Ben und Jonas präsentieren Fotos von NS-Opfern und eine App über ein Handy.
Ben (links) und Jonas zeigen historische Fotos der ehemaligen Bewohner der Villa Wach - Felix und Katharine Wach. Über ihre selbst gestaltete App erfährt man mehr über die im Nationalsozialismus enteignete Familie. Bildrechte: MDR/Philipp Brendel

80 Jahre Befreiung von Auschwitz Mit KI an Holocaust-Opfer erinnern: Radebeuler Schüler gestalten App-Rundgang

27. Januar 2025, 05:00 Uhr

Durch Nationalsozialisten sind Millionen Menschen, allen voran Jüdinnen und Juden, in Deutschland ermordet worden. Sinnbild für die Auslöschung von Menschen, die nicht ins Bild der NS-Ideologen passten, wurde das Vernichtungslager Auschwitz. Sowjetische Soldaten befreiten das Lager heute vor 80 Jahren. In Radebeul wollen nun Schüler mit einer App an NS-Opfer in ihrem Heimatort erinnern. Künstliche Intelligenz ermöglicht es, an die längst vergessenen Familienschicksale zu gedenken.

Kalt fegt der Wind über den Hügel, auf dem die Villa Wach in Radebeul steht. Der altehrwürdige Bau hat seinen Namen von einer jüdischen Radebeuler Familie. Berühmter Vorfahre der Familie ist der Komponist Felix Mendelsohn-Bartholdy.

Wachsche Villa mit Freitreppe von Süden, ca. 1925
In der Villa Wach lebte die gleichnamige Familie bis Ende der 1930er-Jahre. Ihr Besitz wurde Felix und Katharine Wach durch die Nationalsozialisten entrissen. (Archivbild) Bildrechte: Slg. D. Ristau

Doch das Schicksal seiner Nachfahren - des Radebeuler Ehepaares Felix und Katharine Wach - sei tragisch gewesen, erklärt Ben. Der Schüler steht auf der großen Freitreppe des Anwesens. "Die Familie Wach wurde in der Zeit des Nationalsozialismus zwangsenteignet", sagt er. Jeder Versuch, ihren Besitz zu behalten, sei gescheitert.

Felix Wach starb 1943 nach Übersiedlung der Familie in Dresden. Katharine Wach überlebte die Zeit des Nationalsozialismus und floh erst nach Schweden und zog dann in die Schweiz.

Katharine Wach
Katharine Wach wurde während der NS-Zeit im Lager Meckenbeuren-Liebenau interniert, konnte jedoch über Schweden in die Schweiz emigrieren. Bildrechte: Stadtgeschichtliches Museum Leipzig

Schüler wollen an NS-Verfolgte erinnern

An der Villa Wach selbst erinnert heute nichts an die einstigen Besitzer. Ben und seine Mitschüler Jonas, Adrian und Wilhelm wollen das ändern.

Wir haben einen virtuellen Rundgang erstellt, der durch Radebeul führt und die Schicksale von vier Familien vorstellt.

Ben Schüler

Sie haben mit dem App-Format "Actionbound" einen digitalen Erinnerungsrundgang gestaltet, um das jüdische Leben in Radebeul während der NS-Zeit bekannter zu machen. "Wir haben einen virtuellen Rundgang erstellt, der durch Radebeul führt und die Schicksale von vier Familien vorstellt", erklärt Ben.

Ben und Jonas präsentieren Fotos von NS-Opfern und eine App über ein Handy. 2 min
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Digitaler Rundgang macht auf jüdische Familien aufmerksam

Das Projekt sei im Rahmen einer Studienarbeit im Geschichtsunterricht entstanden. Die Schüler des Lößnitzgymnasiums Radebeul recherchierten in Bibliotheken und im Stadtarchiv, um mehr über die Familien Wach, Sondhelm, Aronade sowie Gerstle und Salzburg zu erfahren, erklärt Ben. Er steht zusammen mit seinem Mitschüler Jonas auf der weiträumigen Terrasse - von der auch einst Felix und Katharine Wach in ihren Garten schauten.

Zwei ehemalige Wohngebäude von NS-Opfern in Radebeul von außen.
Heute ist in der Villa Wach ein Hort untergebracht. Künftig soll ein Stolperstein an die ehemaligen jüdischen Besitzer erinnern. Bildrechte: MDR/Philipp Brendel

Jüdische Familien kommen durch KI selbst zu Wort

Jonas und Ben schauen über ihr Handy in die App, die wie eine virtuelle Schnitzeljagd gestaltet ist. An vier Stationen - genannt Bounds, abgeleitet vom Namen der App - erfährt man mehr zu den jüdischen Familien. In KI-generierten Videos kommen die ehemaligen Besitzer selbst zu Wort und berichten auf Grundlage von Tagebucheinträgen und historischen Dokumenten über ihre Verfolgung in der NS-Zeit.

Mir waren die Schicksale, die die Familien erleiden mussten, gar nicht so bewusst. Durch die intensive Auseinandersetzung mit dem Thema versteht man erst, was in dieser Zeit passiert ist.

Jonas Schüler

Dass sich die systematische Verfolgung jüdischer Menschen direkt in seinem Heimatort abspielte, habe er vorher nicht gewusst, sagt Jonas: "Mir waren die Schicksale, die die Familien erleiden mussten gar nicht so bewusst. Durch die intensive Auseinandersetzung mit dem Thema versteht man erst, was in dieser Zeit passiert ist."

