Ein Mädchen mit einer Maske steht vor einer Reihe Containern
Ein Mädchen vor einer Flüchtlingsunterkunft. (Archiv) Bildrechte: imago/Gustavo Alabiso

Integration 2015 und heute: Was hat die Politik aus der Fluchtbewegung gelernt?

25. Februar 2023, 13:48 Uhr

Ähnlich wie 2015 sind auch in den vergangenen Monaten viele Menschen nach Deutschland und Thüringen geflohen. Und wieder zeigen sich viele Landkreise bei der Unterbringung der Geflüchteten überfordert. Warum holpert es seit Kriegsausbruch in der Ukraine noch immer so bei der Aufnahme von Flüchtlingen?

Inhalt des Artikels:

Von einem Déjà-Vu könnte man sprechen: Kommunen und Landkreise, die mit der Unterbringung von Geflüchteten überfordert sind, diverse Migrationsgipfel und ein Verantwortungs-Pingpong zwischen Bund und Ländern über die Finanzierung von Unterbringungsmöglichkeiten. Alles irgendwie schon einmal dagewesen - damals 2015 und 2016, als vor allem infolge des Kriegs in Syrien viele Menschen nach Europa flüchteten.

Klar ist: Die Fluchtbewegungen der vergangenen Monate lassen sich nur bedingt vergleichen mit 2015 und 2016. Denn ukrainische Kriegsflüchtlinge können aufgrund einer europäischen Sonderregel das Asylverfahren quasi überspringen und ihre Integration ist deutlich weniger reglementiert. Dennoch bleibt die Frage: Was hat die Politik tatsächlich in der Zwischenzeit bei der Unterbringung und Integration von geflüchteten Menschen gelernt?  

Warum Ukrainer anders als Geflüchtete aus Syrien behandelt werden

Wichtig zu unterscheiden ist, dass ab 2015 vor allem Menschen nach Deutschland flohen, die hierzulande als Asylbewerberinnen und -bewerber gelten. Für Syrer, Somalierinnen oder Afghanen gilt, dass sie ein Asylverfahren durchlaufen müssen und ihr Start in Deutschland durch das Asylbewerberleistungsgesetz geregelt wird. Nach Ausbruch des Ukraine-Krieges hingegen aktivierte die EU im März erstmals die sogenannte Massenzustrom-Richtlinie.

Die Folge: Die ankommenden Ukrainerinnen und Ukrainer überspringen quasi das Asylverfahren und bekommen unkompliziert einen Aufenthaltstitel. Sie müssen nicht in Aufnahmeeinrichtungen an einem bestimmten Ort wohnen und erhalten Sozialleistungen wie Hartz IV oder Geld zum Wohnen. Insgesamt betrachtet erhalten Flüchtlinge aus der Ukraine mehr Geld zum Leben und der Einstieg unter anderem in die Arbeitswelt wird ebenfalls vereinfacht.

Wie angespannt die Lage bei der Aufnahme ist

Allein ein Blick auf die Zahlen verdeutlicht, dass die Kommunen in diesen Zeiten nicht weniger zu tragen haben. Insgesamt suchten im Jahr 2022 mehr Menschen im Freistaat Schutz als vor sieben Jahren. Über 30.000 Ukraine-Flüchtlinge kamen im vergangenen Jahr nach Thüringen. Viele von ihnen sind auf die Hilfe der Kommunen angewiesen, sofern sie nicht selbst eine Unterkunft gefunden haben.

Hinzu kamen Tausende Asylsuchende aus anderen Ländern, die von den Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes an die Kommunen verteilt werden. Doch bei der Aufnahme der Geflüchteten endet die Arbeit der Kommunen nicht: soziale Betreuung, Integration in den Arbeitsmarkt, Kita-Plätze - all das findet dort statt.

Viele Landkreise klagen darüber, dass sie nicht noch mehr Geflüchtete aufnehmen könnten. "Unsere Kapazitäten sind aufgebraucht und die Akzeptanz in der Bevölkerung schwindet mit jeder Nutzung einer Turnhalle", kritisiert beispielsweise die Landkreistagspräsidenten Martina Schweinsburg, selbst Landrätin (CDU) im Ostthüringischen Greiz.

