Betroffene berichten Gewalt gegen Lehrer: "Wir fühlen uns alleingelassen"
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19. Juni 2023, 23:37 Uhr
Es ist ein immer größeres Problem an Schulen: Gewalt gegen Lehrkräfte. Betroffene aus Sachsen-Anhalt berichten von täglichen Beleidigungen, Mobbing und zunehmender Respektlosigkeit. Aber auch körperlich werden Lehrkräfte angegriffen. Manche haben Angst. Seiteneinsteiger schreckt die Situation ab. Der Lehrermangel verschärft die Missstände. Und unter betroffenen Lehrkräften herrscht vor allem ein Gefühl: Hilflosigkeit.
- Deutlich häufiger als in den Vorjahren sind Lehrkräfte im vergangenen Jahr das Ziel von Straftaten im Umfeld von Schulen geworden.
- Nur wenige Lehrerinnen und Lehrer wollen öffentlich darüber sprechen – vielleicht, weil sie verbeamtet sind.
- Das Landesschulamt erklärt, das Problem zu beobachten und sichert Unterstützung zu. Trotzdem fühlen sich manche Betroffene alleingelassen.
Plötzlich flog das Schulbuch. Gezielt geworfen von einem Schüler. Susanne* wurde an der Schulter getroffen.
Plötzlich eskalierte die Situation. Ein Fünftklässler schrie: "Wenn ich ein Messer hätte, würde ich dich stechen."
Plötzlich packte eine Schülerin die Lehrerin an den Handgelenken und stieß sie zur Seite – nur, um danach einen Mitschüler zu schlagen.
Drei Situationen aus dem Schulalltag der vergangenen Monate, von denen Susanne im Gespräch mit MDR SACHSEN-ANHALT berichtet. Susanne heißt nicht Susanne. Sie will anonym bleiben, weil sie weiter als Lehrerin arbeiten will und Gewalt gegen Lehrer ein Tabu-Thema ist. Doch sie hat sie erlebt. Mehrfach.
"Ich habe versucht, weiterzumachen", sagt sie, "aber irgendwann ging es nicht mehr. Ich hatte Angstzustände." Sie kündigte, wechselte von einer Magdeburger Gemeinschaftsschule auf eine Privatschule. Die Erinnerungen an die Gewalterfahrungen bleiben. "Viele Lehrer", sagt Susanne, "fühlen sich hilflos und allein gelassen. Sie wissen nicht mehr, was sie noch tun sollen."
Das Thema "Gewalt gegen Lehrer" bei Fakt ist!
In der Sendung wurden verschiedene Lösungsansätze diskutiert, um gegen Gewalt in den Schulen vorzugehen. Tobias Nolte erklärte, um Gewalt vorzubeugen, sei neben der fachlichen Arbeit Beziehungsarbeit mit den Schülerinnen und Schülern sehr wichtig. Dafür brauche es viel Zeit.
Um diese Zeit zu erhalten, schlug Borchert (CDU) vor: "Ich bin der festen Meinung, dass es an der Zeit ist, die Lehrpläne zu entschlacken. Wir unterrichten teilweise Dinge, die keinen mehr interessieren. Und da gewinnen wir Zeit. Wir dürfen das nicht weiter so machen, dass alles unter Druck steht."
Ein Tabu-Thema für Lehrerinnen und Lehrer
An vielen Schulen ist Gewalt gegen Lehrkräfte alltäglich. Deutlich häufiger als in den Vorjahren sind Lehrerinnen und Lehrer im vergangenen Jahr das Ziel von Straftaten im Umfeld von Schulen geworden. Das geht aus Zahlen des Innenministeriums in Sachsen-Anhalt hervor.
Demnach registrierte die Behörde 104 Opferstraftaten zum Nachteil von Lehrern. Davon waren 43 Fälle von Körperverletzung und 45 Fälle von Bedrohungen. Auch bundesweit ist dieser Trend zu beobachten: Laut einer repräsentativen Umfrage des Verbands für Bildung und Erziehung (VBE) berichteten 32 Prozent von 1.308 befragten Schulleitern von körperlichen Angriffen gegen Lehrer an ihrer Schule in den vergangenen fünf Jahren. Zum Vergleich: 2018 waren es noch 26 Prozent.
