80 Jahre Befreiung von Auschwitz Mit KI an Holocaust-Opfer erinnern: Radebeuler Schüler gestalten App-Rundgang
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27. Januar 2025, 05:00 Uhr
Durch Nationalsozialisten sind Millionen Menschen, allen voran Jüdinnen und Juden, in Deutschland ermordet worden. Sinnbild für die Auslöschung von Menschen, die nicht ins Bild der NS-Ideologen passten, wurde das Vernichtungslager Auschwitz. Sowjetische Soldaten befreiten das Lager heute vor 80 Jahren. In Radebeul wollen nun Schüler mit einer App an NS-Opfer in ihrem Heimatort erinnern. Künstliche Intelligenz ermöglicht es, an die längst vergessenen Familienschicksale zu gedenken.
- Schüler haben eine App gestaltet, um in Radebeul an verfolgte jüdische Familien in der NS-Zeit zu erinnern.
- Eine Geschichtslehrerin will mit dem Projekt abstrakte Geschichte für ihre Schüler nachvollziehbar machen.
- Der virtuelle Rundgang macht auf Familien aufmerksam, von denen manche in Auschwitz starben.
Kalt fegt der Wind über den Hügel, auf dem die Villa Wach in Radebeul steht. Der altehrwürdige Bau hat seinen Namen von einer jüdischen Radebeuler Familie. Berühmter Vorfahre der Familie ist der Komponist Felix Mendelsohn-Bartholdy.
Doch das Schicksal seiner Nachfahren - des Radebeuler Ehepaares Felix und Katharine Wach - sei tragisch gewesen, erklärt Ben. Der Schüler steht auf der großen Freitreppe des Anwesens. "Die Familie Wach wurde in der Zeit des Nationalsozialismus zwangsenteignet", sagt er. Jeder Versuch, ihren Besitz zu behalten, sei gescheitert.
Felix Wach starb 1943 nach Übersiedlung der Familie in Dresden. Katharine Wach überlebte die Zeit des Nationalsozialismus und floh erst nach Schweden und zog dann in die Schweiz.
Schüler wollen an NS-Verfolgte erinnern
An der Villa Wach selbst erinnert heute nichts an die einstigen Besitzer. Ben und seine Mitschüler Jonas, Adrian und Wilhelm wollen das ändern.
Wir haben einen virtuellen Rundgang erstellt, der durch Radebeul führt und die Schicksale von vier Familien vorstellt.
Sie haben mit dem App-Format "Actionbound" einen digitalen Erinnerungsrundgang gestaltet, um das jüdische Leben in Radebeul während der NS-Zeit bekannter zu machen. "Wir haben einen virtuellen Rundgang erstellt, der durch Radebeul führt und die Schicksale von vier Familien vorstellt", erklärt Ben.
Digitaler Rundgang macht auf jüdische Familien aufmerksam
Das Projekt sei im Rahmen einer Studienarbeit im Geschichtsunterricht entstanden. Die Schüler des Lößnitzgymnasiums Radebeul recherchierten in Bibliotheken und im Stadtarchiv, um mehr über die Familien Wach, Sondhelm, Aronade sowie Gerstle und Salzburg zu erfahren, erklärt Ben. Er steht zusammen mit seinem Mitschüler Jonas auf der weiträumigen Terrasse - von der auch einst Felix und Katharine Wach in ihren Garten schauten.
Jüdische Familien kommen durch KI selbst zu Wort
Jonas und Ben schauen über ihr Handy in die App, die wie eine virtuelle Schnitzeljagd gestaltet ist. An vier Stationen - genannt Bounds, abgeleitet vom Namen der App - erfährt man mehr zu den jüdischen Familien. In KI-generierten Videos kommen die ehemaligen Besitzer selbst zu Wort und berichten auf Grundlage von Tagebucheinträgen und historischen Dokumenten über ihre Verfolgung in der NS-Zeit.
Mir waren die Schicksale, die die Familien erleiden mussten, gar nicht so bewusst. Durch die intensive Auseinandersetzung mit dem Thema versteht man erst, was in dieser Zeit passiert ist.
Dass sich die systematische Verfolgung jüdischer Menschen direkt in seinem Heimatort abspielte, habe er vorher nicht gewusst, sagt Jonas: "Mir waren die Schicksale, die die Familien erleiden mussten gar nicht so bewusst. Durch die intensive Auseinandersetzung mit dem Thema versteht man erst, was in dieser Zeit passiert ist."