Eine Umfrage von MDR THÜRINGEN unter den Kreisen und kreisfreien Städten zeigt, dass die Lage vor Ort durchaus unterschiedlich bewertet wird. Während einige Kommunen noch Platz haben, ist das bei anderen nicht der Fall. Einige Kommunen sind nach eigenen Angaben so an der Belastungsgrenze, dass sie schon jetzt einen Aufnahmestopp für Geflüchtete verkündet haben.

Dazu zählen der Ilm-Kreis, die Stadt Erfurt, die Kreise Greiz und Saale-Orla, der Wartburgkreis und der Landkreis Eichsfeld. Andere nehmen je nach Lage wöchentlich eine geringe Anzahl von Menschen auf oder je nach Platz in den Unterkünften entweder nur Asylsuchende oder Ukraine-Flüchtlinge.

Auch zeigt sich, dass einige Kreise mehr Menschen aufnehmen, als sie nach der Thüringer Flüchtlingsverordnung eigentlich müssten. Andere wiederum erfüllen ihren Soll gegenwärtig nicht. Allein bei den Ukraine-Flüchtlingen lässt sich ein deutlicher Unterschied feststellen, was die Aufnahmebereitschaft gemessen an der Bevölkerungszahl angeht, wie die folgende Karte zeigt.

Zu wenig geeigneter Wohnraum für Flüchtlinge

Integration bedeutet nicht nur, dass Geflüchtete möglichst schnell ein Dach über dem Kopf finden - aber gerade hier, bei der Unterbringung von Ukrainern und Asylsuchenden, scheint es auch 2022 und 2023 mit steigenden Flüchtlingszahlen wieder enorme Probleme gegeben zu haben. Bei Geflüchteten aus der Ukraine ist die Sache eigentlich klar - zumindest in der Theorie: Sie können und sollen sich selbst Wohnungen mieten und bekommen dafür Leistungen vom Jobcenter.

In der Realität wohnen viele Ukrainer in Gemeinschaftsunterkünften für Asylbewerber.

Thomas Budde Geschäftsführer Thüringischer Landkreistag

In der Praxis sieht es aber anders aus, wie unter anderem Thomas Budde berichtet. Der Geschäftsführer des Thüringischen Landkreistags sagt: "In der Realität wohnen viele Ukrainer in Gemeinschaftsunterkünften, die eigentlich für Asylbewerber gedacht wären. In der Realität finanzieren oft die Landkreise direkt die Miete."

Ukrainische Flüchtlinge haben Schwierigkeiten, vor allem in den Ballungszentren eigene Wohnungen zu finden - gleichzeitig verschärft das die ohnehin schon begrenzten Unterbringungsmöglichkeiten für Asylbewerber aus Syrien, Somalia oder Afghanistan. Wie es in den einzelnen Kreisen und kreisfreien Städten aussieht, haben wir hier zusammengetragen.

Kritik: Thüringen hat zu wenig Wohnraum vorgehalten

In dieser Situation räche sich nun, dass es nie eine Vorhaltepauschale vom Land gegeben habe, kritisiert Budde. Also Geld, damit die Landkreise ein bestimmtes Kontingent an Wohnungen und Unterkünften in Schuss halten, um im Fall schnell steigender Zahlen dort auch Menschen unterbringen zu können. "Wir hatten immer für eine Vorhaltepauschale gekämpft. Wir wollten vorbereitet sein", sagt Budde.

Auch aus dem Thüringer Parlament heraus wird kritisiert, dass das Land nicht schon früher das Vorhalten von Unterkünften ermöglicht habe. "Hätte es eine ordentliche Vorhaltepauschale vorher gegeben, hätten nicht so viele Landkreise ihre Unterkünfte dicht gemacht", sagt zum Beispiel die migrationspolitische Sprecherin der FDP-Gruppe Franziska Baum.

Man hätte Konzepte in der Schublade haben können, wie man die Aufnahmeeinrichtung in Hermsdorf schneller hochfährt.

