MDRfragt Sachsen sehen EU-Osterweiterung positiver
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01. Mai 2024, 03:00 Uhr
Auch 20 Jahre nach der ersten Osterweiterung der Europäischen Union zeigt das Meinungsbarometer MDRfragt, dass es in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen viele Sympathien für diesen Schritt gibt. Vor allem in Sachsen haben viele Befragte das Gefühl, dass ihre Regionen profitiert haben und die Beziehungen zu den direkten EU-Nachbarn Polen und Tschechien gut sind. Doch beim Sicherheitsgefühl scheiden sich die Geister.
- Die Mehrheit hält die EU-Osterweiterung für richtig.
- In Sachsen fällt die Einschätzung bei fast in allen Fragen positiver aus.
- Gleichzeitig ist der Blick auf das persönliche Sicherheitsgefühl gespalten.
Zwei Drittel finden EU-Osterweiterung richtig
Geht es nach dem Stimmungsbild beim Meinungsbarometer MDRfragt, dann ist es richtig, dass die Europäische Union vor genau 20 Jahren mit Polen, Tschechien, den baltischen Staaten, der Slowakei, Ungarn und einigen weiteren Ländern um zehn Mitglieder gewachsen ist.
Die sogenannte erste EU-Osterweiterung finden knapp zwei Drittel der fast 24.000 Befragten aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen aus heutiger Sicht richtig. Ein knappes Drittel hält diesen Schritt hingegen eher für falsch.
MDRfragt kann mit seinem dialogbasierten Ansatz nicht nur Stimmungslagen valide abbilden, sondern dank zahlreicher Wortmeldungen der MDRfragt-Gemeinschaft auch einordnen, was hinter den Zahlen steckt. Mit Blick auf die EU-Osterweiterung argumentieren Befürworterinnen und Befürworter oft mit dem großen Bild.
Osterweiterung als weiteres europäisches Zusammenwachsen
So verweist Christian (39) aus dem Saale-Orla-Kreis auf eine ganz grundsätzliche Errungenschaft durch die Osterweiterung: "Das Zusammenwachsen von europäischen Völkern, die zuvor 40 Jahre durch den eisernen Vorhang getrennt waren, auch wenn noch lange nicht alle Grenzen im Kopf abgebaut sind." Und auch Dieter (68) aus Dresden argumentiert historisch und sieht als Gewinn, "dass die Länder, denen wir die Einheit zu verdanken haben, sich wirtschaftlich sehr positiv entwickeln".
Andere, wie Mike (54) aus dem Landkreis Leipzig, sehen praktische Vorteile, da die EU-Osterweiterung auch mit weniger Grenzkontrollen einhergeht: "Ich bin Reisebusfahrer, daher habe ich sehr oft in Polen und Tschechien zu tun und freue mich natürlich riesig, nicht mehr Stunden an den Grenzen zu stehen."
Viele Befragte mit gemischten Gefühlen
Auch wenn das MDRfragt-Stimmungsbild überwiegend Zuspruch zur EU-Osterweiterung ergeben hat, zeigen viele Wortmeldungen aus der Gemeinschaft, dass sowohl Licht- als auch Schattenseiten gesehen werden.
So meint Ullrike (64) aus dem Erzgebirgskreis: "Ich habe 31 Jahre in der DDR und 34 Jahre in der BRD gelebt, immer am gleichen Ort und deshalb persönlich von der Erweiterung profitiert. Und zum Glück in Deutschland am positiven Ende des sozialen und wirtschaftlichen Gefälles in der EU. Letzteres halte ich für das größte Problem."
Sandra (58) aus Leipzig sieht es so: "Reisefreiheit, Wahl des Wohnortes, Arbeit – all das geht in Europa problemlos. Wichtig ist aus meiner Sicht, dass die Zusammenarbeit der nationalen/regionalen Behörden besser und einfacher funktionieren muss. Polizei, Steuer und und und."
Und Jörg (73) aus Dresden formuliert ein immer wieder vorgebrachtes Argument: "Während die Freizügigkeit von Arbeitskräften innerhalb der EU als Gewinn betrachtet werden kann, ist der Wegfall der Grenzkontrollen in Bezug auf die Migrationsentwicklung ohne jeden Zweifel schädlich." Jörg argumentiert dabei mit den unterschiedlichen Regeln für Sozialleistungen innerhalb der EU, die für zusätzliche Unwuchten bei der irregulären Migration sorgten.