Geschichtslehrerin: Historische Prozesse nachvollziehbar machen

Darum sei es auch ihrer Geschichtslehrerin Tanja Bendel gegangen: Geschichte lokal erfahrbar machen. "Im Geschichtsunterricht haben wir es immer mit großen historischen Prozessen zu tun, die für 16-Jährige nur sehr schwer nachzuvollziehen sind. Und die Lehrerin fügt hinzu: "Der biografische Bezug ergibt die Möglichkeit, Parallelen zu sich selbst und seiner eigenen Zeit zu ziehen."

Tanja Bendel 1 min
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Der biografische Bezug ergibt die Möglichkeit, Parallelen zu sich selbst und seiner eigenen Zeit zu ziehen.

Tanja Bendel Geschichtslehrerin

Der Rundgang diene dazu, Radebeul von einer anderen Seite aus kennenzulernen: "Unter dem Blickpunkt, wer hier früher lebte, ausgegrenzt, deportiert und ausgelöscht wurde."

Stolperstein soll an dramatische Familiengeschichte erinnern

Die Schüler Ben, Jonas, Adrian und Wilhelm laufen ihren virtuellen Rundgang über die App bis zur nächsten Station an prächtigen Villen und weniger auffälligen Gebäuden in Radebeul entlang. Eines der eher unauffälligen, ist das, wo einst die jüdische Familie Aronade lebte.

Zwei ehemalige Wohngebäude von NS-Opfern in Radebeul von außen.
Ans Schicksal der Familie Aronade erinnert in der Clara-Zetkin-Straße 5 aktuell noch nichts. Demnächst soll aber ein Stolperstein in Gedenken an die Familie verlegt werden. Dafür setzt sich die AG Geschichte Radebeul ein. Bildrechte: MDR/Philipp Brendel

Das Haus sticht durch seinen roten Farbton hervor, doch an das tragische Schicksal der Familie Aronade erinnert keine Gedenktafel. Künftig soll ein Stolperstein gesetzt werden. Eisig zieht kalter Wind durch die Clara-Zetkin-Straße. Wilhelm holt sein Handy aus der Hosentasche und tippt auf die App. "Dort erfährt man etwas über die Flucht der beiden Söhne der Familie", erklärt Wilhelm.

Adrian und Wilhelm zeigen eine App über ein Handy.
Wilhelm (links) und Adrian haben sich näher mit der Geschichte der Familie Aronade in Radebeul beschäftigt. Dass zwei Angehörige dieser Familie in Auschwitz starben, habe beide Schüler sehr bewegt, erzählen sie. Bildrechte: MDR/Philipp Brendel

Radebeuler Familie stirbt im Vernichtungslager Auschwitz

Einer der Söhne - Günther Aronade - habe zwar über die Niederlande nach Frankreich fliehen können, erzählt der 18-Jährige. "Aber er wurde dort gefasst, ist nach Auschwitz gekommen und wurde umgebracht." Auch die Mutter Katharina Aronade wurde in Auschwitz ermordet.

Günther Aronade
Der Radebeuler Günther Aronade starb mit nur 25 Jahren im Vernichtungslager Auschwitz. Bildrechte: Slg. D. Ristau

Der ältere Sohn Kurt überlebte den Holocaust. Er kam nach einer Flucht-Odyssee über die Niederlande, Dänemark und Schweden ins damalige Palästina - den heutigen Staat Israel. Ihn habe es bewegt von den Schicksalen der jüdischen Familien zu erfahren, sagt Adrian. "Es gab so viele jüdische Familien hier, von denen ich nichts wusste", sagt der 17-Jährige.

Einfach sei es nicht gewesen, über diese Familien noch etwas herauszufinden, sagt Adrian: "Wir waren im Stadtarchiv und haben uns mit Historikern unterhalten. Letztendlich war es jedoch schwer, verlässliche Quellen zu finden."

Adrian und Wilhelm zeigen eine App über ein Handy. 2 min
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Historiker: Erinnerung muss lebendig bleiben

Geholfen bei der Recherche hat den Schülern die AG Geschichte Radebeul, die auf die Schicksale jüdischer Familien im Heimatort aufmerksamer machen will. "Es reicht einfach nicht aus, nur Stolpersteine zu verlegen und Erinnerungsdenkmale zu schaffen", sagt der Historiker Daniel Ristau, der sich in der AG-Geschichte Radebeul engagiert.

Daniel Ristau
Der Historiker Daniel Ristau erforscht schon seit längerer Zeit die Geschichte jüdischer NS-Verfolgter in Radebeul. Bildrechte: MDR/Philipp Brendel

Es reicht einfach nicht aus, nur Stolpersteine zu verlegen und Erinnerungsdenkmale zu schaffen.

Daniel Ristau Historiker

Erinnerungskultur könne nur lebendig bleiben, wenn sie lebendig gehalten werde, meint er. "Man sollte versuchen, Menschen einzubinden, die diese Geschichten noch nicht kennen und die dann selbst dazu beitragen, damit diese Orte und Biografien wieder mit Leben versehen werden."

Rundgang durch Baukastensystem erweiterbar

Und auch an weitere verfolgte jüdische Familien Radebeuls könnte künftig noch durch den virtuellen Rundgang erinnert werden, erklärt Geschichtslehrerin Tanja Bendel. Die App sei wie ein Baukastensystem aufgebaut und somit leicht erweiterbar.

Drei Flyer mit Zugangsdaten für eine App.
Über Flyer bekommen Interessierte die App-Zugangsdaten für den virtuellen Rundgang. Sie sind in der Touristeninformation Radebeul erhältlich. Bildrechte: MDR/Philipp Brendel

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MDR (phb)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Regionalnachrichten aus dem Studio Dresden | 27. Januar 2025 | 13:30 Uhr

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