Eine ältere Dame mit Brille wird interviewt.
Renate Aris ist eine der letzten lebende Zeitzeuginnen aus Sachsen, die den Holocaust überlebt hat. Im Interview mit MDR SACHSEN spricht sie über ihre Geschichte und wie sie auf die heutige Zeit blickt. Bildrechte: MDR / Renate Aris

Gedenktag Holocaust-Überlebende Renate Aris: "Ich habe Angst, dass vieles untergeht"

27. Januar 2023, 19:16 Uhr

Als eine der letzten Holocaust-Überlebenden Sachsens gehört Renate Aris zu den wenigen Menschen, die aus eigener Erfahrung berichten können, was Ausgrenzung, Verfolgung und Rassismus in der Zeit des Nationalsozialismus konkret bedeutet haben. Im Gespräch mit Andreas Roth von MDR SACHSEN erzählt die heute 87-Jährige, welche Erinnerungen am Holocaust-Gedenktag besonders präsent sind und wie wir uns in Zukunft erinnern, wenn es keine lebenden Zeitzeugen mehr gibt.

Heute ist Holocaust-Gedenktag. Gibt es eine Person, an die Sie heute ganz besonders denken, Frau Aris?

Renate Aris: Ich war ja noch sehr jung, aber ganz besonders denke ich an meine Großmutter väterlicherseits, die ja mit zu den Ersten gehörte, die nach Riga deportiert und dort stehenden Fußes erschossen wurde. Und ich erinnere mich natürlich an Verwandte. Es sind etwa 20 aus der väterlichen Familie, die im KZ geblieben sind, andere sind verschollen. Aber die große Erinnerung habe ich natürlich an meine Großmutter.

Über Renate Aris Renate Aris eine der letzten lebenden jüdischen Zeitzeuginnnen des Holocausts aus Sachsen. Aris wurde 1935 in Dresden geboren und erlebte in jungen Jahren die Schrecken des Nationalsozialismus. Bis 1945 wurden insgesamt 20 Familienmitglieder ermordet – darunter ihre Großmutter, die 1942 in Riga erschossen wurde. Ihrer eigene Deportation nach Theresienstadt entkam Aris durch den Luftangriff der Alliierten auf Dresden. Infolge der Bombardierung flüchtete Aris mit ihrer Mutter und ihrem Bruder.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war sie zunächst für viele Jahrzehnte Mitglied in der Jüdischen Gemeinde Dresden, später zog sie nach Chemnitz. Bis 2006 war sie Präsidiumsmitglied des Landesverbandes Sachsen der Jüdischen Gemeinden. Für ihr Engagement wurde Renate Aris mehrfach ausgezeichnet. 2003 wurde ihr in Jerusalem ein Zertifikat der "United Jewish Federation of Pittsburgh" überreicht. 2022 wurde ihr der Friedenspreis der Stadt Chemnitz verliehen.

An was erinnern Sie sich noch? Wie haben Sie damals die Verfolgung und Diskriminierung erlebt?

Es war für uns selbstverständlich: Ihr dürft nicht viel auf die Straße gehen. Ihr dürft nicht mit den anderen spielen, die eventuell auf der Straße sind. Ihr dürft nicht in die Schule gehen. Das war das Allerschlimmste. Ihr dürft nicht mit den anderen in das Freibad gehen. Ihr dürft nicht mit den anderen, wenn sie ins Theater oder Kino gehen.

Ihr dürft das alles nicht. Ihr dürft nicht in ein anderes Haus mit rein. Daran erinnert man sich natürlich und man erinnert sich daran, dass der Vater früh im Dunkeln ging und abends im Dunkeln zurückkam. Er war seit 1941 Zwangsarbeiter. Meine Mutter ist in Frankreich aufgewachsen und war natürlich einen ganz anderen Umgang gewöhnt. Sie hatte das Glück, dass sie als Verkäuferin bei einem Gemüsehändler eingestellt wurde.

Mussten Sie in einem sogenannten Judenhaus wohnen?

Wir hatten das große Glück, nicht in einem Judenhaus wohnen zu müssen, weil meine Mutter ursprünglich aus einer anderen nichtjüdischen Familie kam. Sie ist ja konvertiert.

Wir hatten das Glück, bei meiner Großmutter mütterlicherseits zu wohnen. Und das waren neun Parteien in diesem Haus. Es war ein abgeschlossenes Haus, ringsherum Zaun. Die anderen Hausbewohner haben uns, sagen wir freundlicherweise, geduldet. Aber obwohl meine Großmutter Nicht-Jüdin war, musste auch an der Vorsaaltür der Judenstern angebracht werden, weil ja jeden Abend gegen zehn kam die Polizei und man musste angeben, dass man noch da ist. Aber auch da sage ich Ihnen, gab es Polizeibeamte, die gesagt haben, lasst die Kinder schlafen.

