Eine Frau mit Brille schaut freundlich in die Kamera.
Nicole Böer aus Meißen besorgt, dass das soziale Miteinander in ihrer Heimtstadt zerfallen sei. Deshalb sprach sie bei der Kundgebung über mehr Mitmenschlichkeit. Bildrechte: MDR/Stephan Hönigschmid

Vor Landtagswahl in Sachsen Kundgebung für Mitmenschlichkeit in Meißen: "Hass und Hetze nicht durchgehen lassen"

22. August 2024, 19:21 Uhr

"Wenn es keinen Blumentopf mehr zu gewinnen gibt, sind es die Frauen, die durchhalten und die Arbeit machen". Das sagte eine katholische Rednerin bei einer Kundgebung für Mitmenschlichkeit und Toleranz in Meißen. Dabei sah sie in viele zustimmende Gesichter von Frauen und einigen Männern. Zwei Wochen vor der Landtagswahl sprachen ausschließlich Rednerinnen gegen ein Sachsen der Ausgrenzung und Kälte.

Für Demokratie und Mitmenschlichkeit sind am Mittwochabend in Meißen ausschließlich Frauen auf die Bühne getreten und haben von sich erzählt. Es waren zehn Rednerinnen im Alter von 16 bis 80 Jahren, die auf dem Platz vor der Roten Schule in der Altstadt sprachen. "Ihre Stimmen, ihre Erlebnisse sollen uns alle inspirieren. Wir wollen keine Ängste schüren und keine negativen Gefühle verbreiten. Wir wollen Ermutigendes erzählen", sagte die Moderatorin des Abends, Jana Henker, vom veranstaltenden Verein Buntes Meißen.

Aufruf zum Einmischen und Mitmachen

Das griff die Meißnerin Nicole Böer auf und berichtete, wie sie Sprachkurslehrerin wurde und was das mit der Migrationsbewegung 2015 zu tun hatte. "Es waren Menschen da, die nicht gewollt wurden. Das konnte ich nicht verstehen. Es gab so viele Probleme, Missstände und Steine, die den Menschen in den Weg gelegt wurden." Sie wollte ihren Teil beitragen, das Ankommen zu erleichtern. Heute mache sie in den Deutschkursen "viele Leute glücklich". Böer rief die Frauen dazu auf, sich politisch zu engagieren. "Macht die Politik weiblich, nehmt die Räume ein, die da sind und lasst Hass und Hetze nicht durchgehen", rief sie ihnen zu.

Eine Frau und ein Mann im mittleren Alter lächeln in die Kamera.
Veronika (li.) und Andreas Lachnit aus dem Kreis Meißen waren zur Kundgebung gekommen, um optimistische Sichtweisen zu hören und sich in Gesprächen mit anderen zu stärken. Bildrechte: MDR/Stephan Hönigschmid

Über die Folgen verschärfter Einwanderungspolitik berichtete die Rechtsanwältin Diana Kopper. Die Juristin mit deutschen Wurzeln vertritt Migranten aus Venezuela in Puerto Rico. Kopper beschrieb lebensgefährliche Routen, auf denen Kinder zu Tode kämen, die Verzweiflung der betroffenen Eltern - die sich trotz der Gefahren auf den Weg machten. "Wenn ein Land keine Demokratie hat, dann gibt es keine Freiheit", sagte sie. Und: "Migration ist nichts, was wir als Problem sehen sollten, sondern mit dem wir gut und menschlich umgehen müssen."

Sich einbringen, solidarisch sein, dabei sein. Wenn ich etwas machen kann, dann wenigstens in diesem kleinen Rahmen.

Lina Wendel Schauspielerin (Polizeiruf, Die Füchsin), warum sie in Meißen mitdemonstrierte

Europa-Politikerin: Über Kälte und Desinteresse der Menschen reden

Dem stimmte Cornelia Ernst zu. Die Linken-Politikerin war 15 Jahre lang Europa-Abgeordnete mit dem Arbeitsschwerpunkt Asyl/Migration und führte die Iran-Delegation des Europäischen Parlaments. "Wenn wir über Toleranz und Demokratie sprechen, müssen wir über die Kälte und das Desinteresse der Menschen sprechen." Ernst berichtete vom Wegsehen im Kleinen, etwa in der Straßenbahn, wenn Schwächere Hilfe brauchten, aber auch vom großen Vergessen der Kriegsverbrechen wie Massenvergewaltigungen in Jugoslawien in den 1990er-Jahren. Oder dem Leid von Kriegsflüchtlingen, vor allem Frauen und Kindern.

