Förderschule Wo die wilden Kerle lernen: Das Förderzentrum in Brand-Erbisdorf
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15. Januar 2023, 12:00 Uhr
Was tun mit den "rüpeligen", den "aggressiven" Kindern? Denen, die andere vom Lernen abhalten? Sind die alle kriminell, asozial und unerzogen? Diese Vorurteile haften ihnen zumindest an. Das Förderzentrum "Clemens Winkler" in Brand-Erbisdorf beschult kein Kind mit einem solchen Label. Dort lernen vor allem Kinder, denen es an Filtern fehlt, um in einer zunehmend rauer werdenden Gesellschaft klarzukommen.
- Vor allem Jungen besuchen das Förderzentrum in Brand Erbisdorf, mit Grund.
- Sowohl die Kinder als auch deren Familien haben mit Vorurteilen aus der Gesellschaft zu kämpfen.
- Der Unterricht lässt sich auf die Lebenswelt der Schüler ein, etwa mit einem Computerspiel.
Zu laut, zu aggressiv, zu zappelig, zu unkonzentriert - alle Kinder, die am Förderzentrum "Clemens Winkler" in Brand-Erbisdorf lernen, sind "zu" irgendwas. Meist zu viel - für sich und für andere. In der Gesellschaft werden solche Menschen, die sich von anderen stark unterscheiden und mit ihrer Art deren Kreise stören, als "verhaltensgestört" bezeichnet.
Warum der Zappelphilipp und nicht die Transuse?
Noch bevor man sie sieht, kann man sie schon von außen hören, die knapp mehr als 70 Schüler des Förderzentrums. Die männliche Form ist in diesem Fall sprachlich angemessen, denn dort werden fast ausschließlich Jungen unterrichtet. "Jungs reagieren nach außen", erklärt Schulleiterin Ute Schnabel, sie würden so leichter als Störfaktoren gesehen, seien lauter. Mädchen hingegen reagierten eher nach innen, seien dann oft "Transusen", wie sie der Volksmund betitelt. Wie die Pädagogin erklärt, werden verschiedene Neurodiversitäten wie Autismus bei Mädchen nicht oder erst spät erkannt - das gelte auch für psychische Krankheiten.
Was Ute Schnabel mit ihrer Erklärung zu den Jungen meint, lässt sich an der Schule live miterleben: Die Jungs toben, schreien, kippeln mit den Stühlen. Damit sie dennoch etwas lernen und sich langsam an einen störungsfreien Unterricht gewöhnen können, werden nur zehn Kinder pro Klasse unterrichtet. Zudem sorgt neben der Lehrerin oder dem Lehrer jeweils noch eine pädagogische Fachkraft für eine gute Lernatmosphäre.
Das Förderzentrum "Clemens Winkler" in Brand-Erbisdorf ist damit eine von mehreren Schulen mit dem Förderschwerpunkt der emotionalen und sozialen Entwicklung in Sachsen.
Zur Schulform
In diesen Schulen werden Kinder und Jugendliche unterrichtet, deren emotionale und soziale Entwicklung durch unterschiedliche, häufig komplexe Ursachengefüge, beeinträchtigt ist. Ziel der Förderung ist es, Verhaltensmuster zu ändern sowie emotionale und soziale Fähigkeiten zu erwerben und zu festigen.
Unterricht und Erziehung sollen den Schülerinnen und Schülern helfen, positive Einstellungen und Wertehaltungen aufzubauen und zu festigen. Durch spezifische Angebote lernen die Schülerinnen und Schüler, wie sie mit Belastungen im Bereich des Erlebens und der sozialen Erfahrungen umgehen können.
Wichtige Ziele sind der Erwerb angemessener Verhaltensweisen, der Aufbau einer Lern- und Leistungsmotivation, die Entwicklung tragfähiger Konfliktlösungsstrategien sowie die Stabilisierung des Selbstwertgefühls.
Kultusministerium Sachsen
Wer ist hier eigentlich krank?
"Je ärmer die Gesellschaft wird, sowohl finanziell als auch emotional, desto mehr Auffälligkeiten werden wir im sozioökonomischen Bereich haben", prophezeit Ute Schnabel. Sie ist nicht nur Leiterin der Schule mit dem Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung, sondern auch Vorsitzende des sächsischen Verbandes für Sonderpädagogik.
In ihrer Doppelfunktion, behält sie den Überblick über derzeitige Entwicklungen, deren Folgen sie im Kleinen an ihrer Schule sieht. Eine sei, wie sie erklärt, die Tendenz, Neurodiversitäten zu Krankheiten zu erklären.