Wussten Sie als Kind, was Ihnen als jüdische Person drohte? Wussten Sie von den Deportationen?

Ja, wir wussten das. Aber unsere Eltern haben möglichst viel von uns ferngehalten. Wir haben Fragen gestellt. Und es waren ja nicht nur unsere, es betraf auch Freunde. Plötzlich war niemand mehr da. Natürlich wussten wir das. Aber wie gesagt, die Eltern haben es gemieden. Sie haben versucht, mit den geringen Mitteln uns ein wenig Kindheit zu schaffen.

Welche Ängste hatten Sie damals?

Das kann ich Ihnen gar nicht mehr sagen. Aber als wir auf der Flucht waren, da kamen natürlich die Ängste. Aber so mit sechs, sieben oder acht Jahren kann ich mich daran nicht erinnern. Aber ich meine auch, dass uns die Großmutter und die Mutter immer versucht haben, die Ängste zu nehmen.

Welche Erinnerung ist besonders präsent bei Ihnen?

Die Zerstörung der Synagoge. Ich war klein, dennoch kann ich mich daran erinnern, dass mein Vater in das Zimmer kam und sagte: Die Synagoge brennt. Auch an die sogenannte Kristallnacht kann ich mich genau erinnern, auch wenn wir nicht direkt involviert waren. Aber die Synagoge brannte, die Geschäfte ebenso. Es war Aufruhr. Und da griff natürlich auch die Angst die Eltern an und das haben wir gespürt.

Nun müssen Sie wissen, meine Mutter und mein Vater sprachen perfekt Französisch. Die haben sich dann französisch unterhalten, damit wir Kinder möglichst nicht viel mitkriegen.

Die Schwester meines Vaters war die Einzige, die mit dem letzten Schiff nach Chile mit ihrem Mann emigriert ist. Sie hat noch im Mai 1938 die letzte Hochzeit in der Synagoge gehabt. Da war ich drei Jahre alt und mein Bruder und ich haben Blumen gestreut. Sie müssen sich diese riesige Synagoge vorstellen mit einer großen Orgel. Die wollte ich gerne erklimmen, aber das war natürlich nicht möglich.

Am 13. Februar 1945 begann die Bombardierung Dresdens. Wie haben Sie den Tag erlebt?

Am 13. Februar musste mein Vater zur Gestapo. Es war Faschingsdienstag. Und da hat er die Befehle bekommen. Am 16. Februar geht ihr ins KZ. Und er musste diese Nachricht auch noch den anderen Gemeindemitgliedern überbringen.

In der Nacht zum 14. Februar, also nicht sofort, sagte das mein Vater meiner Mutter. Und meine Mutter hat ihm entgegnet: Ich lasse meine Kinder nicht in den Tod gehen. Ich fliehe mit ihnen. Und sie ist in derselben Nacht in die Stadt gelaufen, um zu schauen, welche Namen und Adresse können wir annehmen, weil wir können ja nicht unter unserer eigenen Adresse fliehen. Da hat meine Mutter ihre Freundin, die wir auch kannten, erschlagen mit ihren Kindern vor ihrem zerstörten Haus gefunden. Und da ist meine Mutter nach Hause gekommen und hat gesagt: So, ab sofort heißt ihr so und habt dort gewohnt.

Wir haben unsere Sachen genommen und meine Mutter wollte mit uns in Richtung Prag, weil ja die Rote Armee von dort aus kam. Aber so weit sind wir nicht gekommen. Der Vater musste zu Hause bleiben. Er hat überlebt. Er war zu der Zeit Zwangsarbeiter in einer Abbruch-Firma, wo viele französische Zwangsarbeiter waren. Da hat man offensichtlich geglaubt, er sei Franzose, da er perfekt sprach. Und wir sind durch die Stadt geflohen.

Das Schlimmste war, als wir am Altmarkt ankamen und uns unseren Weg suchen mussten. Und ich muss das so sagen: Man hat Leichenberge aufgehäuft mit Mistgabeln. Es waren ja nicht nur Menschenkörper, es waren Torsos, es waren Arme, es waren Beine. Und die wurden auf Bergen angebrannt, Seuchengefahr. Und das war unser Weg, den wir dann gegangen sind.