Katharina König-Preuss Migrationspolitische Sprecherin der Linken

Ähnlich äußern sich die Abgeordneten der anderen Parteien links der AfD. Die AfD selbst hatte wiederholt die Finanzierung von Wohnraum für geflüchtete Ukrainer kritisiert und der Landesregierung beispielsweise im Sommer Migrationsförderung auf Kosten einheimischer Wohnungssuchender vorgeworfen. 

Katharina König-Preuss (Linke) sagt: "Außerdem hätte man Konzepte in der Schublade haben können, wie man beispielsweise die Aufnahmeeinrichtung in Hermsdorf schneller hochfährt." In Hermsdorf hatte sich die Aufnahme lange verzögert, weil beispielsweise kein Betreiber oder Caterer gefunden werden konnte. Stefan Schard von der CDU-Fraktion verweist zudem darauf, dass die Landesregierung vernachlässigt habe, "zu wenige landeseigene Immobilien vorzuhalten, um Landkreise zu entlasten".

Langsam tut sich was in Thüringen

Erst in den vergangenen Wochen passierte in Sachen Vorhaltepauschale etwas in Thüringen. Rückwirkend zum Jahresbeginn wird ein Gesetzestext mit sperrigem Namen "Flüchtlingskostenerstattungsverordnung" geändert, sodass insgesamt 11.000 "zukünftige" Wohnplätze finanziert werden, und nicht wie bisher nur belegte. Aus dem Kyffhäuserkreis heißt es etwa, dass eine solche Pauschale sehr hilfreich sei, wenn beispielsweise Wohnungen von größeren Wohnungsunternehmen angemietet werden.

Auf Nachfrage, warum es nicht vorher eine solche Pauschale gegeben hat, heißt es vom verantwortlichen Migrationsministerium: "Der Evaluationsprozess hat - wie so vieles andere auch - pandemiebedingt länger gedauert. Auch bedurfte es erst der Verabschiedung des Haushalts 2023." Astrid Rothe-Beinlich, migrationspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion, sieht diese Neuerung nun als "Systemwechsel", um letztlich auch die Kommunen zu entlasten.

Zwölf Millionen Euro für leerstehende Wohnungen

Zudem wird im März eine Förderung in Kraft treten, mit der leerstehender Wohnraum schneller instand gesetzt werden kann. Mit einer Richtlinie des Infrastrukturministeriums können Kommunen in Thüringen "schnelle und unbürokratische Hilfe" für die Instandsetzung von bis zu 2.500 Wohnungen bekommen, wie ein Sprecher bestätigte.

Konkret sollen dabei bis zu 12,5 Millionen Euro Fördermittel an die kommunalen Wohnungsbaugesellschaften und Privateigentümer fließen, damit diese bisher leerstehende Wohnungen final herrichten können. Das soll auch rückwirkend zum 1. Januar dieses Jahres gelten.

Mit dem Vorhaben verbinde das Ministerium auch den Wunsch, dass Flüchtlinge nach humanitären Standards besser dezentral unterkommen können. Anfang März könnte die Richtlinie in Kraft treten, sofern der Rechnungshof seine finale Zustimmung gibt.

Das Programm wäre eine große Unterstützung.

Sprecher des Saale-Orla-Kreises

Von den Kommunen wird die geplante Wohnungsförderung begrüßt. "Wir stellen fest, dass es inzwischen ein größeres Interesse gibt, Wohnraum auch direkt an Menschen aus der Ukraine zu vermieten. Insofern wäre das eine große Unterstützung", heißt es etwa aus dem Saale-Orla-Kreis. Ursprünglich sollte die Richtlinie bereits zum 1. Januar anlaufen.

Erneute Forderung nach Ende des Asylbewerberleistungsgesetzes

Dass im Zuge des Ukraine-Kriegs Geflüchtete erstmals ohne ein langwieriges Asylverfahren in Deutschland ankommen konnten, während es für andere Geflüchtete diese Regelung nicht gibt, wird auch oft kritisiert. Franziska Baum von der FDP kritisiert in diesem Zusammenhang auch "unterschiedliche Handhabungen in den Ausländerbehörden, wie Geflüchtete anerkannt werden. Es gibt da in Thüringen keine wirklich einheitliche Anerkennungs- und Duldungspraxis."

