Internetsexsucht Warum die Suchtfachklinik "Magdalenenstift" in Hartmannsdorf auch Pornosüchtige therapiert
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25. Februar 2023, 18:00 Uhr
Pornokonsum muss nicht krank und süchtig machen. Kann er aber. Wie Fachleute vom Magdalenenstift in Hartmannsdorf erklären, liegt die Krankheit in den Gründen des exzessiven Konsums. Doch warum erkranken vor allem Männer? Ein Arzt und ein Therapeut geben Einlicke in mögliche Heilungsansätze und warum sie derzeit die einzigen sind, die diese Krankheit in Deutschland stationär behandeln.
- Pornosucht ist messbar: Sucht macht sich durch bestimmte Gehirnaktivitäten bemerkbar.
- Das Magdalenenstift in Hartmannsdorf behandelt Internet-Sexsucht in einem Pilotprojekt.
- Um von der Sucht loszukommen, helfen nur Entzug sowie Rückhalt aus dem Umfeld der Betroffenen.
Ein oder zwei Klicks im Netz und schon sind sie verfügbar, anonym und gratis: Pornos sind längst kein Nischenthema mehr, Pornoseiten gehören seit Jahren zu den meistgeklickten im Netz weltweit. Auch Menschen in Deutschland schauen Sexfilme. Was genau sie mit ihren Konsumenten anstellen können, ist gut erforscht, etwa, wie sie die Hirnchemie der Zuschauer verändern. Manche Menschen, vor allem Männer, werden süchtig.
Stefan Melzer befasst sich seit Jahren mit dem Krankheitsbild der Internetsexsucht. "Wir schätzen, dass es etwa 500.000 Süchtige in Deutschland gibt", sagt er. Stefan Melzer ist Therapeutischer Leiter der Suchtklinik Magdalenenstift in Hartmannsdorf bei Chemnitz. Die Einrichtung wird von der Stadtmission Chemnitz der Diakonie betrieben.
Dort wird neben Substanzsüchten wie Alkohol- und Drogensucht auch "Internetsexsucht" behandelt. Ein Pilotprojekt in Kooperation mit der Deutschen Rentenversicherung, welches in seiner Form einzigartig ist in Deutschland. Und das hat Gründe.
Wann wird "normaler" Pornokonsum zur Sucht?
Die einfache Erklärung: "Wenn Leidensdruck da ist, wird Pornokonsum zum Problem, zur Sucht. Wenn der Konsum den Alltag, das Arbeits- und Beziehungsleben beeinträchtigt", sagt Dr. Falk Weiß. Er ist Chefarzt und Leiter der Suchtfachklinik in Hartmannsdorf und befasst sich seit vielen Jahren mit dem Thema Sucht. Seiner Erfahrung nach werden sich die Patienten meist dann des Ausmaßes ihres Problems bewusst, wenn sie versuchen aufzuhören, es aber nicht mehr können.
"Wenn etwa ein selbstständiger Handwerker sich morgens an den Computer setzt, um Rechnungen zu schreiben und Bürokratie zu erledigen und es 16 Uhr noch nicht geschafft hat, die entsprechenden Dateien zu öffnen, weil er anderweitig beschäftigt war, dann gibt es ein Problem", sagt der Arzt. Viele Patienten, die sich an die Suchtklinik wenden, wurden von ihren Familien und Arbeitgebenden auf ihre Internetsexsucht angesprochen und begeben sich dort in stationäre Behandlung.
Die medizinische Sicht: Ist Pornosucht messbar?
Bei Orgasmen werden im Körper Botenstoffe ausgeschüttet. "Orgasmen sorgen für die größte Eigenproduktion von Drogen, die dem Körper möglich ist", sagt Dr. Weiß. Vor allem Dopamin und Serotonin spielen eine Rolle. Dort liegt auch die Gefahr der Sucht. Denn der "Kick", der die Ausschüttung der gewünschten Stoffe auslöst, lässt sich nicht endlos auf dieselbe Weise herbeiführen. Der Körper braucht zunehmend stärkere und krassere Reize, eine Steigerung der Dosis in Qualität und Quantität, so Weiß.