Und wir haben uns durchgeschlagen. Ich glaube es waren anderthalb Tage bis zum Weißen Hirsch. Dort hatten meine Eltern Bekannte. Es war ein großes Einfamilienhaus mit einem großen Parkgelände darum. Und wir haben dort geklingelt. Der Besitzer kam. Er wollte gerade "Guten Tag Frau Aris" sagen und da hat meine Mutter einen Namen geflüstert und er hat es begriffen. Sie sagte dann: Können wir uns bei euch ausruhen? Und er meinte: "Ich habe doch nur noch ein kleines Zimmerchen." Denn das Haus war voller Flüchtlinge. Ausgebombt. Und das war wirklich ein kleines Zimmerchen, wie früher ein Ankleidezimmer. Und da hatte er in die Tür solche Bretter gelegt und dort seine Winter-Äpfel drauf. Dahinter stellte er zwei Liegen und sagte: "Hier verstecke ich euch."

Wie ging es danach weiter?

Die 30.000 oder mehr Toten, die erschlagenen Menschen, die verbrannte Menschen haben den Nazis noch nicht ausgereicht (Anm. d. Redaktion: Eine Expertenkommission kam zu dem Schluss, dass bei der Bombardierung von Dresden 1945 bis zu 25.000 Menschen ums Leben kamen). Die Nazis suchten weiterhin die Juden. Die sind am 15. und 16. nicht deportiert worden, weil der Leipziger Bahnhof hinter dem Neustädter Bahnhof kaputt war.

Also irgendwo mussten die Juden sein, dachten die Nazis sich. So sind sie durch die nicht-kaputten Häuser, haben dort geklingelt und haben gesagt: Habt ihr hier Juden beherbergt? Nein war zum Glück die Antwort.

Aber es waren ja noch Luftangriffe. Und dieses Haus hat keinen Keller. Das ist so an den Berg gebaut. Da müsste man den Weg runtergehen in den Bunker. Da hat uns dann der Besitzer mitgeschleppt. Aber wir sind dort nachts, als die anderen schliefen, auch mal ein bisschen rausgegangen – später auch mal ein bisschen ins Gelände.

Niemand sprach. Es waren keine weiteren Kinder da. Und dort sind wir bis zum 7. Mai 1945 geblieben. Und dann sind wir zurückgegangen, wieder nach Briesnitz zu meiner Großmutter. Und wissen Sie, es gab dann noch ein paar Leute in Dresden-Briesnitz, auch Leutewitz, die dann anfingen, in Richtung Stadt zu schießen, weil man dachte, dort kommt die Rote Armee. Da hat man ganz schnell noch die Flügelwegbrücke, eine der größten Brücken, gesprengt. Und da standen bei uns die Möbel schief in Briesnitz. Das ist immerhin ein paar Kilometer entfernt.

Jetzt sind wir zurück zu meiner Großmutter gegangen. Aber die Wohnung war ja noch nicht allzu groß. Und das Haus auf dem Weißen Hirsch leerte sich dann, nachdem am 8. Mai eine österreichische und amerikanische Flagge hochgegangen sind, die sich dort auch verborgen hatten. Das waren Dissidenten. Jetzt wussten wir, warum keiner gesprochen hatte. Und wir sind im September des gleichen Jahres praktisch in die Wohnung am Weißen Hirsch mit meiner Großmutter gezogen, in der wir überlebt hatten. Leider verstarb meine Mutter ganz plötzlich 1952 schon.

Und da hieß es zwei Tage nach meinem 17. Geburtstag auf einmal, einen vierköpfigen Haushalt zu führen. Nicht wie heute, man hatte damals einen Packen Lebensmittelkarten. Aber das ist eine andere Geschichte.

Wie hat sich das Erinnern und das Gedenken an die Shoa aus Ihrer Sicht verändert, seitdem es immer weniger Zeitzeugen gibt?  

Heute ist es ja so, dass wir die Erinnerungsveranstaltungen selber gestalten. Im Unterschied zum Beispiel zu Israel. Da macht es die Jugend. Das ist eine ganz andere Art von Erinnerungskultur. Ich habe Angst, dass vieles untergeht.

Weil es ist auch für engagierte Jugendliche schwer zu sagen, wir möchten das weiterführen, weil es zu viele gibt, die sagen: Lass mich damit in Frieden. Wenn ich höre, dass die Friedländer 101 Jahre alt ist, die spricht heute oder morgen wieder in Berlin. Na, so alt werde ich nicht, aber man weiß es nie.

Was glauben Sie könnte untergehen?

Es könnte untergehen, dass es tatsächlich so war. Denn sie hören ja oft, das kann doch gar nicht gewesen sein. Natürlich ist es beängstigend für mich. Ich habe Vorträge und Führungen von Schulklassen bis in alle Bevölkerungskreise hinein. Also ich muss wirklich sagen, das Unwissen ist beängstigend.