Zahlreiche Menschen haben sich auf einem Platz in einer Altstadt versammelt. 1 min
Bildrechte: MDR/Stephan Hönigschmid
1 min

Fr 23.08.2024 11:31Uhr 01:03 min

https://www.mdr.de/nachrichten/sachsen/dresden/meissen/video-demonstration-meissen-mitmenschlichkeit-landtagswahl-100.html

Rechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

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"Wir erleben so offensichtlichen Rassismus in unserem Land, in Europa. Wir müssen dem rechten Gewäsch klar widersprechen und sagen: Migration bringt auch Positives. Die Menschen arbeiten hier und tragen zu unserem Wohlstand bei", so Ernst.

Appell an grundsätzliche Menschlichkeit

Aus Berlin nach Meißen waren die Schauspielerinnen Gisela Oechelhaeuser und Lina Wendel gekommen. Die 80 Jahre alte Oechelhaeuser erzählte von ihrer Mutter, die mit vier Kindern im zerstörten Nachkriegsdeutschland versuchte zu überleben. Eine unbekannte Frau habe die Not beim Blick auf die halbverhungerte dreijährige Gisela erkannt: "Das Wichtigste sind Socken, Schuhe und was zu essen. Und das gab sie uns", berichtete die Schauspielerin. An diese menschliche Geste der Frau, "die weder einen Dank, noch eine Gegenleistung erwartet hat, denke ich mein ganzes Leben lang", sagte Gisela Oechelhaeuser MDR SACHSEN.

Zwei ältere Frauen schauen lächelnd in die Kamera.
Die Schauspielerinnen Lina Wendel (re., bekannt aus dem Poizeiruf) und Gisela Oechelhaeuser setzten sich in ihren Reden für Menschlichkeit und Anstand ein. Bildrechte: MDR/Stephan Hönigschmid

Frauen mit Kopftuch: (K)ein rotes Tuch?

Für mehr Menschlichkeit sprach sich auch die Schülerin Aishat Pareulidze aus. Sie und ihre Familie waren 2021 aus Meißen nach Georgien abgeschoben worden. Aktuell ist die 16-Jährige Praktikantin im Büro des Landtagsabgeordneten Frank Richter (SPD) und in Sachsen zu Besuch. Sie sprach über das Kopftuch, an dem sich Deutsche immerzu stören würden. "Wenn ich die Menschen frage: Welches Problem haben Sie mit dem Kopftuch? Dann geben sie keine Antwort."

  • Mehr zum Fall der abgeschobenen Familie hören Sie in der ARD-Mediathek.

Eine junge Frau mit einem Kopftuch steht vor einem Mikrofon und spricht von einer Bühne.
In Ihrer Rede verwies Aishat Pareulidze darauf, dass es einen großen Unterschied gebe, ob frau ein Kopftuch trage, weil sie es wolle und sich aus Gründen dafür entschieden habe oder ob sie dazu gezwungen werde. Bildrechte: MDR/Stephan Hönigschmid

Aishat Pareulidze wünscht sich mehr Differenzierung. Sie betonte, dass es sehr wohl Länder gebe, in denen Mädchen und Frauen gezwungen würden, Kopftuch zu tragen und dort ihrer Rechte beschnitten würden. Aber: "Ich habe mich selbst dafür entschieden. Ich will es tragen, weil es Teil meiner Identität und meiner Religion ist." Auf die Frage, warum sich so viele in Deutschland am Kopftuch stören, habe sie eine Antwort gefunden. "Es liegt am Hass auf das, was fremd ist. Aber wir sind mehr als ein Kopftuch. Wir sind Menschen mit Zielen und Träumen, die etwas verwirklichen wollen."

Wir sollten aufhören, Menschen wegen ihrer Kleidung, Hautfarbe oder Frisur zu diskriminieren. Wir sollten eine Gesellschaft feiern, die stark ist, weil sie bunt ist.

Aishat Pareulidze Schülerin und Praktikantin

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MDR (kk/sth)

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