Angela Merkels Mahngang in Auschwitz Judenfeindlichkeit in Deutschland: Alter Geist in neuen Flaschen
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06. Dezember 2019, 12:28 Uhr
Am Freitag wird Bundeskanzlerin Angela Merkel zum ersten Mal nach Auschwitz reisen und einen Kranz an dem Ort niederlegen, der wie kein anderer Symbol und Mahnung ist für das größte aller Verbrechen des Nationalsozialismus: den Holocaust. Anlass, sich damit zu beschäftigen, warum die Frage nach dem Erhalt des größten NS-Vernichtungslagers und die Abwehr des Antisemitismus in Deutschland seit nunmehr 30 Jahren zusammengehören.
Angesichts neuer besorgniserregender Angriffe und Befunde zum Antisemitismus in Deutschland ist der Besuch der Bundeskanzlerin Angela Merkel in Auschwitz eine wichtige Geste. Verbunden mit einer noch wichtigeren Zusage. Denn Bund und Länder wollen für den Erhalt der Gedenkstätte 60 Millionen Euro zum Kapitalstock der Stiftung Auschwitz-Birkenau beisteuern. Und damit der historischen Verantwortung des deutschen Staates Rechnung tragen.
Wie ernst es der Kanzlerin und den Ministerpräsidenten damit ist, soll bereits am Donnerstag ein gemeinsamer Beschluss zeigen, in dem Bund und Länder zu noch stärkerem vereinten Handeln auf- und wachrufen "in Hinblick auf den Schutz jüdischen Lebens und die stärkere Bekämpfung des Antisemitismus in Deutschland". Eine Reaktion, die überfällig ist?
Antisemitismus: Heute und vor 30 Jahren
Auf der Suche nach aktuellen Belegen zum Stand des Antisemitismus in Deutschland wird man schnell fündig. Laut dem jüngst bereits in Auszügen veröffentlichten "Thüringen Monitor" der Friedrich-Schiller-Universität Jena etwa ist die Zahl der Thüringer, die Menschen jüdischen Glaubens ablehnen, nur binnen eines Jahres deutlich gestiegen. 16 Prozent der Befragten waren demnach 2019 der Ansicht, Juden würden nicht zur Gesellschaft passen. 2018 hatten dieser Aussage nur neun Prozent zugestimmt. Und das ostdeutsche Bundesland ist bei weitem kein Einzelfall.
Keine vier Wochen zuvor hatte bereits der Jüdische Weltkongress seine repräsentative Studie zum Antisemitismus in Deutschland vorgestellt. 22 Prozent der Befragten stimmten danach der Aussage zu, Juden würden wegen ihres Verhaltens gehasst. Als eine unmittelbare Konsequenz daraus forderte Ronald Lauder, Präsident des WJC, von Deutschland "richtige Gesetze", um "die Hassrede aufzuhalten". Nun, die Gesetze gibt es. Oder nicht? Tatsache ist, dass schon vor 30 Jahren ein erbitterter Streit darüber entbrannte, ob das, was im deutschen Strafrecht verankert ist, wirklich ausreicht, um Antisemitismus in Deutschland effektiv zu bekämpfen. Angefacht hatte die Debatte seinerzeit eine immense Zunahme von Straftaten und öffentlichen Äußerungen, bei denen Polizei und Justiz allzu lange rätselten, wie sie damit umgehen sollen.