Der älteren Generation wurde es nicht vermittelt. Aber der heutigen Generation, der jungen Generation sei gesagt, ihr seid unsere Zukunft, ihr müsst den Frieden bewahren. Dann haben sie zwei oder drei Stunden über dieses Thema in der achten, siebenten oder sechsten Klasse und dann ist das vorbei. Wir und auch ich habe schon so oft gesagt: Räumt den Lehrveranstaltungen ein größeres Zeitfenster ein! Auch die Lehrer haben keine Zeit.

Man muss jung anfangen – am besten mit der dritten oder vierten Klasse. Und immer wieder wiederholen. Sie werden es erleben. Am 27. Januar laufen von früh bis abends Filme über Verfolgung. Guckt sich kein Mensch mehr an und ich auch nicht! Man muss das immer mal wiederbringen und nicht nachts um zwölf. Man muss es zu einer Zeit bringen, wo junge Leute auch wirklich fernsehen.

Haben Sie das Gefühl, dass die Jugend nicht interessiert ist?

Die jungen Menschen, wenn sie vor Ort sind, sind interessiert. In Annaberg war der Zuschauerraum voll. Die Stecknadel hätten sie fallen hören können für anderthalb Stunden. Und das war nicht gespielt.

Ich habe noch nie erlebt, dass junge Leute aufstehen und stehende Ovationen geben, wenn man ihnen einfach etwas berichtet hat und sie zu etwas aufruft. Es ist dem Theater auch zu danken, dass wir das Haus zur Verfügung gestellt bekommen haben. Das war eine würdige Umgebung.

Wie schauen Sie als Zeitzeugin auf die heutigen Konflikte?

Ich kann nur hoffen, dass sich eine ganze Reihe Menschen dafür interessieren und es weitergeht. Wir haben hier in Chemnitz die Gruppe der Buntmacher. Junge Leute, es sind auch ältere dabei, die sind richtig interessiert. Es hat auch einer dieser jungen Leute den Film "135 Jahre" gedreht. Dafür hat er auch zu Recht den Jugend-Friedenspreis der Stadt bekommen. Es gibt aber zu wenige von solchen Leuten. Für mich ist es wichtig, den jungen Leuten zu sagen: Macht eure Ohren zu, wenn ihr mit brauner Ideologie konfrontiert werdet.

Aber es ist schwer, dass den jungen Leuten zu vermitteln. Es hat in Deutschland noch nie eine so lange Zeitspanne gegeben, in der kein Krieg in diesem Land war. Auch das ist schon wieder drei Generationen her. Die jungen Leute fassen das doch nicht.

Wie blicken Sie auf den erstarkten Rechtspopulismus und Rechtsextremismus?  

Das ist für mich ein Phänomen, dass es so viele Menschen gibt, die dieser braunen Ideologie wieder folgen. Und das sind nicht nur Bildungsferne, wie man immer wieder hört, sondern das sind Akademiker, Ärzte und sonst was dabei.

Wie blicken Sie in die Zukunft?

90 Jahre strebe ich an, die paar Jährchen schaffe ich noch. Und ich habe drei Wünsche. Erstes: Einigermaßen gesund zu bleiben, weil ich in den letzten fünf Jahren schwerste Krankheiten - Gott sei Dank - überstanden habe.

Dann wünsche ich mir, dass der Alte Leipziger Bahnhof in Dresden eine Gedenkstätte, eine Begegnungsstätte, eine Lehrstelle wird. Denn von da aus sind Tausende und Abertausende Juden ins KZ geschickt worden. Und ich wünsche mir, die Kulturhauptstadt zu erleben.

Was würden Sie sich wünschen, wenn es eines Tages keine Zeitzeugen mehr gibt?

Berlin hat den Palast der Tränen. Und Dresden hatte den Palast der Tränen. Nur die Tränen der Menschen, die dort flossen, diese Menschen wurden nie wiedergesehen und einen authentischeren Ort als diesen alten Leipziger Bahnhof kann es nicht geben. Denn meines Wissens nach hat Sachsen als einziges Bundesland noch keinen zentralen Gedenkort an den Holocaust. Und da wird es wohl Zeit, wenn man so einen authentischen Ort hat. Und das gehört mit zu meinen Hauptwünschen.

Man muss nicht jede Schulklasse ins KZ, in irgendein KZ schleppen. An so einen Ort soll man sie schleppen, wo sie Erinnerung, wo sie das alles haben, wo sie aber auch Begegnungen und Lehre erleben können.

MDR (mad)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN | MDR SACHSENSPIEGEL | 27. Januar 2023 | 19:00 Uhr

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