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Basierend auf den Tagebüchern von Anne Frank, Helga Goebbels und Albina Bakukha schlägt das Thespis-Zentrum Bautzen Brücken zwischen den drei unterschiedlichen Mädchen. Michael Bartsch hat sich die Premiere angesehen.

MDR KULTUR - Das Radio Do 14.12.2023 15:30Uhr 03:59 min

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Thespis-Zentrum Bautzen: Neues Theaterstück zeigt, was Krieg mit Kindern macht

14. Dezember 2023, 17:56 Uhr

Seit Russlands Krieg gegen die Ukraine steht am Thespis-Zentrum Bautzen die Arbeit mit Geflüchteten im Vordergrund. Auch in dem neuen Stück "Kinderszenen" spielen Jugendliche aus der Ukraine, Russland, Syrien und Deutschland mit. Es basiert auf den Tagebüchern und Briefen von Anne Frank, Goebbels Tochter Helga und der jungen Ukrainerin Albina Bakukha und schlägt Brücken zwischen diesen historisch weit entfernten Figuren.

Wie ein Leitmotiv zieht sich die bekannte "Träumerei" aus Robert Schumanns "Kinderszenen" durch die etwa 70-minütige Aufführung am Bautzener Thespis-Zentrum. Der Komponist hatte sie damals nicht zuerst an Kinder adressiert, und auch die drei Protagonistinnen stehen an der Schwelle zum Erwachsenenalter. "In diesem Projekt geht es um das Erwachsenwerden, um die erste Liebe, um die Partnerschaft", stellt Sidra Halaly aus Syrien das Stück vor. "Um Verliebtheit, noch nicht Liebe", korrigiert Hans Alvin Hillmann, der mit Sidra gemeinsam die Geschichte der drei Mädchen moderiert und kommentiert.

Theater mit Jugendlichen aus der Ukraine, Russland und Syrien

Doch dieses jüngste, am 13. Dezember uraufgeführte Stück wäre keine Thespis-Produktion, bliebe es bei Pubertätsproblemen stehen. 2018 hatte das Deutsch-Sorbische Volkstheater Bautzen seine Bürgerbühne gegründet. Sie sollte im konfliktträchtigen Bautzener Milieu zu Dialog und Verständigung beitragen.

Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine und der parallelen Leitungsübernahme durch den russlanderfahrenen Georg Genoux steht die Arbeit mit Geflüchteten im Vordergrund. Auch in den "Kinderszenen" spielen Jugendliche aus der Ukraine, aus Russland, Syrien und Deutschland.

Die Idee gärte in den Plänen von Georg Genoux, seit er vor sieben Jahren im Donbass die heute sechzehnjährige Ukrainerin Albina Bakukha und ihre Tagebuchaufzeichnungen kennenlernte. Schon 2014 und dann 2022 wieder überlebte sie im Bunker russische Bombardements. Diese Empfindungen schildert sie auch im Stück. Genoux bringt sie fiktiv mit nur scheinbar weit entfernten historischen Figuren zusammen, die ebenfalls schon nicht mehr Kinder sind.

Bautzener Stück verbindet Anne Frank mit Goebbels Tochter

Die Jüdin Anne Frank und ihre Familie versteckten sich in einem Amsterdamer Hinterhaus vor den Nazis, sie stirbt im KZ. Helga Goebbels war die älteste Tochter von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels und seiner Frau Magda und wird im Berliner Führerbunker kurz vor Kriegsende 1945 gemeinsam mit fünf Geschwistern von den fanatischen Eltern umgebracht.

"Die eine erkennt sich in der anderen wieder", begründet Georg Genoux, warum die drei Mädchen und ihr Schicksal so ähnlich erscheinen. "Seit meinen vielen Reisen in den Donbass hat mich leider zunehmend interessiert, was der Krieg mit Kindern macht", fügt er hinzu. 

Drei Mädchen vereint im Schicksal und im Streit

Alle drei Mädchen schrieben Tagebuch oder Briefe wie Helga Goebbels an ihren Freund Heinrich. Das von Anne Frank wurde in ungezählte Sprachen übersetzt. Die fiktive Begegnung dieser drei Heranwachsenden an Orten der Angst gelingt nicht nur auf eine klagende, schmerzvolle Weise, sondern auch mit viel Humor und Einfühlungsvermögen in ihre prägende pubertäre Entwicklungsphase. Aus den Tagebüchern wird nur wenig zitiert. Dialoge dominieren.

Wie Puppenstubenräume sind das Amsterdamer Zimmer, der Bunker, oder ein KZ auf einem drehbaren Tisch aufgebaut. Und Puppen spielen auch mit, als Alter Ego und Gesprächspartner der einsamen Mädchen. Die sind nicht nur im Schicksal vereint, sie streiten sich auch wie Anne und Albina. "Dein Tagebuch ist sehr pathetisch", kritisiert Albina. "Wie kannst Du wissen, was ich durchgemacht habe", kontert Anne. Und Helga äußert in rüdem Ton ihre anerzogene Judenverachtung.

Inszenierung nutzt Instagram und Co.

Die bewundernswerten jungen Darstellerinnen hätten während der Inszenierung die Analogien, ja die erschreckende Kontinuität des Verbrechens über 80 Jahre entdeckt, erzählt Albina, die sich selber spielt.

Nicht nur wegen der geplanten Auftritte an Schulen bieten die "Kinderszenen" eine Art Übersetzungshilfe. Instagram und andere Plattformen sind nun einmal wesentliche Kommunikationsmittel der Gleichaltrigen heute. Hans und Sidra kommentieren auf diese flapsige Weise und schaffen Anknüpfungspunkte. "Hashtag Ihr, Anne und Helga: Vor 84 Jahren wollten zwei Oberarschlöcher Joseph Stalin und Adolf Hitler die Welt erobern …", stottert sich Hans zurecht.

Symbol für Frieden, Freundschaft und Liebe

Das Finale entdeckt die Vergebung als Chance für einen tragenden Frieden. Die drei und ihre Puppen wollen eine Party feiern, über den Tod von Anne und Helga hinaus. Das Schlussbild innigster Zuneigung könnte kitschig wirken, würde es nicht so nahegehen. "Wie wir uns schweigend umarmen, ist ein großes Symbol von Freundschaft und Liebe", schließt Albina.

Informationen zum Stück (zum Aufklappen)

Theaterinszenierung "Kinderszenen"
Basierend auf den Tagebüchern und Briefen von Anne Frank, Helga Goebbels und Albina Bakukha

Thespis-Zentrum
Goschwitzstraße 30
02625 Bautzen/Budyšin

Termine:
14. Dezember 2023 um 18 Uhr (ausverkauft)
Weitere Auftritte in Schulen geplant.

Darsteller*innen: Albina Bakukha, Suzan Ali, Oksana Kobzar, Sidra Halaly und Hans Alvin Hillmann
Regie: Olga Bakukha, Georg Genoux
Dramaturgie: Yana Humenna, Den Humennyi
Bühne: Anastasia Tarkhanova
Musik: Matthias Petsche und Sebastian Schmidt
Licht: Anastasia Michalska

Redaktionelle Bearbeitung: vp

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | MDR KULTUR am Nachmittag | 14. Dezember 2023 | 17:40 Uhr

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