20 Jahre EU-Osterweiterung Freude und Sorgen am Fichtelberg: Familie Kelch im Europa ohne Grenzen
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01. Mai 2024, 06:00 Uhr
Vom Harz nach Böhmen in den Urlaub hat es Thomas Kelch gezogen, da trennte noch die Mauer Europa. Dann zog er zu seiner Frau und arbeitete in Tschechien. Nach der EU-Osterweiterung gingen die Kinder in den deutsch-tschechischen Kindergarten in Oberwiesenthal, bis die ganze Familie in den Kurort umzog. Mit der EU hat Mutter Daniela Kelch jeden Tag auf Arbeit zu tun. Und ihre Kinder nutzen den Alltag ohne Grenzen, haben aber die Welt im Blick. Ein Besuch im Grenzgebiet.
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- Ein Bauschild mit Folgen: Wie Daniela Kelch zur EU-Fördermittel-Expertin wurde.
- Freude vor 20 Jahren stärkte Freiheitsgefühle im Osten, sagt auch der Oberbürgermeister von Sebnitz.
- Die ganze Welt im Blick: Eltern lassen ihre Kinder in die Welt ziehen.
Zig Schilder stehen oder hängen in Sachsen mit der EU-Flagge und dem Hinweis: "Gefördert aus Mitteln der Europäischen Union". So ein Schild erblickte eines sonntags auch Daniela Kelch beim Spazierengehen in Breitenbrunn. Ein Wanderparkplatz mit Info-Pavillon war als grenzübergreifendes Projekt gebaut worden. "Gleich am Montag habe ich meine Bewerbung im Rathaus abgegeben. Ich wollte für ein deutsch-tschechisches Projekt nützlich sein."
Tschechisch-deutsches Leben in Familie und Beruf
Die gebürtige Tschechin und Verwaltungsfachangestellte arbeitete damals, das war 2011, als Mini-Jobberin in einem Schuhladen in Oberwiesenthal. Kurz darauf wurde sie zum Vorstellungsgespräch eingeladen und dann Verwaltungsmitarbeiterin für Fördermittel in Breitenbrunn. Seither sind viele Fördergelder in die Erzgebirgs-Region geflossen, die sie mit beantragt hat: darunter ein Feuerwehrdepot für 1,6 Millionen Euro, Gelder für Feuerwehrautos, deutsch-tschechische Schulprojekte und den Ausbau von Wanderwegen auf sächsischer und böhmischer Seite.
Mittlerweile arbeitet Daniela Kelch für den Kurort Oberwiesenthal und freut sich, dass eine grenzüberschreitende Erlebnisroute besonders für Familien ausgebaut wird: der Christkindelpfad auf tschechischer Seite und der Oberwiesenthaler Fichtelchenpfad sollen mit EU-Geldern ergänzt und neu gestaltet werden.
Für deutsch-tschechische Projekte in Sachsen sind in den nächsten Jahren 152 Millionen EU-Fördergelder vorgesehen, wie die Grafik zeigt.
Freude und Freiheitsgefühle vor 20 Jahren
An ihre Freude zur offiziellen Grenzöffnung vor 20 Jahren zwischen Deutschland und Tschechien erinnert sich Daniela Kelch noch genau. "Ich hatte damals das Gefühl, dass wir näher an den Westen heranrücken, dass die Tschechische Republik in der Mitte Europas ist."
So ähnlich beschreibt im 110 Kilometer Luftlinie entfernten Sebnitz auch der Oberbürgermeister Roland Kretzschmar (parteilos) die Stimmung vor 20 Jahren. "Die Öffnung war ja der Abbau von Barrieren und der logische Schritt 15 Jahre nach dem Mauerfall. Das hat uns im Freiheitsgefühl bestärkt", sagt der Kommunalpolitiker und blickt gerne auf diese Aufbruchsstimmung zurück.
Deutsche Bürokraten und wendige Tschechen?
20 Jahre später sei das grenzenlose Europa Alltag. "Deutsche und Tschechen leben, arbeiten und wohnen hier wie dort, kaufen beieinander ein, es gibt kulturellen Austausch." Nur beim Thema Bürokratie wird der Lokalpolitiker nachdenklich. Mit tschechischen Kollegen und Hilfe der EU plant er einen grenzüberschreitenden Radrundweg. Während er monatelang Genehmigungsverfahren organisieren müsse, habe die tschechische Seite in wenigen Wochen alle Unterschriften parat gehabt und losgelegt.
"Ja, wir sind bürokratisch. Alles muss nach Vorschrift gehen. Die Tschechen sind da etwas wendiger", benennt die Leiterin der Kindertagesstätte "Regenbogen" der Johanniter in Oberwiesenthal, Sylvia Weißbach, diesen Unterschied. Seit mehr als zwei Jahrzehnten gilt die Kita als binational, Kinder aus Tschechien oder die mit ihren Eltern in der sächsischen Grenzregion leben, besuchen die Kita und später den Hort im Haus.