Kritiker-Argument: zu früh zu groß geworden
Unter jenen, die die EU-Osterweiterung eher falsch oder falsch finden, ist ein Hauptargument: Die Europäische Union hätte vorher einige Regeln ändern müssen. So meint Heiner (85) aus dem Landkreis Bautzen: "Die Aufnahme all dieser Länder war ein großer Fehler, weil keine Reform der EU damit einher lief. Durch das Einstimmigkeitsprinzip ist das Monster EU nicht regierbar." Er verweist etwa auf die schwierigen Diskussionen mit Polen und Ungarn in den vergangenen Jahren.
Auch Jens (64) aus Mittelsachsen verweist auf diese beiden Länder und fehlende klare Regelungen: "Zuerst hätte die EU reformiert werden müssen", begründet auch er seine kritische Sicht auf die EU-Osterweiterung. Auch, um Länder, "die nur des Geldes wegen dabei sind und ansonsten alles als Einmischung sehen, leichter wieder auszuschließen".
In Sachsen fällt Stimmungsbild positiver aus
Egal, ob es um den allgemeinen Blick auf die EU-Osterweiterung oder um einzelne Aspekte wie Wirtschaft und das gesellschaftliche Miteinander mit den östlichen EU-Nachbarn geht: Es fällt auf, dass die Befragten aus Sachsen immer wieder positiver gestimmt sind als die Teilnehmenden aus Sachsen-Anhalt und Thüringen.
Beispiel: Wirtschaft und Fachkräftemangel. Knapp die Hälfte der sächsischen Befragten haben den Eindruck, dass der Fachkräftemangel in ihrer Region durch die EU-Osterweiterung gemindert wurde. In Thüringen und Sachsen-Anhalt sind es jeweils etwa knapp ein Drittel der Befragten.
Ähnlich sieht die Verteilung aus, wenn es allgemein darum geht, ob die Wirtschaft in der eigenen Region von der EU-Osterweiterung profitiert:
Sachsen ist das einzige der drei Bundesländer, das direkt an die östlichen EU-Nachbarn grenzt– und zwar gleich doppelt: an Polen und an Tschechien. Und viele sehen in dem durch die EU-Osterweiterung größer gewordenen gemeinsamen Wirtschaftsraum mit Freiheiten für die Wahl von Wohn- oder Arbeitsort einen echten Standortvorteil.
EU-Osterweiterung für Sachsen existenziell?
"Für Sachsen ist diese Osterweiterung existenziell wichtig, da ohne die wirtschaftlichen Verflechtungen und die vielen Berufspendler aus Tschechien und Polen der Freistaat sehr viel schlechter dastehen würde", meint etwa Andreas (65) aus dem Erzgebirgskreis. Und Ulrich (72) beschreibt aus eigener Beobachtung: "In unserer Grenzregion, Erzgebirge, würden so manche Krankenhäuser und andere Betriebe nicht mehr richtig arbeiten können."
Und auch MDRfragt-Mitglieder, die nicht im Grenzgebiet wohnen, dort aber unterwegs waren, teilen den Eindruck: "Bei einem Ausflug ins Erzgebirge hatte ich den Eindruck, dass die Gastronomie ohne tschechische Arbeitskräfte gar nicht existieren könnte", schreibt etwa Renate (70) aus dem Landkreis Harz.
Beispiel gesellschaftliches Miteinander
Und auch bei der Frage nach dem gesellschaftlichen Miteinander zeigt sich ein vergleichbares Bild: Während in Sachsen-Anhalt und Thüringen mit jeweils knapp der Hälfte ungefähr gleich viele Befragte finden, dass die gesellschaftlichen Beziehungen zu den direkten EU-Nachbarn im Osten gut sind, sehen das in Sachsen zwei Drittel und damit deutlich mehr Befragte so.
Auch hier zeigt sich, dass viele Teilnehmende des MDRfragt-Stimmungsbildes, gerade aus Sachsen, ihre Meinung aus persönlichen Erfahrungen speisen: "Ich habe große Sympathien zu Tschechien und die unmittelbare Nachbarregion", so Andreas aus dem Erzgebirgskreis: "Persönlich empfinde ich es als besonders schön, dass unser Enkelsohn seit sechs Jahren wöchentlich die Musikschule im tschechischen Vejprty besuchen kann und man damit auch persönliche Kontakte hat."