Orgasmen sorgen für die größte Eigenproduktion von Drogen, die dem Körper möglich ist.
Im Bereich der Pornografie sind das dann extremere, oft gewaltvolle Handlungen oder auch Kinderpornografie. "Viele, die Kinderpornografie schauen, haben noch nicht einmal eine Neigung zur Pädophilie", sagt Stefan Melzer. Erregt werden sie davon dennoch, was zu zusätzlichen Problemen führen kann. Zudem betreten viele Betroffene an dieser Stelle den Bereich der Kriminalität, da diese Art von Pornografie oft nicht mehr ohne weiteres gratis und anonym im Internet zu finden ist.
Die Ausschüttung von Botenstoffen im Gehirn ist medizinisch übrigens durchaus messbar. Ebenso Gehirnscans, in denen Medizinerinnen und Mediziner sehen können, was welche Hirnareale wann beansprucht. An diesen Scans lassen sich Süchte ablesen, auch Pornosucht.
"Wenn man einem Pornosüchtigen einen Porno zeigt, werden im Gehirn ähnliche Areale aktiviert, wie wenn ein Alkoholkranker Alkohol riecht oder ein Spielsüchtiger die Melodie seines Lieblingsspiels hört", sagt Stefan Melzer. Schon anhand dieser Fakten könne man aus therapeutischer Sicht Pornosucht als Sucht identifizieren und nicht etwa als Zwangshandlung, wie viele, auch Fachleute, noch immer vermuten.
Sucht oder Zwangshandlung? Bei Zwangshandlungen, etwa Waschzwang, werden andere Areale im Gehirn aktiviert als bei Süchten. Ein großer Unterschied liegt in der Behandlung: Zwangshandlung werden psychosomatisch behandelt, für Sucht gibt es suchttherapeutische Behandlungen. Stefan Melzer, Suchttherapeut
Warum der "Magdalenenstift" derzeit noch einzigartig ist
Wie Falk Weiß erklärt, gibt es derzeit zwar sehr viele Angebote für die Therapierung und Aufarbeitung von Internetsexsucht, jedoch wenige im medizinischen Bereich. "Gerade in christlichen Glaubensgemeinschaften gibt es Angebote, die sind dann aber mit einer moralischen Wertung, einem Framing versehen. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Angebote, die ins Esoterische gehen, als Selbsthilfe. Aber die Betroffenen brauchen vor allem psychologische Hilfe", sagt er. Zudem sind viele sogenannte "nicht-substanzielle Suchtkrankheiten", zu denen auch Medien- und Spielsucht zählen, noch auf dem Weg, als Krankheit anerkannt zu werden.
"Viele Kliniken fürchten sich auch vor dem moralischen Stigma, wenn sie Internet-Sexsucht offen thematisieren und therapieren", sagt Weiß. Daher wird auch auf der Webseite des Magdalenenstifts nicht offen und explizit auf die Behandlung dieser Sucht hingewiesen.
Seit 2016 wird Sexsucht-Internet in Hartmannsdorf behandelt, damals startete ein Pilotprojekt in Zusammenarbeit mit der Mitteldeutschen Rentenversicherung. Diese ist zuständig, einen Ausfall von Erwerbsfähigkeit und einen frühen Renteneintritt zu vermeiden, zahlt daher auch beispielsweise Suchttherapien.
"Im Pilotprojekt geht es darum, Erfahrungen zu sammeln, welche Therapien funktionieren und wie die Erfolgsprognosen stehen", erklärt der Klinik-Chefarzt. Falk Weiß baute diesen Fachbereich in Hartmannsdorf auf. Er hofft nun, dass die Krankheit der Internetsexsucht mehr Anerkennung findet und idealerweise bald auch in anderen Einrichtungen behandelt wird. Derzeit kommen nämlich Patienten aus ganz Deutschland nach Hartmannsdorf.
