Geschichte und Bürgerwissenschaften Digitale Erinnerung: Holocaust-Gedenken als Forschungsprojekt
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27. Januar 2023, 14:07 Uhr
Ein Crowdsourcing-Projekt der "Arolsen Archives", des Internationalen Zentrums für NS-Opfer, verschmilzt alte Geschichte und junge Forschung miteinander: Freiwillige werten Datenblätter aus der NS-Zeit aus, die gewonnenen Daten fließen ins große Arolsen Archiv.
Vorname. Nachname. Geburtsort. Geburtstag. Religion. Familienstand. Aktueller Wohnort. Schulabschluss. beruf. Haftgrund. Nase. Mund. Gesichtsform. Ohren. Geburtsdatum Angehörige. Häftlingsnummer: Karteikarten aus Lagern und Haftanstalten der NS-Zeit skizzieren in dürren Worten Menschen, Lebensläufe und Familiengeschichten. Die Arolsen Archives bewahren rund 30 Millionen historische Dokumente auf und machen sie der Öffentlichkeit zugänglich. Dokumente aus Konzentrationslagern und Zwangsarbeit sowie aus der frühen Nachkriegszeit zu den Überlebenden.
Was sind die Arolsen Archives?
Die Arolsen Archives sind das internationale Zentrum über NS-Verfolgung mit dem weltweit umfassendsten Archiv zu Opfern und Überlebenden des Nationalsozialismus. Die Sammlung vereint Hinweise zu rund 17,5 Millionen Menschen, sie enthält über 30 Millionen historische Dokumente und gehört zum UNESCO-Weltdokumentenerbe.
KZ-Haftakten durchforsten
Beim Projekt #everynamecounts (jeder Name zählt), das alle Bürger zur Geschichtsforschung einlädt, werden Datenblätter zu (KZ-)Häftlingen von Freiwilligen quasi "gemolken": Stück für Stück werden die Citizen Scientist am heimischen Bildschirm durch Karteikarten gelotst, Details der jeweiligen Inhaftierten werden erfragt, die auf dem Blatt vermerkt sind. (Hier ist der Zugang zum Projekt)
Das geht mal schwerer, mal leichter, je nach Schreibstil und Schrift der Menschen, die diese Datenblätter ausgefüllt haben: Hier ungelenke Schriftzüge, da säuberlich akkurat-steile Buchstaben, verschnörkelte Lettern, mal Sütterlin und neue Schrift vermischt. Es waren nicht nur Häftlinge, die für die Nazis Buch über deren Neu-Inhaftierte führen mussten, auch die Schrift auf den Datenblättern ist ein Hinweis auf das Schicksal einer (unbekannten) Person. Bisweilen sind auch optische Vermerke zu entschlüsseln, verschiedenfarbige Dreiecke, sogenannte "Winkel", die zeigten, welcher Haftkategorie jemand zugeordnet wurde und mit welchen Überlebenschancen das verbunden war.
Lernen durch Fragen
Jede Frage zu einer Häftlingsakte, die man beantwortet, wirft beim Bearbeiten neue auf. Die allerdings nicht im Online-Fragen-Katalog abgearbeitet werden: "Haftgrund: Pole" liest man zum Beispiel, "Nase: krumm", "Gebiss: acht Zähne fehlen", "Geburtsjahr: 1928" und "Inhaftierung: 16. Juli 1943", "Haftgrund: politisch".
Vielleicht ein Grund, warum das Online-Projekt, das mit Schulklassen im Geschichtsunterricht gestartet war, so leicht verfängt, nicht nur bei Jugendlichen. Es ist die plötzliche Nähe zu einem Menschen, dessen Leben man wie im Zeitraffer vor sich hat. Projektleiterin Sonja Pösel: "Schüler zum Beispiel können sofort andocken, da kommen sofort Fragen auf: 'Warum wurde jemand mit 16 als politisch verhaftet?', 'Darf der nicht seine Meinung sagen?' oder 'Warum wurden Körpermerkmale erfasst?', 'Der Mann hatte 7 Kinder, die Ehefrau im KZ Buchenwald, was ist mit den Kindern passiert?'", so schildert Sonja Pösel einen Bruchteil der Fragen, denen sie begegnet, wenn Jugendliche mit diesen historischen Dokumenten arbeiten: "Die Akten und die Fragen, die sich daraus ergeben, geben tausend Ansatzpunkte für Bildung."
