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13. Februar 1945 Wie die Zerstörung Dresdens Familie Aris das Leben rettete
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13. Februar 2025, 09:00 Uhr
Am Donnerstag jährt sich die Zerstörung der Dresdner Innenstadt zum 80. Mal. Rund 25.000 Menschen kamen in der Februarnacht 1945 zu Tode. Aber einigen retteten die Bomben der Alliierten auch das Leben. Es waren die letzten jüdische Bewohner Dresdens, die kurz vor der Deportation der Nationalsozialisten standen.
Renate Aris muss ihn berühren: Den Zaun, an dem ihre Kindheit endete. Er steht noch. Fast 90 Jahre ist Renate Aris alt. Doch wenn sie auf das Haus im Dresdner Stadtteil Briesnitz blickt, ist alles wieder da: "Wir wussten genau: Ihr dürft nicht mit Anderen spielen. Ihr dürft nicht auf die Straße gehen." Der Gartenzaun war das Ende ihrer Welt. Denn Renate Aris' Vater war Jude.
Den gelben Stern, den Renate Aris damals tragen musste, trägt die kleine Frau in ihrer Handtasche. Es war für sie und ihren Bruder eine Kindheit ohne Schule, ohne Schwimmbad, ohne Kindergeburtstage. Viele ihrer Verwandten waren bereits deportiert worden, in den Tod, so wie hunderte der einst rund 5.000 Dresdner Jüdinnen und Juden.
Die Kinder ahnten es. Nur im Schutz der Dunkelheit durften sie manchmal in die Kohlenhandlung gegenüber: Einmal kurz mit anderen Kindern spielen. Dass sie mit dem Leben davon kamen bis Anfang 1945, lag allein an den nicht-jüdischen Eltern ihrer Mutter, bei denen Renate Aris mit ihrer Familie wohnte. Am 13. Februar sollte auch das zu Ende sein.
Mit der Identität der getöteten Freundin
Es war der Faschingsdienstag. Renate Aris' Vater musste zu den Behörden, Papiere abholen. Darauf der Deportationsbefehl für ihn und seine beiden Kinder: Abfahrt in drei Tagen, am 16. Februar 1945. Nur Stunden später, am Abend gegen 22 Uhr, fielen die Bomben der US-Amerikaner und Briten auf Dresden. Und Renate Aris' Mutter fasste einen Entschluss.
"Als mein Vater meiner Mutter von dem Deportationsbefehl erzählt hatte, das war in der Nacht zum 14. Februar, da hat meine Mutter gesagt: Ich lasse meine Kinder nicht in den Tod gehen, ich fliehe mit ihnen", erinnert sich Renate Aris.
Sie lief in die brennende Stadt, zu einer Freundin - und fand sie mit ihren zwei Kindern tot, erschlagen vor ihrem in Flammen stehenden Haus. "Sie kam zurück und hat uns gesagt: Das ist jetzt unser Name, unsere Adresse. Ihr müsst die andere Adresse vergessen. Wir fliehen." Mit der Identität ihrer toten Freundin und deren Kinder suchte sich Renate Aris' Mutter mit ihren Kindern einen Weg durch die Flammen.
Flucht durchs Flammenmeer
Renate Aris kann sich an Trümmer erinnern, an Teile von Menschenkörpern, an Feuer. Aber nicht an Gefühle. "Wir haben funktioniert, wir hatten Angst. Wir sind um unser Leben geflohen. Das war uns vollkommen klar. Die ganze Familie war ja schon im KZ." Ihre Kinderaugen, sagt Renate Aris, hätten vieles gesehen, was Kinderaugen nie sehen dürfen.
Auf dem Altmarkt Trümmer, nur die Reste der Kreuzkirche erkannte das neun Jahre alte Mädchen wieder. "Wir konnten nur dort gehen, wo Leichen lagen - denn dort brannte es nicht." Anderthalb Tage dauerte ihre Flucht durch das brennende Dresden. Immer nach Osten, denn dort irgendwo sollte die Rote Armee kämpfen, die Rettung.
Die Familie kam nur bis in den Osten Dresdens, bis an den Elbhang hoch über dem Blauen Wunder. Bekannte der Eltern besaßen dort eine Villa. Die war überfüllt mit Flüchtenden, doch ein kleines Ankleidezimmer mit vier Liegen war noch frei. Die vierköpfige Familie konnte sich darin verstecken.
"In die Tür vor diesem Zimmerchen hat der Besitzer Bretter genagelt", erinnert sich Renate Aris, "und er hat Äpfel darauf gelegt. Die Äpfel haben uns das Leben noch einmal gerettet." Denn selbst in seinen letzten Zügen hörte die Mordmaschinerie der Nationalsozialisten nicht auf zu arbeiten. Bei einer Kontrolle verbargen die Äpfel den Eingang zum Versteck der jüdischen Familie.
Nur 41 Jüdinnen und Juden überlebten in Dresden
Dort überlebte sie bis zum letzten Kriegstag. Danach gehörte Renate Aris zu jenen 41 Jüdinnen und Juden, die in Dresden noch am Leben waren. Sie durfte zur Schule gehen, zum ersten Mal. Niemand spürte, dass ihr mehrere Jahre Unterricht fehlten. Und 20 Verwandte, die in den Konzentrationslagern ermordet worden waren.
Sie litt unter der Zerstörung ihrer Heimatstadt und war gerührt, den Kreuzchor in der wieder aufgebauten Kreuzkirche zu hören. Sie erinnert sich, dass einige der jüdischen Geretteten bedrückte, dass ihr Überleben am 13. Februar 1945 in den Tod von Abertausenden verschlungen war. Nur manchmal sagten die Leute zu ihren Eltern: "Ihr habt so unkindliche Kinder. Sie wirken so erwachsen."
Dem Mut meiner Mutter, ihr Leben für unsere Rettung zur Verfügung zu stellen, bin ich es schuldig, bis heute darüber zu sprechen: So etwas Schlimmes wie 1945 und in den Jahren zuvor soll nie wieder passieren!
Renate Aris blickt heute auf die hellen und die rußgeschwärzten Steine in den Mauern der Kreuzkirche. Manches heilt, manches nicht. Doch sie kann darüber ohne Verbitterung sprechen mit einer heiteren, sächsischen Freundlichkeit.
"Dem Mut meiner Mutter, ihr Leben für unsere Rettung zur Verfügung zu stellen, bin ich es schuldig, bis heute darüber zu sprechen: So etwas Schlimmes wie 1945 und in den Jahren zuvor soll nie wieder passieren", sagt Renate Aris. "So lange ich das kann, werde ich das tun." Sie wird in diesem Jahr 90 Jahre alt. Sie ist die letzte Zeugin.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR SACHSENSPIEGEL | 12. Februar 2025 | 19:00 Uhr