Therapie: Was in Hartmannsdorf passiert
In Hartmannsdorf verfolgen die Therapeuten einen tiefenpsychologischen Ansatz zur Behandlung der Sucht. "Wir gehen davon aus, dass der Süchtige ein tiefergehendes Problem hat. Die Sucht hilft ihm vorerst, damit klarzukommen - bis sie selbst zum Problem wird", sagt Stefan Melzer. Die Patienten finden sich mehrfach pro Woche in Gruppensitzungen zusammen. Diese besuchen sie gemeinsam mit Patienten, die wegen anderer Arten von Sucht in Behandlung sind.
Zudem haben sie regelmäßige Einzelsitzungen beim Therapeuten, Ergo- und Kreativtherapien, sowie Sozialtherapie zu absolvieren, um nach der Behandlung besser wieder ins Leben einsteigen zu können. Wie Stefan Melzer erklärt, dauert die Therapie im Magdalenenstift in der Regel zwölf Wochen, selten länger.
Die Patienten leben während ihrer Therapie im Klinikgebäude, 36 Männer können gleichzeitig behandelt werden. Davon sind meist etwa eine Handvoll internetsexsüchtig. Behandelt werden nur Männer. An die Öffentlichkeit treten und mit MDR SACHSEN sprechen wollen sie nicht, zu groß die Scham und die Angst vor Verurteilung.
Pornosucht: Ein Männer-Problem?
Dass im Magdalenenstift nur Männer behandelt werden, hat vor allem praktische Gründe, erklärt Falk Weiß. Man wolle unangenehme Nebeneffekte, etwa Beziehungen verhindern, die der Therapie schaden könnten, gerade im Bereich der Internetsexsucht. Gleichzeitig ist Pornosucht tatsächlich ein Problem, was hauptsächlich Männer betrifft.
"Wir schätzen, dass etwa 90 Prozent der Betroffenen Männer sind. Das liegt auch an der visuellen Ausrichtung von Männern", sagt Stefan Melzer. Falk Weiß fügt an, dass dies für die meisten nicht-substanzgebundenen Süchte gilt, wenn auch mit etwas anderen Gewichtungen. Frauen würden sich, so Weiß, weniger zu Filmen, eher zum geschriebenen Wort hingezogen fühlen, was beispielsweise den Erfolg der Buchserie "Fifty Shades of Grey" erkläre.
Auch der eher männliche Blickwinkel spiele eine Rolle, wenn auch eine geringere. "Es kommt wie beim Alkohol nicht aufs Material an, sondern auf die Wirkung", so Weiß. Sprich: Auch kunstvolle und feministische Pornos schützen nicht vor Suchtverhalten.
Es kommt wie beim Alkohol nicht aufs Material an, sondern auf die Wirkung.
Heilung: "Es hilft nur Entzug"
Stefan Melzer redet bei der Frage nach Heilungschancen und Möglichkeiten nicht um den heißen Brei: "Es hilft nur Entzug." Das sei die einzige Möglichkeit, von der Pornosucht loszukommen. Die Aufarbeitung der eigentlichen Gründe für den Konsum, etwa Beziehungsprobleme und mangelndes Selbstwertgefühl, helfen dabei. Letztendlich laufe es aber, wie bei anderen Süchten auch, auf Entzug hinaus. "Wenn die Patienten unsere Klinik verlassen, sind sie nicht geheilt. Es ist ein Prozess. Daher sind sie hinterher auch stark auf die Hilfe und Unterstützung ihres Umfelds angewiesen", sagt der Therapeut.
Wohin sich Betroffene wenden können
Wer meint, selbst betroffen zu sein oder jemanden in seinem Umfeld hat, der dies ist, der soll sich, wie Stefan Melzer sagt, an die Drogenberatungen in seiner jeweiligen Region wenden. "Die führen eine Erstberatung durch, helfen bei Therapieanträgen an die zuständige Rentenversicherung und vermitteln dann an uns weiter."
MDR (sho)