"Sie sind nicht krank! Ich würde auch nicht sagen, dass sie gestört sind. Sie reagieren auf Widrigkeiten sensibler als andere", sagt Ute Schnabel. Sie verfolgt, wie viele ihrer Kolleginnen und Kollegen den Ansatz, dass Verhaltensbesonderheiten wie Autismus oder ADHS Teil der menschlichen Biologie, Teil eines Spektrums sind.
Sie sind nicht krank! Ich würde auch nicht sagen, dass sie gestört sind. Sie reagieren auf Widrigkeiten sensibler als andere.
"Es ist ein typisch deutsches Ding, dass es ein Label braucht, sobald etwas, in dem Fall Kinder, nicht funktioniert wie es sollte", sagt Ute Schnabel. Auch wenn die Kinder nicht krank seien, würden sie alle mit einer Diagnose ans Förderzentrum geschickt werden. Ohne diese gibt es keinen der raren Plätze an der Schule.
Der Bedarf an Schulplätzen wächst - nicht nur in Mittelsachsen, sondern deutschlandweit. Mit Sorge erzählt Ute Schnabel von der Auswertung der sogenannten KIGGS-Studie, einer vom Robert-Koch-Institut umgesetzte Untersuchung zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Diese beleuchtete zuletzt auch die psychische Gesundheit der jungen Generation. "Wenn jedes fünfte Kind nicht mehr in der Lage ist, seinen Entwicklungsaufgaben nachzukommen, dann läuft etwas schief und das nicht nur in einzelnen Familien", sagt sie.
Ein Blick auf die Familien
Dass etwas schief läuft, erlebte Susanne Pinka schon in der Kindergartenzeit ihres Sohnes. "Bei seiner unruhigen Art hat es eine Lösung gebraucht, die ihn nicht ausgrenzt", erzählt die zweifache Mutter aus Freiberg.
Der kleine Junge bekam damals eine zusätzliche Betreuung in der Kita an die Seite gestellt. Seine Eltern entschieden sich, ihn gleich mit der ersten Klasse ins Förderzentrum zu schicken, wo er mehr Aufmerksamkeit und Raum für seine Art bekommt. Er brauche viel Nähe, habe den ein oder anderen Ausraster und brauche Zeit, sich dann wieder einzukriegen, wie Susanne Pinka sagt.
Sie macht deutlich, dass nicht alle Kinder in der Schule aus prekären Elternhäusern kommen - obgleich das häufig der Fall ist. Laut Ute Schnabel lebt etwa zehn Prozent der Schüler in Heimen oder Wohngruppen. Viele der Kinder hätten zudem körperlichen und sogar sexuellen Missbrauch erlebt.
Stigmatisierung verstärkt Auffälligkeiten
Was jedoch alle Kinder und ihre Familien eint, unabhängig vom Hintergrund: Sie alle sind von Stigmatisierungen vonseiten der Gesellschaft betroffen. Sie ernten schiefe Blicke und unangemessene Kommentare, wenn Kinder unerwünschtes Verhalten in der Öffentlichkeit an den Tag legen.
"Sie sind 'kriminell, asozial und unerzogen'. Diese Vorurteile bestehen und das Stigma haftet auch unserer Schule an", sagt Ute Schnabel. Ja, manchmal aber selten stehen Polizei und Krankenwagen vor der Tür der Schule, wenn eine Rauferei eskaliert, aber das passiere auch an anderen Einrichtungen.
Sie sind 'kriminell, asozial und unerzogen'. Diese Vorurteile bestehen und das Stigma haftet auch unserer Schule an.
"Wir haben hier Kinder mit psychischen Störungen, die ausrasten, wenn sie Reize nicht mehr filtern können. Oft passiert das, wenn die Kinder sich in die Enge getrieben, ohnmächtig fühlen", sagt die Pädagogin. Das negative Feedback von außen verstärke das Verhalten der Kinder zusätzlich.
Maßnahmen für mehr Selbstvertrauen
Die Schule setzt nach eigenen Angaben auch an diesem Punkt an. "Sobald man das Gefühl hat, nicht mehr gesehen zu werden, keine Selbstwirksamkeit zu haben, radikalisiert man sich schnell", sagt Ute Schnabel. Das könne man auch an vielen Erwachsenen derzeit sehen, die Schule setze jedoch bei den Kindern an.
Für Sichtbarkeit sorgt etwa ein Punktesystem. Jedes Schulkind bekommt während der Schulstunde von der Lehrkraft Punkte verteilt, für Mitarbeit, Ordnung, Konzentration sowie die Einhaltung des jeweiligen Tagesziels. Bei manchen ist das "niemanden beleidigen", bei anderen ist es "die anderen nicht vom Lernen abhalten", einige wollen sich selbst mehr einbringen. Am Ende einer jeden Schulstunde wird reflektiert und die Punktesumme wird an der Tafel vermerkt, für alle sichtbar. Je mehr Punkte ein Schüler bekommt, desto besser das Betragen.