Stunde Null: Der alte Geist in neuen Flaschen
Nach 1990, im Zuge einer neuen, "patriotischen" Stimmung in Deutschland, gelangt auch der Antisemitismus wieder zunehmend an die Oberfläche. Gerade in Ostdeutschland versuchen völkische Apologeten aus dem Um-, Auf- und Zusammenbruch des politischen Systems schnell Kapital zu schlagen. Die Pogrome gegen Ausländer – sie werden von ihnen als "natürliche" Entäußerung des alten, nationalsozialistischen Wunschs nach "Arterhaltung" begrüßt. Und selbstverständlich auch der "Abwehrinstinkt" gegen die Anderen, die Juden, gestärkt, wo es nur geht. Mit verheerenden Folgen:
- Angriffe und Anschläge auf jüdische Einrichtungen
- Morddrohungen
- die schnelle Vervielfachung rechtsextremistischer Gruppierungen mit nun Tausenden von gewaltbereiten Aktivisten
Die Liste der Zumutungen jener "Baseballschlägerjahre" Anfang der 90er ist lang. Und das Motiv der antijüdischen Stimmungsmache omnipräsent. Doch eine Sache hemmt den Erfolg der neuen nationalen Bewegung. Das Schuldenkonto der letzten nationalen Erhebung: der Umgang der Nationalsozialisten mit den Juden. Der Holocaust.
Auschwitz: Angriff auf das Herz einer Erinnerungskultur
Während in Deutschland nach 1990 rechtsradikale Ideologie einen ungeheuren Auftrieb erfährt und sich Antisemiten daran machen, "Erinnerungskultur" in Deutschland neu zu definieren, ist die Zukunft der NS-Gedenkstätte Auschwitz ungewiss. Die Überreste des KZs, insbesondere des 1945 von der SS gesprengten Teils des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau, verfallen immer mehr. Wissenschaftler und Denkmalschützer aus ganz Europa sorgen sich, wie sich dieser zentrale Erinnerungsort für die Nachwelt retten und erhalten lässt.
Just in diesem Moment tauchen an der Stätte des Massenmords immer wieder Neonazis auf, um die Verbrechen an den Juden öffentlich zu leugnen. Die Gedenkstätte ist plötzlich Schauplatz rechter Propaganda. Geschichtsrevisionisten sowie neue und alte Nazis finden sich hier immer wieder zur größtmöglichen Verächtlichmachung der Opfer dieses Jahrhundertverbrechens ein. Der Gipfel der Inszenierung: Der selbsternannte Gaskammer-Experte Fred Leuchter filmt sich heimlich bei der "wissenschaftlichen" Arbeit auf dem Gelände. Für sein "Gutachten", dass den "Beweis" antreten soll, Gaskammern habe es hier nie gegeben, nimmt er unerlaubt Gesteinsproben mit. Und verbreitet anschließend weltweit die Lüge von der "Auschwitz-Lüge".
Wie kann das gehen? Gibt es keine Gesetze, die genau das verbieten: das "Tanzen auf den Gräbern" von Millionen Toten? Es gibt die Gesetze. Und es gibt eine Lücke. Zumindest im Strafrecht der Bundesrepublik anno 1990-1994.
Der Trick: Macht und Ohnmacht von Politik und Justiz
Der Zweifel gehöre zu einer offenen, freien Gesellschaft – argumentieren die, die diese Gesellschaft gerne loswerden würden. Und kommen damit erstaunlich lange durch. Bis ein aufsehenerregendes Verfahren die Politik zum Handeln zwingt.
Im April 1994 steht der NPD-Vorsitzende Günter Deckert wegen Volksverhetzung vor dem Bundesgerichtshof. Er strebt die Aufhebung eines erstinstanzlichen Urteils an, nach welchem er wegen Volksverhetzung zu einem Jahr auf Bewährung verurteilt worden ist. Deckert hatte 1991 den Holocaustleugner Fred Leuchter zu einer Tagung eingeladen und seine Behauptungen, in den NS-Vernichtungslagern seien lediglich Desinfektionsanlagen, jedoch keine Gaskammern vorhanden gewesen, wohlwollend kommentiert. Die Justiz zeigt sich unschlüssig, wie sie darauf reagieren soll. Handelt es sich um eine "einfache" Leugnung oder um eine "qualifizierte" Lüge? Hat der Täter nur geleugnet oder sich dazu noch mit der Ideologie des Nationalsozialismus identifiziert? – Für die Öffentlichkeit wirklichkeitsfremde Fragen, die einen erklärten Rechtsextremen wie Günter Deckert erst ermuntern, weiter in die Offensive zu gehen.
