Bildungsforschung Inklusion oder separate Klassen: Was ist besser für Kinder mit besonderem Förderbedarf?
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08. Dezember 2022, 05:00 Uhr
Sowohl in der Bildungsforschung als auch von politischen Entscheidungsträgern wird immer wieder die Frage gestellt, ob Kinder mit sonderpädagogischen Förderbedarf besser in inklusiven oder in separaten Klassen unterrichtet werden sollten. Eine Frage die sehr schwer zu beantworten ist. Nun haben Forschende 15 Studien aus 9 Ländern verglichen und sind zu einem Ergebnis gekommen: Es lässt sich nicht pauschalisieren.
Im Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention, die 2008 in Kraft trat, wird des Recht behinderter Menschen auf Bildung bekräftigt. Darin ist festgeschrieben, dass Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund ihrer Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden dürfen. Das bedeutet auch, dass Kinder mit Behinderungen nicht von einem unentgeltlichen und obligatorischen Grundschulunterricht oder dem Besuch einer weiterführenden Schule ausgeschlossen werden dürfen.
Seither hat sich in Bezug auf die Inklusion von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf an Schulen viel getan, auch wenn in diesem Bereich nach wie vor viel Handlungsbedarf besteht. Die Frage, ob Kinder mit Behinderungen in einer inklusiven oder einer Förderschule besser lernen, kann aber noch immer nicht beantwortet werden.
Viele Argumente für und gegen das Konzept der Inklusion
Die Befürworter der Inklusion befürchten unter anderem, dass die Unterbringung von Kindern mit Behinderungen in reinen Förderschulen zu einer Stigmatisierung und sozialen Isolation führen könnte. Die Gegner der Inklusion für Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf sind hingegen unter anderem der Ansicht, dass die Unterbringung in allgemeinbildenden Klassen negative Auswirkungen haben kann, insbesondere, wenn die für die Individualisierung bereitgestellte Zeit und die Ressourcen nicht auf die Bedürfnisse der Schüler abgestimmt sind. So lassen sich viele Argumente für und gegen das Konzept der Inklusion finden. Ob aber die Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischen Förderbedarf nun besser in Förderschulen oder in inklusiven Schulen lernen, kann von wissenschaftlicher Seite her noch immer nicht beantwortet werden.
Vergleich von 15 Studien aus 9 Ländern
Eine Gruppe von Forscherinnen und Forschern rund um Erstautorin Nina T. Dalgaard vom dänischen Zentrum für sozialwissenschaftliche Forschung VIVE sind dieser Frage nachgegangen und haben 15 Studien aus neun Ländern miteinander verglichen. Sie untersuchten, wie sich die Inklusion auf die schulischen Leistungen, die sozio-emotionale Entwicklung und das Wohlbefinden von Kindern mit besonderen Bedürfnissen in inklusiven Schulen im Vergleich zu Kindern mit besonderen Bedürfnissen, die in einer getrennten Umgebung unterrichtet werden, auswirkten. Die Studien enthielt dabei Daten von Kindern mit verschiedenen Arten von Behinderungen wie Lernstörungen/intellektuelle Behinderungen, Autismus-Spektrum-Störungen, ADHS, körperliche Behinderungen, Sehbehinderungen und Down-Syndrom.
Das Ergebnis der Meta-Analyse: In Bezug auf die schulischen Leistungen der Kinder, gemessen an den Ergebnissen in den Bereichen Sprache, Lesen und Schreiben sowie Mathematik, oder auf die allgemeine psychosoziale Anpassung der Kinder lassen sich weder nennenswerte positive noch negative Auswirkungen feststellen.
Es gibt keine Einheitslösung
Es gibt sie also nach wie vor nicht – die einheitliche Aussage, dass Inklusion gut oder schlecht für die Leistung und Entwicklung der Kinder ist. "Es ist an der Zeit zu erkennen, dass es bei der schulischen Unterbringung von Kindern mit besonderen Bedürfnissen keine Einheitsgröße gibt und dass nicht alle Kinder mit besonderen Bedürfnissen von einer integrativen Erziehung profitieren", sagt Nina T. Dalgaard. Vielmehr muss im Grunde bei jedem einzelnen Kind geschaut werden, welche Bildungsform für ihn oder sie zielführender ist. Die Forschenden empfehlen, dass künftige Forschungsarbeiten die Auswirkungen verschiedener Arten der integrativen Bildung für Kinder mit unterschiedlichen Arten von besonderen Bedürfnissen untersuchen sollten, um die Wissensbasis darüber zu erweitern, was für wen funktioniert.