Geschichtslehrerin: Historische Prozesse nachvollziehbar machen
Darum sei es auch ihrer Geschichtslehrerin Tanja Bendel gegangen: Geschichte lokal erfahrbar machen. "Im Geschichtsunterricht haben wir es immer mit großen historischen Prozessen zu tun, die für 16-Jährige nur sehr schwer nachzuvollziehen sind. Und die Lehrerin fügt hinzu: "Der biografische Bezug ergibt die Möglichkeit, Parallelen zu sich selbst und seiner eigenen Zeit zu ziehen."
Der biografische Bezug ergibt die Möglichkeit, Parallelen zu sich selbst und seiner eigenen Zeit zu ziehen.
Der Rundgang diene dazu, Radebeul von einer anderen Seite aus kennenzulernen: "Unter dem Blickpunkt, wer hier früher lebte, ausgegrenzt, deportiert und ausgelöscht wurde."
Stolperstein soll an dramatische Familiengeschichte erinnern
Die Schüler Ben, Jonas, Adrian und Wilhelm laufen ihren virtuellen Rundgang über die App bis zur nächsten Station an prächtigen Villen und weniger auffälligen Gebäuden in Radebeul entlang. Eines der eher unauffälligen, ist das, wo einst die jüdische Familie Aronade lebte.
Das Haus sticht durch seinen roten Farbton hervor, doch an das tragische Schicksal der Familie Aronade erinnert keine Gedenktafel. Künftig soll ein Stolperstein gesetzt werden. Eisig zieht kalter Wind durch die Clara-Zetkin-Straße. Wilhelm holt sein Handy aus der Hosentasche und tippt auf die App. "Dort erfährt man etwas über die Flucht der beiden Söhne der Familie", erklärt Wilhelm.
Radebeuler Familie stirbt im Vernichtungslager Auschwitz
Einer der Söhne - Günther Aronade - habe zwar über die Niederlande nach Frankreich fliehen können, erzählt der 18-Jährige. "Aber er wurde dort gefasst, ist nach Auschwitz gekommen und wurde umgebracht." Auch die Mutter Katharina Aronade wurde in Auschwitz ermordet.
Der ältere Sohn Kurt überlebte den Holocaust. Er kam nach einer Flucht-Odyssee über die Niederlande, Dänemark und Schweden ins damalige Palästina - den heutigen Staat Israel. Ihn habe es bewegt von den Schicksalen der jüdischen Familien zu erfahren, sagt Adrian. "Es gab so viele jüdische Familien hier, von denen ich nichts wusste", sagt der 17-Jährige.
Einfach sei es nicht gewesen, über diese Familien noch etwas herauszufinden, sagt Adrian: "Wir waren im Stadtarchiv und haben uns mit Historikern unterhalten. Letztendlich war es jedoch schwer, verlässliche Quellen zu finden."
Historiker: Erinnerung muss lebendig bleiben
Geholfen bei der Recherche hat den Schülern die AG Geschichte Radebeul, die auf die Schicksale jüdischer Familien im Heimatort aufmerksamer machen will. "Es reicht einfach nicht aus, nur Stolpersteine zu verlegen und Erinnerungsdenkmale zu schaffen", sagt der Historiker Daniel Ristau, der sich in der AG-Geschichte Radebeul engagiert.
Es reicht einfach nicht aus, nur Stolpersteine zu verlegen und Erinnerungsdenkmale zu schaffen.
Erinnerungskultur könne nur lebendig bleiben, wenn sie lebendig gehalten werde, meint er. "Man sollte versuchen, Menschen einzubinden, die diese Geschichten noch nicht kennen und die dann selbst dazu beitragen, damit diese Orte und Biografien wieder mit Leben versehen werden."
Rundgang durch Baukastensystem erweiterbar
Und auch an weitere verfolgte jüdische Familien Radebeuls könnte künftig noch durch den virtuellen Rundgang erinnert werden, erklärt Geschichtslehrerin Tanja Bendel. Die App sei wie ein Baukastensystem aufgebaut und somit leicht erweiterbar.
MDR (phb)
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Regionalnachrichten aus dem Studio Dresden | 27. Januar 2025 | 13:30 Uhr
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