Auch zahlreiche Lehrerinnen und Lehrer bestätigen das MDR SACHSEN-ANHALT. Allerdings: Öffentlich sprechen will kaum jemand darüber. "Gewalt gegen Lehrkräfte darf kein Tabu-Thema mehr sein", fordert Torsten Wahl, Landesvorsitzender des VBE. "Die Lehrkraft muss ebenso wie die Schulleitung die volle Unterstützung des Dienstherrn erhalten." Auch, damit es einfacher wird, über Gewalterfahrungen zu sprechen.
"Das ganze System funktioniert nicht"
Die Realität sieht aktuell aber anders aus. "Ich war die einzige Lehrerin, die solche Situationen gemeldet hat, obwohl sie auch in anderen Klassen vorgekommen sind", erzählt Susanne. "Ich hatte das Gefühl, dass es den Verantwortlichen am liebsten wäre, wenn die Lehrkräfte den Mund halten und einfach weitermachen. Und viele machen das auch. Ihnen fehlt der Mut, vor allem, wenn sie verbeamtet sind."
Sie aber hatte den Mut, die Missstände anzusprechen – gegenüber der Schulleitung, die die Vorfälle klein halten wollte und dem Landesschulamt, das sie in letzter Konsequenz um eine Versetzung an eine andere Schule bat. Diese Bitte wurde allerdings abgelehnt. Das Ergebnis: Susanne kündigte und ging zurück an eine Privatschule.
"Dabei hatte ich vorher extra den Schritt an eine staatliche Schule in einem Brennpunkt mit hohem Migrationsanteil gemacht, um der Gesellschaft zu helfen", erzählt Susanne. Die Ernüchterung folgte nach wenigen Monaten.
Jeder schiebt die Verantwortung von sich. Wenn du dich bei der Stadt Magdeburg beschwerst, zeigen sie auf das Landesschulamt. Das zeigt auf das Bildungsministerium. Das zeigt wiederum auf die Politik. So dreht sich das im Kreis.
Die Lehrerin sagt: "Jeder schiebt die Verantwortung von sich. Wenn du dich bei der Stadt Magdeburg beschwerst, zeigen sie auf das Landesschulamt. Das zeigt auf das Bildungsministerium. Das zeigt wiederum auf die Politik. So dreht sich das im Kreis. Das ganze System funktioniert nicht."
Landesschulamt versucht, "jedem bestmöglich zu helfen"
Tobias Kühne, Sprecher des Landesschulamtes, sieht das anders. "Wir haben ein ganz klares Verfahren. Es gibt in jeder Schule den sogenannten Krisenordner, wo klar strukturiert angegeben ist, was nach solchen Gewaltvorkommnissen von wem zu tun ist", sagt er. "Dieses Instrument soll in erster Linie Betroffenen den nötigen Halt geben."
Im Nachgang würden der Schule sowohl Erziehungsmaßnahmen als auch Ordnungsmaßnahmen zur Verfügung stehen. Zum Beispiele könnte letzteres den zeitweiligen Ausschluss vom Unterricht bedeuten, so Kühne. Auch psychologische Unterstützung könne angefordert werden.
Doch der Sprecher des Landesschulamtes weiß auch: "Opfer von Gewalterfahrungen zu werden, ist etwas hochgradig individuelles. Der eine schüttelt sich vielleicht und für ihn ist es damit erledigt. Ein anderer ist sehr schwer betroffen. Das kann bis dahin gehen, dass jemand seinen Beruf nicht mehr ausüben kann. Die Unterstützung passgenau zu machen, ist schwierig. Wir versuchen aber, jedem bestmöglich zu helfen. Wahrscheinlich werden wir nicht jedem so gerecht, wie er es als Individuum braucht. Aber wir geben unser Bestes."
Corona-Pandemie als Gewalt-Treiber?
Denn gerade nach der Corona-Pandemie sei ein Anstieg von Gewalt gegenüber Lehrkräften zu verzeichnen. "Die Jugendlichen wurden schwer belastet durch die Pandemie", sagt Kühne. "Sie kamen nicht mehr in ihre geregelten Tagesabläufe herein. Sie konnten nicht in die Schule gehen. Das ist aber ein wichtiger Anker. Der hat ihnen damals gefehlt. Und jetzt sollen sie wieder dort leben und arbeiten. Das scheint ein hohes Maß an Stress auszulösen und dieser Stress kanalisiert sich in Gewalt."