FDP-Abgeordnete Franziska Baum
FDP-Abgeordnete Franziska Baum Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Martin Arnold vom Flüchtlingsrat Thüringen geht einen Schritt weiter und fordert die Abschaffung des 30 Jahre alten, "diskriminierenden" Asylbewerberleistungsgesetzes. "Dass für die ukrainischen Flüchtlinge die Massenzustrom-Richtlinie aktiviert wurde, zeigt ja eins: Wir sind in der Lage, viele Menschen unbürokratisch und unkompliziert aufzunehmen."

Es gibt da in Thüringen keine wirklich einheitliche Anerkennungs- und Duldungspraxis.

Franziska Baum

Arnold zufolge bevormunde das Leistungsgesetz Geflüchtete aus Nicht-Ukraine-Staaten und führe dazu, dass zwischen "richtig guten, mittelguten und schlechten Flüchtlingen" unterschieden werde. Aus dem Landtag kommen teils ähnliche Stimmen, beispielsweise von Astrid Rothe-Beinlich von den Grünen. Sie verweist darauf, dass ihre Fraktion schon "seit langem die Abschaffung des Gesetzes und die Überführung ins Sozialgesetzbuch fordert".

Was sich seit 2015 getan hat

Doch es gibt auch Lob für die Entwicklungen in der Integrationspolitik in Thüringen. Auch Eigenlob, aus den rot-rot-grünen Reihen. Die migrationspolitischen Sprecherinnen und Sprecher der Regierungskoalition verweisen beispielsweise auf die elektronische Gesundheitskarte, mit der Geflüchtete seit 2017 unmittelbar ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen können. Außerdem auf das Integrationskonzept aus demselben Jahr, das unter anderem zusätzliche Sprachkurse finanziert.  

Martin Arnold vom Flüchtlingsrat fordert, in der Debatte um die Integration von Geflüchteten noch mehr die Chancen zu sehen. "Ich bin froh, dass man nicht wie noch 2015 einfach denkt, die Menschen werden grundversorgt und wir warten, bis sie wieder gehen." Mittlerweile, so Arnold, sei bis in konservative Kreise klar, wie wichtig es ist, Menschen hier eine Zukunftsperspektive zu geben.  

Forscher beobachtet Paradigmenwechsel

Ähnlich äußert sich abschließend Marcus Engler. Er forscht am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) zu Flucht und Migration. Rassismus könne auch ein Grund sein, warum Ukrainern in den vergangenen Monaten das Ankommen leichter gemacht wurde. Den Flüchtlingen, die 2015 vor allem aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak nach Deutschland kamen, schlugen vielerorts Vorurteile und Ablehnung entgegen. Engler erinnert an die Pegida-Bewegung, die damals gegen diese Menschen mobil machte. 

Generell beobachte er aber einen Paradigmenwechsel in der deutschen Politik, der sich auch schon vor dem Kriegsbeginn abzeichnete. Mit der neuen Ampelregierung, so Engler, gebe es zumindest auf Bundesebene einen Blick auf Flucht und Migration, der sich deutlich von der 2015 und 2016 mit Ressentiments aufgeladenen Debatte unterscheide.

Hinweis der Redaktion: Da ukrainische Geflüchtete EU-weit einen vorübergehenden Schutzstatus erhalten, wird im Beitrag der Begriff Ukraine-Flüchtlinge verwendet. Für Geflüchtete aus anderen Ländern, die Asyl suchen oder bereits beantragt haben, ist von Asylsuchenden die Rede. Wird kein Unterschied zwischen Ukraine-Flüchtlingen und Asylsuchenden gemacht, ist allgemein von Geflüchteten die Rede.

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MDR (dst/sar)

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | MDR THÜRINGEN JOURNAL | 24. Februar 2023 | 19:00 Uhr

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