Der bloße Wille zur Inklusion reicht nicht
Hinzukommt, dass alles auch mit den jeweiligen Einrichtungen steht und fällt, denn der bloße Wille zur Inklusion reicht nicht aus. Sind die Schulen nicht adäquat ausgestattet, gibt es keine ausreichenden und ausreichend qualifizierten Lehrkräfte, gibt es keine passenden Unterrichtsstrukturen- und Materialien, kann das Inklusionsvorhaben nicht gelingen. 2020 hatte der Verband Bildung und Erziehung (VBE) eine forsa-Umfrage beauftragt und unter 2.127 Lehrkräften an allgemeinbildenden Schulen die Meinung, Einstellung und Erfahrungen mit Inklusion erfragt. 56 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer fanden die gemeinsame Beschulung grundsätzlich sinnvoll. Aber nur 27 Prozent gaben daran, dass die Inklusion zurzeit praktisch sinnvoll umsetzbar ist. 83 Prozent der Befragten sprachen sich für den Erhalt der Förderschulen aus.
Zu wenig Personal, keine speziellen Fortbildungen
Eigentlich sollte mindestens ein zusätzlicher Pädagoge oder eine Pädagogin in den Lerngruppen vorhanden sein, wenn Kinder mit sonderpädagogischen Förderbedarf dazustoßen. Denn, so sagte der Bundesvorsitzende des VBE Udo Beckmann in Hinblick auf die forsa-Umfrage: "So unterschiedlich die sonderpädagogischen Förderbedarfe sind, so unterschiedlich muss die Förderung sein. Doch dafür bleibt kaum Zeit." Nur die Hälfte der befragten Lehrkräfte, die an Schulen mit integrativen Lerngruppen unterrichten, bestätigten, dass diese Strukturen vorhanden sind. Und auch bei der Vorbereitung und Qualifizierung der Lehrkräfte scheint es gewaltig zu haken. Nur die Hälfte der Befragten hätten sonderpädagogische Kenntnisse. Jede dritte Lehrkraft gab an, dass es keine speziellen Fortbildungen gab.
In Zukunft wird der Mangel noch größer
Im Hinblick auf den derzeitigen und den voranschreitenden Lehrkräftemangel scheint es unwahrscheinlich, dass sich diese Verhältnisse in naher Zukunft zum Besseren wandeln werden. Auf der Kultusministerkonferenz 2020 wurde prognostiziert, dass es 2030 einen Lehrkräftemangel von 14.000 Personen geben werde. Eine Studie, die vom Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV) und dem VBE beauftragt wurde, kommt sogar auf einen Lehrkräftemangel von insgesamt 81.000 Personen bis zum Jahr 2030. In dieser Studie wird von einer deutlich niedrigeren Zahl von Lehramtsstudenten ausgegangen und der zusätzliche Bedarf an Lehrkräften für Ganztagsbetreuungen, Schulen in herausfordernden sozialen Lagen und auch im Bereich Inklusion ausgegangen.
Ist die Inklusion gescheitert?
Diese Frage stellte Inklusionsreferent Thomas Höchst auf der Seite der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Sachsen. Bei dem vorliegenden Lehrkräftemangel wird die Inklusionsquote bis 2030 in jedem Fall stagnieren. Das Handtuch werfen ist dennoch keine Option. Zum einen, weil das Thema Inklusion gesetzlich festgeschrieben ist. Denn scheitert die Inklusion, scheitert auch die Bildungsgerechtigkeit. Und zum anderen, weil Inklusion gelingen kann, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind. Und das setzt auch die Umformulierung der Fragestellung voraus. "Wir müssen weg von: Wie muss ein Kind sein, dass es an unsere Schule kann. Hin zum: Wie müssen wir Schulen gestalten, damit hier jedes Kind gut aufgehoben ist und gefördert wird", fordert Thomas Höchst.
Deutlich wird: Um das Thema Inklusion auf solide Grundpfeiler heben zu können, gibt es an vielen Stellen Handlungsbedarf – sei es auf wissenschaftlicher, pädagogischer, politischer oder finanzieller Ebene.
Links/Studien
Campbell Systematic Reviews: One size does not fit all – inconsistent effects of inclusion on learning and psychosocial adjustment of children with special needs
forsa: Inklusion an Schulen aus Sicht der Lehrkräfte in Deutschland
Entwicklung von Lehrkräftebedarf und -angebot in Deutschland bis 2030
Sachsen: Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention
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