Integration Hilferuf aus Riesa: Mehr Personal für Geflüchtete gefordert
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01. März 2023, 05:00 Uhr
In vielen Kommunen Sachsens ist das Personal für die Integration von Geflüchteten knapp. Die Wartelisten für Deutschkurse sind voll, in Schulen fällt der Deutschunterricht aus. Die Stadt Riesa hat nun zusammen mit betroffenen Schulen, Kitas und Horten einen Hilferuf an Politiker in Bund und Land geschickt. Sie fordern schnelle Hilfe.
- Wegen Überlastung von Schulen, Kitas und Horten schickt die Stadt Riesa einen Hilferuf an die Landes- und Bundespolitik.
- In einem offenen Brief verlangt die Kommune für ihre Bildungseinrichtungen mehr Personal.
- Sachsens Sozialministerium will Hunderte neue Fachkräfte einstellen.
Arvid Pätzold ruft einen irakischen Junge zu sich. Mit Hilfe eines Übersetzungsgerätes teilt der Leiter des DRK-Hortes "Regenbogen" Riesa dem Minderjährigen mit, dass es Zeit für das Mittagessen ist. "Das ist eine enorme, aber nur kurzfristige Hilfe", sagt Pätzold. Von den 200 betreuten Kindern im Hort haben laut Pätzold mehr als 50 einen Migrationshintergrund.
Doch die Betreuung der Kinder und Jugendlichen sei an der absoluten Belastungsgrenze, sagt der Hortleiter. Deswegen hat er zusammen mit der Stadt Riesa und weiteren Bildungseinrichtungen einen Hilferuf an Politikerinnen und Politiker der Landes- und Bundespolitik adressiert. Sie fordern: den Betreuungsschlüssel in Schulen, Kitas und Horten anpassen und die Wartezeiten für Deutschkurse verkürzen.
Sprach-Barrieren verursachen Mehraufwand
Im DRK-Hort "Regenbogen" betreuen aktuell zwölf Erzieherinnen und Erzieher die Hortgruppen mit jeweils 20 Kindern, erklärt Hortleiter Pätzold. Mehr als jedes dritte Kind spreche mittlerweile kein deutsch. Da falle die Kommunikation im Alltag schwer, Konflikte seien nicht lösbar. "Ob das nun kulturelle oder familiäre Konflikte sind. Das ist mit einer Person in einer Gruppe von 20 Kindern nicht mehr aufzufangen", verdeutlicht Pätzold.
Was ich früher in zwei Stunden erledigen konnte, weil man auf einem Sprachniveau war, dauert jetzt bis zu sieben Stunden.
Da helfe auch kein Übersetzungsgerät mehr, findet Pätzold und nennt ein Alltagsbeispiel: Für ein Gespräch mit deutschsprachigen Eltern brauche der Hortleiter etwa fünf Minuten, mit einem nicht deutschsprachigen Elternteil oft eine halbe Stunde. Es fehle nicht nur Personal, um auf die Kinder individuell einzugehen, sondern auch die Zeit. "Was ich früher in zwei Stunden erledigen konnte, weil man auf einem Sprachniveau war, dauert jetzt bis zu sieben Stunden."
Personalschlüssel überdenken
Dem DRK-Hort sei zur Abhilfe ein Dolmetscherbüro zugewiesen worden. Das ist für Pätzold aber keine Lösung: "Das Büro kostet in der ersten Stunde 75 Euro. Das können sich weder wir als freier Träger, noch die Eltern leisten." Für jedes nicht deutschsprachige Kind müsste es laut Pätzold einen anderen Personalschlüssel geben. Außerdem sollte der Mehraufwand auch für die Elterngespräche berücksichtigt werden.
Schulen und Kitas melden Engpässe
Mit Beginn des Kriegs gegen die Ukraine sei auch die Zahl der Geflüchteten in Riesa deutlich gestiegen, weiß Riesas Ordnungsbürgermeisterin Kerstin Köhler. Demnach stieg die Anzahl der Asylbewerber in Riesa in diesem Januar im Vergleich zum vergangenen Jahr um mehr als ein Drittel auf nunmehr 627 Geflüchtete. Hinzu kämen noch 530 Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine.
Wir können hier das Personal nicht alleine stehen lassen. Wir müssen im Rahmen unserer Möglichkeiten Unterstützung anbieten.