Sobald man das Gefühl hat nicht mehr gesehen zu werden, keine Selbstwirksamkeit zu haben, radikalisiert man sich schnell.
Schöne Erlebnisse: Lehrkräfte legen sich ins Zeug
Doch nicht nur das Scannen des Verhaltens führt zu mehr Sichtbarkeit, sondern auch eine Wertschätzung gegenüber den Schülern in Form von schönen Erlebnissen. So werden verschiedene Anlässe wie Weihnachten und der Jahresauftakt mit gemeinsamen Veranstaltungen gefeiert.
Zum Jahresauftakt gab es etwa in diesem Jahr ein Schnittchen-Buffet, welches von einigen Schülern gemeinsam mit Lehrern zubereitet wurde. Hinzu kommen gemeinsame Ausflüge. "Auch während der Corona-Zeit haben wir darauf geachtet, jeden Schüler wenigstens einmal die Woche zu sehen", sagt die Schulleiterin. Dazu zählten Hausbesuche, mit Gesprächen über die Fensterbank oder den Gartenzaun hinweg, oder auch virtuelle Begegnungen. Diese hätten die Pandemie sogar überdauert.
Spielerisch lernen in virtueller Umgebung
"Gamifikation", also die Gestaltung des Unterrichts als Spiel unter Einbeziehung des Internets, wird seit der Pandemie in den meisten Schulklassen praktiziert.
Die Schüler haben einen eigenen Avatar gestaltet, mit dem sie sich im komplexen Lernspiel "Classcraft" einloggen können. Dort entdecken sie dann auf einer Karte neue Landschaften und finden Schätze, wenn sie dafür Aufgaben lösen. Das funktioniert auch im Englischunterricht bei Ute Schnabel. Der Algorithmus fragt Vokabeln ab und schlägt eigenständig Schüler dafür vor. Liegen sie richtig, gewinnen sie Punkte, mit denen sie ihre Spielfigur verbessern können.
Im Bosskampf zum Lernerfolg
"Wenn man erfolgreich sein will, muss man an den Ressourcen der Kinder arbeiten und da hilft es, auf ihre Lebenswelten einzugehen", sagt Ute Schnabel. Mittlerweile legt sie auch Hausaufgaben im Spiel ab, lädt die Schüler in den Ferien zu Freundesmissionen ein und kann so auch nach Schulschluss noch an Lernfortschritten arbeiten – und den Schülern das Gefühl geben, gesehen zu werden.
Diese sind vor allem ganz heiß auf den sogenannten "Bosskampf", bei dem die Besten am Ende eines Spiels gegeneinander oder ein Monster antreten. "Der Bosskampf ist der Zuckerguss am Ende und mit ihm kann man im Englischunterricht auch gleich noch die Steigerung zweisilbiger Adjektive üben", sagt Ute Schnabel mit einem Lächeln.
Rückführung an Regelschulen: der Endgegner
Die größte Herausforderung, der finale Bosskampf, wie die Schüler vielleicht sagen würden, ist die Rückführung an eine Regelschule. Denn in Brand-Erbisdorf ist nach Klasse 6 Schluss. Dann geht es zurück, oder, in seltenen Fällen, werden die Schüler an andere Schulen mit dem speziellen Förderschwerpunkt weitergegeben.
An Schulen in Dresden und im Osterzgebirge wird bis zur zehnten Klasse unterrichtet. Die Norm ist das aber nicht. Wie Ute Schnabel erklärt, bleiben manche Kinder nur ein Jahr, manche mehrere. Die meisten hätten aber nach ihrer Zeit am Förderzentrum genug Rüstzeug erhalten, um an Regelschulen bestehen zu können, ohne negativ aufzufallen.
Wir sind froh über jeden, den wir aus dem Nest schubsen können. Aber keiner geht wirklich gern. Die Schüler mögen die kleinen Klassen und die Sicherheit und Akzeptanz, die unsere Schule bieten.
Zahlen und Fakten zum Förderzentrum in Brand-Erbisdorf
- Derzeit lernen 74 Schüler in der Schule
- Unterrichtet wird von der 1. bis zur 6. Klasse
- Der Klassenteiler liegt bei 10
- Neben der Lehrkraft befindet sich auch eine pädagogische Fachkraft in jeder Unterrichtseinheit
- Um auf die Schule aufgenommen zu werden, braucht es ein ärztliches Attest
- Ziel der Schulform ist es, die Schüler fit zu machen für das Lernen in einer Regelschule
MDR (sho)