Als der Bundesgerichtshof das Urteil aufhebt und an die erste Instanz zurückverweist, stehen Öffentlichkeit, Justiz und Politik fassungslos vor einem Scherbenhaufen: Hat hier etwa ein Volksverhetzer gerade einen Freispruch für sich erwirkt?
Wenn ich das einfach sagen kann: Das hat es nicht gegeben. Da liegt bei mir schon darin die Verletzung, die Verunglimpfung der Toten, die Beleidigung der Überlebenden und die Verletzung der Menschenwürde.
Als wäre das nicht genug, wird vier Monate später bekannt, mit welchen Worten die erste Instanz, das Mannheimer Gericht, dem "unbescholtenen Familienvater" Deckert bei der Bemessung des Strafmaß zu Hilfe eilte: Deckert, so die Richter, habe ja nur die "Widerstandskräfte im deutschen Volk gegen die aus dem Holocaust abgeleiteten jüdischen Ansprüche" stärken wollen. Günter Deckert: "Die haben mich genau so beschrieben, wie ich mich selbst sehe."
Der Bundesgerichtshof ist keineswegs so weltfremd, dass er nicht weiß, wie hier Lügen zur Diffamierung und auch zur Störung des öffentlichen Friedens eingesetzt werden. Was er aber, bisher wenigstens, nicht als Delikt gegen die Störung des Öffentlichen Friedens ansieht, ist die einfache, bloße Leugnung des Massen- und Rassenmordes.
Zwei Monate später zieht die Politik die Reißleine und beschließt den §130 StGB - ein Vierteljahr vor Beginn der Feierlichkeiten zum fünfzigsten Jahrestag der Befreiung von Auschwitz - erheblich zu erweitern. Auch die "einfache" Auschwitz-Lüge, ohne Nachweis einer nationalsozialistischen Identifikation, kann nun als Volksverhetzung mit bis zu fünf Jahren Freiheitsentzug bestraft werden.
Und heute: neue Diskussion um Strafverschärfung
Auch heute, 25 Jahre danach, sind die Diskussionen um Straftatbestände und Strafmaß in Bezug auf antisemitische Verbalattacken und Anschläge längst nicht vom Tisch. Zwei Monate erst ist es her, dass der NPD-Politiker Udo Pastörs letztinstanzlich vor dem "Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte" mit seiner Beschwerde gegen ein Urteil scheiterte. 2010 hatte Pastörs in einer Rede vor dem Landtag von Mecklenburg-Vorpommern Juden absichtlich diffamiert und war dafür zu acht Monaten Haft auf Bewährung und 6.000 Euro Geldbuße verurteilt worden. Pastörs Verleumdungen von Juden und die Leugnung des Holocausts seien, so die Straßburger Richter, mitnichten durch das europäische Recht auf Meinungsfreiheit gedeckt.
Ein Signal, dass aus Sicht des Bundesrates und des Bundesjustizministeriums angesichts der zunehmenden Bedrohung durch Antisemiten – wie zuletzt in Halle sichtbar – längst nicht reicht. Letzten Freitag erst hat der Bundesrat daher eine Änderung im Strafgesetzbuch (StGB) beschlossen, um antisemitische Straftaten künftig "gezielter und härter" ahnden zu können. Dazu soll der Kriterienkatalog bei der Strafzumessung erweitert werden, damit künftig explizit auch antisemitische Motive des Täters als strafverschärfend geltend gemacht werden können.
Von der Gesetzesänderung erhoffen sich die Länder vor allem auch ein Signal für die Ermittlungsbehörden: Diese sollen so "zu einer frühzeitigen Aufklärung und Berücksichtigung möglicher antisemitischer Beweggründe und Ziele beim Beschuldigten angehalten werden".
Über dieses Thema berichtete der MDR auch im TV: MDR Zeitreise | 24.11.2019 | 22:20