Der DRK-Hort "Regenbogen" steht mit seinem Hilferuf nicht alleine, sagt Köhler. Weitere Schulen und Kitas hätten sich mit ähnlichen Problemen in den vergangenen Monaten gemeldet. Deswegen habe die Stadt zusammen mit den betroffenen Einrichtungen den Hilferuf an die Landes- und Bundesregierung formuliert, so Köhler: "Wir können hier das Personal nicht alleine stehen lassen. Wir müssen im Rahmen unserer Möglichkeiten Unterstützung anbieten."
Mehr Personal von Bund und Land gefordert
Riesa und der Landkreis Meißen könnten nur begrenzt helfen, sagt Ordnungsbürgermeisterin Köhler. Es fehle Geld für zusätzliches Personal: "Unsere Finanzausstattung ist gleich geblieben. Da gab es keine zusätzlichen Mittel. Es muss deswegen sehr viel über das Ehrenamt organisiert werden." Ein Tropfen auf den heißen Stein seien da die Übersetzungsgeräte, die die Stadt Riesa auf eigene Kosten gekauft hat. Vielmehr sieht Köhler den Freistaat und Berlin in der Verantwortung: "Hier geht der Hilferuf an das Land und den Bund, die Personalschlüssel zu verbessern sowie niederschwelligere Zugangsvoraussetzungen für Betreuer zu schaffen."
Lange Warteliste für Deutschkurse
Auch in der Volkshochschule Riesa (VHS) ist die Personaldecke auf Kante genäht. Dort stemmt Tina Uhlemann zusammen mit einer weiteren Kollegin die Deutsch- und Integrationskurse. Die Warteliste für ihre Deutschkurse sei lang, sagt Uhlemann. Mehr als 100 Interessenten warteten teilweise schon mehr als ein Jahr auf einen Sprachkurs. Vor einem Jahr sah das laut Uhlemann noch ganz anders aus: "Vor März 2022 hatte ich teilweise Monate auf einen neuen Kurs warten müssen, weil die Teilnehmer nicht zustande kamen."
Die Menschen können sonst keine Ausbildung anfangen und keinen Beruf ausführen, weil es immer die Sprachbarriere gibt.
Dabei sei es wichtig, dass die Geflüchteten schnell die deutsche Sprache erlernen, sagt Uhlemann. "Die Menschen können sonst keine Ausbildung anfangen und keinen Beruf ausführen, weil es immer die Sprachbarriere gibt", erklärt die Integrationspädagogin. Ein Problem sieht Uhlemann in der Lehrkräftezulassung für Integrationskurse. Die Zugangsvoraussetzungen seien zu hoch, denn potentielle Dozenten müssten neben einem Hochschulstudium auch 500 Stunden Praxiserfahrung im Unterrichten von Deutsch als Fremdsprache mitbringen. Dabei könnten Seiteneinsteiger den Stau bei den Deutschkursen entlasten helfen, meint Köhler. Durch Online-Unterricht könnten Geflüchteten zusätzliche Deutschkurse angeboten werden.
Zusätzliche Hilfe dringend erforderlich
Für den Vize-Vereinsleiter des Vereins "Sprungbrett" in Riesa, Martin Tritschler, wird das akute Fachkräfteproblem in den pädagogischen Einrichtungen durch die aktuelle Lage noch offensichtlicher. Entscheidend für ihn sei zusätzliche Hilfe für das vorhandene Personal, so Tritschler: "Wir behelfen uns gerade viel mit ehrenamtlichen Helfern. Ideal wären Menschen mit eigenem Migrationshintergrund, die ein kulturelles und sprachliches Verständnis haben."
Zusätzliche Fachkräfte und Online-Sprachkurse
Auf Anfrage von MDR SACHSEN verweist Sachsens Sozialministerium auf den Personalschlüssel, der sich via Kita-Qualitätsgesetz ab August 2023 an Kindergärten und Horten verbessern soll. Das Ziel sei, in Sachsen 1.000 zusätzliche pädagogische Fachkräfte einzustellen.
Auch bei Deutsch- und Integrationskursen gibt es laut Ministerium bereits Entlastungen. So soll die Dozentenzulassung durch eine zeitlich begrenzte Regelung einfacher werden. Die Regeln sehen vor, dass Vertretungslehrkräfte auch ohne Zulassung in begründeten Ausnahmen, wie Krankheitsvertretungen, unterrichten dürfen. Diese Ausnahme ist bis Juni 2024 befristet. Die Sonderregeln sehen noch eine Erleichterung vor. So soll die Hälfte der Sprachkurse ab Januar 2024 auch als Online-Seminare angeboten werden können.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Nachrichten | 24. Februar 2023 | 09:48 Uhr