Von der KZ-Häftlingsnummer zum Menschen
Sobald man mit einer Häftlingskarte fertig ist, wird auf der Seite in kurzen Sätzen das Leben der Person zusammengefasst. Der entmenschlichte Häftling, der auf eine Nummer reduziert war, ist wieder ein Mensch, so die Idee dieses Projekts. "Das ist eine neue Art von Erinnerungskultur. Das ist anders, man ist näher dran, als wenn man zum Beispiel eine der Holocaust-Gedenkstätten besucht," beschreibt die Projektleiterin diesen Effekt. Zum Beispiel, wenn man beim Auswerten in einer Akte auf jemanden aus einem Ort stößt, den man kennt oder dessen Straße, oder mit dem gleichen Geburtsdatum.
"Wir geben den Menschen damit ihre Geschichte zurück, die anonymisierte Häftlings-Nummer wird wieder zum Menschen mit Namen und Lebensweg," fasst Sonja Pösel das Projekt-Anliegen zusammen. Die Ergebnisse fließen ein in das Online-Archiv der Arolsen-Archives, auf deren Seite man hier nach Personen suchen kann. Das Archiv ist bis heute Anlaufstelle für Menschen auf der Suche nach verschollenen Angehörigen: "Wir bekommen pro Jahr rund 20.000 Anfragen und rund 500.000 Menschen recherchieren jedes Jahr in unserem Online-Archiv."
Dadurch, dass bei diesem Online-Projekt gezielt die Namen von Angehörigen und deren Verbleib dokumentiert werden, können bestenfalls weitere Schicksale geklärt werden. Aktuell ist eine neue Charge Dateikarten eingestellt worden, aus dem KZ Stutthof.
#everynamecounts" – Aus Schulprojekt wird digitales Erinnerungsmonument
Inzwischen ist das Projekt #everynamecounts längst kein Geschichtsunterrichts-Projekt mehr. "Wir sind 2020 damit online gegangen", erzählt Sonja Pösel und macht eine Pause. 2020? War da nicht was? "Die große Langeweile im Corona-Lockdown war im Rückblick eine Art Booster für das Projekt, weil die Leute Zeit hatten."
Aber wer liest sich eigentlich durch KZ-Dokumente? "Das hat uns selbst überrascht", sagt Pösel, "Von 14 Jahren bis 80, und dabei sticht keine Altersgruppe besonders hervor." Drei große Motive gebe es bei den Freiwilligen, erzählt die Projektleiterin, "die einen gehören zu den Nachkommen der Opfer, die den Menschen ihre Namen, ihr Leben zurückgeben wollen, damit sie nicht vergessen werden; die anderen sind Menschen mit Tätern in der Familie, die möchten etwas Gutes tun. Und solche, die sagen, das ist 'Open Data Wissen', diese Informationen müssen für alle zugänglich sein." Auf der Webseite gibt es auch einen Bereich, in dem man Fragen zu einzelnen Datenblättern mit anderen diskutieren kann.
Wie wertvoll sind Daten für die Forschung, die Nicht-Historiker zusammentragen?
Aber wie wird eigentlich dafür gesorgt, dass sich beim Auswerten keine Fehler in die Datenbank einschleichen? Die einzelnen Blätter werden zufällig drei verschiedenen Freiwilligen zugeteilt, schildert Sonja Pösel den Prozess. Deren Ergebnisse werden dann maschinell abgeglichen. Kommt es bei Datenblättern zu verschiedenen Ergebnisse, gehen sie weiter an Experten der Arolsen Archives, die umstrittene oder unklare Angaben überprüfen.
Ein Projekt für jede/n?
Der Fairness halber muss man sagen: Wer sich auf diese Art von Geschichtsforschung einlässt, läuft schnell Gefahr, die Zeit zu vergessen. Ist man nämlich durch mit dem Fragenkatalog einer inhaftierten Person, erscheint augenblicklich das nächste Dokument auf dem Bildschirm. Und einen Menschen, dessen Schicksal einem so auf den Schreibtisch gespült wird, einfach wegzuklicken, fällt schwer.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 27. Januar 2023 | 14:00 Uhr
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