
Lesezeit | 10.03. bis 14.03. 2025 Serhij Zhadan: Keiner wird um etwas bitten
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10. März 2025, 04:00 Uhr
Zeugnisse von Liebe, Trauer und Solidarität im Ukraine-Krieg
"Seit Februar fahren keine Straßenbahnen mehr". Immer wieder gibt es Momente der Stille in der vom Krieg heimgesuchten Großstadt. Menschen treffen sich an Orten, die noch halbwegs intakt sind: auf dem Fußballplatz, in der Kirche, in einem lichtdurchfluteten Hochhausbüro. Egal ob sie Lehrer, Werbeleute oder Automechaniker waren – jetzt sind sie mit völlig anderen Dingen befasst: nach der Bombardierung eines Wohnblocks eine alte Frau evakuieren, einen Job für jemanden finden, der als Invalide von der Front zurückgekommen ist oder an der Trauerfeier für einen getöteten Kollegen teilnehmen, der eine Einheit an der Front kommandiert hat. Zhadan findet einen Ausdruck für die Schutzlosigkeit und die radikale Veränderung des Lebens in einer Gesellschaft, die sich daran gewöhnen musste, dass überall der "große Tod" mit herumsteht, wo man sich auch trifft.
Über den Schriftsteller Serhij Zhadan
Serhij Zhadan wurde 1974 im Industriegebiet Luhansk in der Ostukraine geboren. Er studierte Germanistik und Ukrainistik und promovierte über den ukrainischen Futurismus. Heute zählt er zu den bekanntesten Schriftstellern seines Landes.
Zitat aus der Titelgeschichte von "Keiner wird um etwas bitten" Die menschenleere Stadt glich einem leeren Musikinstrumentenkoffer – sperrangelweit geöffnet, deplatziert. "Schön, so ohne Menschen", sagte Softie. "Ohne Menschen gibt’s nicht", widersprach Artem.
Die politischen Entwicklungen und Umbrüche in der Ukraine, die Folgen der Majdanproteste 2014 und der Krieg im Land spiegeln sich auch in Zhadans literarischem Kosmos wieder. Der 2010 veröffentlichte Roman "Die Erfindung des Jazz im Donbass" wurde mit dem Jan-Michalski-Literaturpreis und mit dem Brücke-Berlin-Preis 2014 ausgezeichnet (zusammen mit den Übersetzer*innen Juri Durkot und Sabine Stöhr). Die BBC kürte das Werk zum Buch des Jahrzehnts. Außerdem veröffentlichte Zhadan zahlreiche Lyrikbände und organisiert in Charkiw, wo er lebt, Literatur- und Musik-Festivals. Dabei tritt er auch mit seiner eigenen Band Sobaky w Kosmossi (deutsch: Hunde im Kosmos) auf.
Die Popmusik spielt auch in seinem ersten, 2007 auf Deutsch erschienenen Roman "Depeche Mode", eine große Rolle.
Das Buch erzählt vom Leben dreier junger Männer in der postsozialistischen Ukraine in der Umbruchszeit der frühen 1990er-Jahre. Mit den Songs der britischen Elektropop-Band Depeche Mode flüchten sie aus dem Alltag. Die Hörbuchfassung von "Depeche Mode" wurde von Harry Rowohlt eingelesen.
Sein Roman "Internat” erzählt vom Krieg in der Ostukraine seit 2014 und wurde mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2018 ausgezeichnet. MDR KULTUR produzierte 2022 daraus eine Lesung mit der Schauspielerin Constanze Becker. Sein aktueller Band mit Erzählungen "Keiner wird um etwas bitten" (Suhrkamp) ist das literarische Dokument einer neuen Realität, wie es auf der Verlags-Website heißt. 2022 erhielt Zhadan den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, den Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken und den Freiheitspreis der Frank-Schirrmacher-Stiftung. Er lebt in Charkiw und ist seit Mai 2024 Soldat.
Zitat aus der Titelgeschichte von "Keiner wird um etwas bitten" Zeit gab es so viel wie Luft zum Atmen. Solange es etwas zum Atmen gab, so lange gab es Zeit. Alles andere schien viel weniger zwingend und notwendig. Zerbrochene Vorstellungen von Alltag, der veränderte Atem der Stadt, die dichte Luft eines müden Augusts – die Nacht kam, es war still, als hätten die Leute im Haus Angst, ihre Gegenwart zu zeigen. Das Abendessen blieb unangerührt und wurde kalt, sie gingen noch einmal die Nachrichten durch und legten sich schlafen – jeder in seinen Schlafsack.
Über die Schauspielerin Constanze Becker
Constanze Becker wuchs in Lübeck auf. Als Kind besuchte sie mit ihrer Mutter oft das Thalia-Teater in Hamburg: Die Inszenierung "Black Rider" von Robert Wilson sah sie mindestens 40 Mal. Becker studierte an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin. Sie war eine von den Schauspielerinnen, die der Filmregisseur Andres Veiel in seinem Film "Die Spielwütigen" 2003 dokumentierte. Nach dem Studium spielte Becker am Schauspiel Leipzig, am Düsseldorfer Schauspielhaus und am Deutschen Theater Berlin.
Sie wurde mit verschiedenen Inszenierungen zu Theatertreffen eingeladen. Für ihre Rolle der Frau John in Michael Thalheimers Inszenierung "Die Ratten" war Constanze Becker 2008 für den Faust-Theaterpreis nominiert. 2012 erhielt sie den Gertrud-Eysoldt-Ring für die Rolle der "Medea", ebenfalls von Thalheimer inszeniert. Seit der Spielzeit 2017/2018 ist sie Teil des Berliner Ensembles. Für MDR KULTUR las sie 2022 Serhij Zhadans Roman "Internat" ein.
Über den Schauspieler Janus Torp
Janus Torp, 1993 in Berlin geboren, sammelte 2005 erste Bühnenerfahrungen am Berliner Ensemble in Robert Wilsons Inszenierung von "Das Wintermärchen" und 2008 in Claus Peymanns "Richard III." Er studierte Schauspiel an der Otto Falckenberg Schule München. Während seines Studiums wirkte er in Produktionen der Münchner Kammerspiele und der Bayerischen Staatsoper mit, sowie in Kurzfilmen der Filmakademie Baden-Württemberg. Außerdem ist er als Sprecher für Hörspiel- und Hörbuch-Produktionen tätig. Seit der Spielzeit 2019/2020 gehört Janus Torp zum Ensemble des Deutschen Nationaltheaters Weimar. Für MDR KULTUR las er 2021 "Die Leiden des jungen Werther" von Johann Wolfgang von Goethe ein.
Angaben zur Sendung
MDR KULTUR Lesezeit
10.03. - 14.03. 2025
Keiner wird um etwas bitten
Von Serhij Zhadan
Übersetzung: Sabine Stöhr und Juri Durkot
Es lesen Constanze Becker und Janus Torp
(5 Folgen)
Produktion: MDR/NDR 2025
Sendung im Radio: 10.03. - 14.03. 2025 | Montag bis Freitag 9:05 Uhr und in der Wiederholung: Montag bis Freitag 19:05 Uhr
Die Lesung ist bis zum 10. März 2026 verfügbar und steht auch zum Download bereit.
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | MDR KULTUR Lesezeit | 10. März 2025 | 09:05 Uhr