Die Unterstützung passgenau zu machen, ist schwierig. Wir versuchen aber, jedem bestmöglich zu helfen.
"Du musst Angst haben"
Gewalt, von der auch Michaela Märtens und Steffen Rau berichten. Beide unterrichten an einer Magdeburger Gemeinschaftsschule. Treffpunkt Schulhof. Freistunde. Die Sonne scheint. Es ist ruhig. Aber der Schein trügt.
"Beleidigungen sind mittlerweile an der Tagesordnung – und zwar in einem Ausmaß, das vor einigen Jahren noch nicht denkbar war", sagt Märtens, studierte Mathe- und Physiklehrerin. "Ich will nicht pauschalisieren", sagt die 59-Jährige, "aber es ist ganz klar der Trend erkennbar, dass es immer mehr Kinder gibt, die sich überhaupt nicht mehr im Griff haben. Der Respekt vor den Lehrkräften ist nicht mehr so vorhanden, wie er mal war."
Physische Gewalt habe sie – genau wie ihr Kollege – zum Glück noch nicht erlebt. Vielmehr geht es vor allem um fehlenden Respekt – und darum, was das mit den Lehrkräften macht. Ihre Aussagen lassen tief blicken: "Bei manchen Schülern ist die Hemmschwelle zur Gewalt so gering, dass du Angst haben musst. Wenn ich manchen Schülern in ein, zwei Jahren draußen begegne, würde ich die Straßenseite wechseln, weil ich Angst hätte, dass er handgreiflich wird."
Lehrermangel verschärft Situation
Für Märtens steht fest: Die Probleme an der Schule spiegeln die Probleme in der Gesellschaft. "Es gibt immer mehr Schüler, die schon früh, in der siebten oder achten Klasse, im sozialen Abseits stehen und keine Perspektive für sich sehen", sagt die Lehrerin. "Sie haben keine Ziele. Ihnen ist im Grunde alles egal. Das äußert sich dann natürlich auch in ihrem Benehmen den Lehrern gegenüber."
Hinzu kommt der Lehrermangel, die damit verbundene große Belastung für die Lehrkräfte. Die Klassen werden immer größer. "Früher hattest du vielleicht drei oder vier Schüler, die gestört haben. Das hast du dann noch kontrollieren können", sagt Märtens. "Aber es werden immer mehr. Wir bräuchten viel mehr Lehrer, damit die Klassenstärken kleiner werden und du nicht so viele Brennpunkte in der Klasse hast. Das wäre ein Paradies – aber das gibt es bekanntlich nur im Märchen."
Eine weitere Herausforderung sei die Integration von ausländischen Schülerinnen und Schülern. "Ein großes Problem ist die Kommunikation mit den Eltern", sagt Märtens. "Das macht einem natürlich das Leben schwer." Weil nicht frühzeitig auf Gewaltpotenziale hingewiesen werden könne, weil die Schülerinnen und Schüler das Gefühl hätten, ihnen drohten ohnehin keine Konsequenzen. Märtens sagt: "Dann muss das Kind bei Elterngesprächen übersetzen und du weißt als Lehrkraft gar nicht, was das Kind erzählt."
Mit Tränen in den Augen aus der Klasse
In Zeiten, in denen Lehrkräfte in Sachsen-Anhalt dringend gesucht werden, können die Zustände an manchen Schulen abschreckend wirken. Vor allem auch auf Seiteneinsteiger wie Steffen Rau. Vor drei Jahren wechselte der renommierte Fußballtrainer von der Seitenlinie ins Lehrerzimmer. Und er gibt zu: "Ich bin sehr erschüttert, wie Kollegen und Kolleginnen, die ihren Job seit Jahrzehnten mit Herzblut machen, sich tagtäglich beschimpfen lassen müssen. Das sind Umgangsformen, die ich vorher so nicht kannte und die mich sehr überrascht haben. Da fallen Begriffe und Worte, die ich hier auf keinen Fall in den Mund nehmen möchte."
Rau unterrichtet Englisch, Sport und Ethik. Er selbst habe sich trotz Beleidigungen noch nicht bedroht gefühlt, hat jedoch beobachtet: "Es gibt immer mehr Schülerinnen und Schüler, die den Unterschied nicht mehr wahrnehmen, ob sie mit einer Lehrkraft oder einem Gleichaltrigen sprechen. Da fehlt nicht nur der Respekt, sondern auch die nötige Distanz. Und das ist erschreckend."