Andere, wie Astrid (58) aus Leipzig sehen mit Sorge darauf, dass die langjährige Regierungs-Partei und aktuelle Oppositionskraft PiS Stimmung gegen Deutschland macht: "Die Beziehungen zu Polen müssen deutlich verbessert werden. Der in Polen durch die PIS verbreitete Deutschlandhass darf keinen neuen Nährboden erhalten, dafür bedarf es auch Anstrengungen von deutscher Seite – zum Beispiel die Befindlichkeiten der Polen ernster nehmen."
Weitere Stimmungen aus dem sächsisch-polnischen Grenzgebiet hat MDR-Reporter Stefan Ganß in Görlitz gesammelt. Die Stimmen der Passantinnen und Passanten und weitere Ergebnisse des MDRfragt-Meinungstrends gab es im ARD Mittagsmagazin zu sehen:
Offene Grenzen schlecht fürs Sicherheitsgefühl?
In einer Frage ist die MDRfragt-Gemeinschaft deutlich gespalten: Fast die Hälfte der Befragten meint, ihr persönliches Sicherheitsgefühl sei beeinträchtigt, weil die Grenzen nach Osten durch die EU-Erweiterung offen sind. Nur geringfügig mehr meinen, ihr Sicherheitsgefühl sei davon nicht berührt.
Neben dem Argument, dass über die offenen Grenzen unter anderem viele Drogen kämen und Diebstähle ein bleibendes Problem seien, führen viele MDRfragt-Mitglieder ganz andere Entwicklungen an, die nach ihren Angaben ihr Sicherheitsgefühl beeinträchtigen.
Immer wieder findet sich in den Kommentarspalten die Sorge um den Frieden und die Sicherheit in Europa, oft wird dabei die EU-Osterweiterung mit der Osterweiterung des westlichen Verteidigungsbündnisses Nato verknüpft.
Stellvertretend dafür der Kommentar von Harald (70) aus Dresden: "Das größte Problem ist, dass mit der Osterweiterung der EU (positiv) auch eine Osterweiterung der Nato erfolgte (sehr negativ) und sie führte zur Ausgrenzung von Russland durch die EU (wirtschaftlich und sicherheitspolitisch sehr negativ)."
Andere, wie Jens (58) aus Leipzig, berichten, dass sie allgemein ein beeinträchtigtes Sicherheitsgefühl haben, das sich nicht speziell auf die offenen Grenzen gen Osten bezieht: "Ich hatte früher keine Bedenken, nach Prag, Budapest, Warschau oder andere Städte zu reisen. Allerdings, genau wie in meiner Heimat, habe ich ein ungutes Gefühl bezüglich der ansteigenden Gewaltkriminalität."
MDRfragt-Mitglied Ulrich (70) aus dem Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge sieht sein Sicherheitsgefühl nicht beeinträchtigt und rät zur Gelassenheit: "Illegale Grenzgänger und Schmuggler gab es schon immer."
Über diese Befragung
Die Befragung vom 19. bis 23. April 2024 stand unter der Überschrift: "EU-Wahlcheck: Migrationspolitik und Osterweiterung".
Bei MDRfragt können sich alle anmelden und beteiligen, die mindestens 16 Jahre alt sind und in Sachsen, Sachsen-Anhalt oder Thüringen wohnen, denn: Wir wollen die Vielfalt der Argumente kennenlernen und abbilden. Die Kommentare der Befragten erlauben, die Gründe für die jeweiligen Positionen und das Meinungsspektrum sichtbar zu machen.
Da sich jede und jeder beteiligen kann, der möchte, sind die Ergebnisse von MDRfragt nicht repräsentativ. Bei dieser Befragung haben sich 23.647 Menschen aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen online mit ihrer Meinung eingebracht.
Die Ergebnisse von MDRfragt werden nach wissenschaftlichen Kriterien anhand verschiedener soziodemografischer Merkmale wie Alter, Geschlecht oder Bildungsgrad gewichtet, um sie an die tatsächliche Verteilung in der mitteldeutschen Bevölkerung anzupassen. Damit wird die Aussagekraft der Ergebnisse erhöht und es ergibt sich ein valides und einordnendes Stimmungsbild aus Mitteldeutschland.
MDRfragt wird zudem wissenschaftlich beraten und begleitet, beispielsweise durch regelmäßige Validitätstests. Mehr zur Methodik von MDRfragt finden Sie am Ende des Artikels.
Dieses Thema im Programm: Das Erste | ARD Mittagsmagazin | 30. April 2024 | 12:10 Uhr