Aktuell arbeiten 238 tschechische Staatsbürger im Kurort am Fichtelberg, die meisten in Hotels, Gaststätten und im Dienstleistungssektor. In ganz Sachsen waren zuletzt 15.533 tschechische Staatsbürger beschäftigt. Die Grafik zeigt den Anteil im Vergleich zu allen ausländischen Beschäftigen in Sachsen (131.253) und auch die Zahl der polnischen Mitarbeiter (29.165) im Freistaat:
Aus der Not entstand Vorzeige-Kita
Das Kita-Projekt kam ins Rollen, weil im Nachbarort Boží Dar Ende der 1990er Jahre der Kindergarten schloss. "2003 hatten wir 20 tschechische Kinder hier." Das sei weniger geworden. Jetzt kämen fünf bis sieben Kinder pro Jahr hinzu. Wenn Sylvia Weißbach darüber nachdenkt, dann sind "bestimmt 150, 160 tschechische Kinder bei uns gewesen".
In der Kita werden Volkslieder auf Deutsch und Tschechisch gesungen, zum Nikolaustag kommt der Mikuláš, Kinder und Personal sprechen und/oder verstehen beide Sprachen. Seit 2004 arbeitet eine tschechische Erzieherin in der Kita. Weißbach hat festgestellt, dass die Eltern beider Seiten "die Nähe zur Kultur des anderen wollen".
Es sind bestimmt schon 150, 160 tschechische Kinder bei uns gewesen.
Nachteil für tschechische Eltern
Allerdings müssen sich tschechische Eltern diese Nähe auch leisten können. Denn diejenigen, die nicht direkt in zwei Grenzorten wohnen, bezahlen den Kita-Platz voll, weil sich die tschechische Seite schon vor Jahren aus der Ko-Finanzierung des Vorzeige-Projekts zurückgezogen hat. "Das ist ärgerlich und auch unfair. Auch die tschechische Seite müsste sich zu gleichen Teilen an den Lasten beteiligen. Aber wir haben es aufgegeben, das einzufordern", sagt Weißbach. In Sachsen teilen sich Kommunen, Land und Eltern die Kosten je Kita-Platz.
Auch Familie Kelch hatte ihre Kinder einst in den "Regenbogen"-Kindergarten geschickt. Weil die Fahrerei für den Nachwuchs, der nach Kita und Grundschule auch in Arbeitsgemeinschaften und Gruppen Hobbys nachgehen wollte, der Mutter Daniela zu viel wurde, entschloss sich die Familie vom 15 Kilometer entfernten Lipá nach Oberwiesenthal umzuziehen. Die Vorteile der offenen Grenzen nutzen sie nun jeden Tag. Wenn die Teenie-Tochter zur Großmutter nach Prag will, dann fährt sie für wenige Euro mit dem Linien- oder Flixbus.
Nächste Generation zieht es nach Asien
Sohn Tom arbeitet als Tischler in Johanngeorgenstadt. Zur Arbeit fährt er über tschechisches Staatsgebiet. "Das ist wesentlich kürzer und die Straßen sind leer." Europa spielt in seinen Plänen keine besondere Rolle, es zieht ihn weiter weg. "Ich will in Japan arbeiten und dort weiter lernen." Der 21-Jährige übt seit einiger Zeit, japanische Schriftzeichen zu lesen. "Eigentlich wollte ich mit der Transsibirischen Eisenbahn durch Russland fahren und dann mit dem Schiff weiter bis Japan." Mal sehen, ob das wegen des Krieges geht, sagt er. "Ich muss erst noch ein Jahr lang sparen."
Junge Menschen müssen raus in die Welt.
"Junge Menschen müssen raus in die Welt. Meine Eltern haben mich auch ziehen lassen", sagt Vater Thomas Kelch zu den Plänen seines Juniors. Als junger Mann war er aus Liebe zu seiner Frau Daniela 1997 als Fliesenleger von Wernigerode nach Tschechien gezogen und hatte dort als Selbstständiger gearbeitet. Ein Jahr habe es gedauert, bis das Nachbarland alle seine Papiere anerkannt habe. Da hatte Thomas Kelch die tschechische Sprache längst gelernt. "Man lernt das automatisch, wenn man in dem Land wohnt und arbeitet."
Vom Harz nach Böhmen zurück ins Erzgebirge
Anfangs hätten sich viele Tschechen über den Deutschen gewundert, der sich bei der Arbeit schmutzig machte, wo doch viele Deutsche meist in großen Autos vorfuhren und öfter unlautere Absichten hegten, erinnern sich die Kelchs schmunzelnd an die Vorurteile. "Ich habe die Lücke gefüllt, die tschechische Handwerker hinterließen, weil sie ja damals alle in den Westen zum Arbeiten fuhren."
Thomas und Daniela Kelch freuen sich, dass die Grenzen in Europa offen sind, freier Handel ohne Zölle läuft und Hürden wie in den 1990er-Jahren verschwunden sind. Allerdings: "Mir macht große Sorgen, dass Europa kaputtgeredet wird und sich viele von EU-Vorschriften gegängelt fühlen." Seine Frau ergänzt: "Mein Eindruck ist, dass die Politiker in Brüssel den Kontakt zur Realität verlieren. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie hart ein Erzgebirger für sein Geld arbeiten muss." Sie fände es gut, wenn in Brüssel alltagsnäher entschieden würde.
Mein Eindruck ist, dass die Politiker in Brüssel den Kontakt zur Realität verlieren. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie hart ein Erzgebirger für sein Geld arbeiten muss.
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Regionalreport aus dem Studio Bautzen | 29. April 2024 | 16:30 Uhr