Zumal auch er sagt: "Irgendeinen Streit gibt es immer auf dem Schulhof. Da musst du dann ganz genau überlegen, wie du dazwischen gehst oder schlichtest. Weil die Schüler oft nicht mehr unterscheiden können, wer ihnen gegenübersteht. Diese Gefahrenmomente gibt es."
Und: "Wenn du Situationen erlebst, dass gestandene Lehrer aus der Klasse kommen mit Tränen in den Augen, dann trifft mich das."
Ich bin sehr erschüttert, wie Kollegen und Kolleginnen, die ihren Job seit Jahrzehnten mit Herzblut machen, sich tagtäglich beschimpfen lassen müssen.
Kein Kindergeld mehr für Schulschwänzer?
Nur: Wie kann die Situation verbessert werden? Rau sagt: "Ich finde das Prozedere, bis es drastischere Sanktionen gibt, ewig lang. Deshalb hast du als Lehrer das Gefühl, dass du hilflos bist. Du hast das Gefühl, dass es für die Schüler sowieso keine Konsequenzen hat. Und das ist traurig."
Ohnehin erklärt der 53-Jährige: "Diese respektlose Art ist so tief verwurzelt, dass wir mit den Maßnahmen, die wir in der Schule unternehmen können, wie Schulsozialarbeit, an Grenzen stoßen, auch wenn wir sehr bemüht sind. Aber das führt nicht zu dauerhaftem Erfolg. Mit den normalen Maßnahmen kann man der Situation nicht mehr Herr werden."
Wie dann? Wie kann der Respekt vor der Schule und damit auch den Lehrkräften zurückkehren? Seine Kollegin Michaela Märtens sagt: "Für notorische Schulschwänzer sollte es zum Beispiel kein Kindergeld geben. Die Schulbescheinigung abholen können nämlich die meisten Eltern, aber für die Probleme an der Schule interessieren sich dann immer weniger."
Traurig, sagt Rau, der seinen Seiteneinstieg in den Lehrerberuf weiterhin als große Herausforderung sieht – auch, wenn ihn die Zustände an der Schule manchmal demotivieren. Aber: "Unser Job macht uns Spaß", sagt er. "Wir wollen jungen Leuten etwas beibringen. Und es gibt auch Momente, in denen es wirklich toll ist, mit der Klasse zusammenzuarbeiten. Umso trauriger ist es, wenn diese Momente dann immer wieder gestört werden. Darunter leiden dann nämlich vor allem diejenigen, die wirklich etwas lernen wollen und die sich vernünftig verhalten."
"Am Rande des Zusammenbruchs"
Michaela Märtens wirft einen letzten Blick über den Schulhof, ehe die Freistunde endet. "Wir fühlen uns alleingelassen", sagt sie. "Und wir fragen uns: Warum müssen wir uns das alles gefallen lassen? Warum machen wir das eigentlich noch? Die Situation demotiviert viele Kollegen. Es zehrt an den seelischen Kräften. Manche kommen damit irgendwann einfach nicht mehr klar und stehen am Rande des Zusammenbruchs."
So wie Susanne. Nach den eingangs beschriebenen Vorfällen wurde sie aufgrund von Angstzuständen krankgeschrieben. Sie konnte einfach nicht mehr an ihrer alten Schule unterrichten. "Ich verstehe, dass viele Lehrer nicht über das Thema sprechen wollen", sagt sie zum Abschied. "Es geht um ihren Job, um Existenzen." Aber: "Für mich geht es auch um Würde – und die wird uns Lehrern immer öfter genommen."
*Name von der Redaktion geändert. Der echte Name ist der Redaktion bekannt.
TV-Tipp: FAKT IST! aus Magdeburg zu Gewalt gegen Lehrkräfte
In der MDR-Sendung FAKT IST! aus Magdeburg ging es am Montag um Gewalt im Klassenzimmer. Zu Gast waren unter anderem die Psychologin Dr. Saskia Fischer aus Magdeburg, der bildungspolitische Sprecher der CDU-Fraktion im sachsen-anhaltischen Landtag, Carsten Borchert, sowie der Lehrer Tobias Nolte aus Berlin.
MDR (Daniel George)
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT | 19. Juni 2023 | 19:00 Uhr
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