Roman "Russische Spezialitäten" weiß man nie genau, wo das Autobiografische aufhört und das Fiktionale beginnt. Aber letztlich ist das einerlei, denn es geht um universelle Themen.
Butscha, Luftangriffe, der Krieg: "Das blanke Grauen"
Während die Leipzig-Kapitel seines Buches einen schrägen Humor haben, erzählt Dmitrij Kapitelman nun warmherzig und zurückhaltend von dieser Reise in das versehrte Land seiner Kindheit. Scheinbar stoisch haben sich die Bewohner an Sirenengeheul, Granatendonner und Mangelwirtschaft gewöhnt.
Doch über allem liegen Trauer und Resignation. Am Ende fährt er noch nach Butscha: "Das blanke Grauen, das im Fernsehen zu sehen war, bleibt auch das blanke Grauen im Nahesehen. Ich stehe vor einem verwüsteten Wohnblock und bereits bekannten Gefühlen. 'Hast Du genug gesehen, Dima?', fragt Andrej und sieht dabei selbst unfassbar erschöpft aus."
Zwischen Autobiografie und Fiktion
In Dmitrij Kapitelmans Roman "Russische Spezialitäten" weiß man nie genau, wo das Autobiografische aufhört und das Fiktionale beginnt. Aber letztlich ist das einerlei, denn es geht um universelle Themen. Zum Beispiel wie man – für immer – in seiner Sprache beheimatet ist. Es geht um die Freundschaft zu den Gefährten der Jugend und etwas so Unfassbares wie einen Krieg unserer Tage. Und es geht darum, wie schwierig es ist, ein liebender Sohn zu bleiben.
Informationen zum Buch
Dmitrij Kapitelman: "Russische Spezialitäten"
Hardcover, 192 Seiten
Verlag: Hanser Berlin
ISBN: 978-3-446-28247-6
23 Euro
Redaktionelle Bearbeitung: tis
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 18. März 2025 | 08:40 Uhr