Mansfeld-Südharz Wie abgehängt ist der Süden Sachsen-Anhalts?
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17. Juni 2021, 17:11 Uhr
Die Landtagswahl hat wieder gezeigt: Sachsen-Anhalt ist ein gespaltenes Land. Es gibt Regionen, die sich inzwischen stabilisiert haben. Und es gibt Regionen, in denen viele den Eindruck haben, abgehängt zu sein. MDR-Reporter Uli Wittstock war im Süden des Landes unterwegs, um sich ein Bild zu machen.
Rust Belt, also Rostgürtel, nennen die US-Amerikaner jene Regionen, in denen die Industrie im Zuge der Globalisierung nicht mehr wettbewerbsfähig war und zusammenbrach. Sachsen-Anhalts Rust Belt ist der Landkreis Mansfeld-Südharz. Das rote Mansfeld verdankt seinen Namen dem Kupferschiefer, der hier mehr als 800 Jahre abgebaut wurde. Mehr als achttausend Schieferhalden prägen die Region, von kleinen Hügeln, die wie Schutthaufen wirken, bis hin zur "Hohen Linde", deren spitzer Kegel 150 Meter hoch über die Dächer von Sangerhausen ragt.
Doch so rostig ist der Rust Belt in der Region gar nicht, denn die Arbeit ist inzwischen museal geworden. Was rostete, wurde über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen "rückgebaut", ein Begriff, der die Arbeitswelt der 1990er-Jahre prägte. Wer die Spuren einer untergegangenen Arbeitswelt sucht, muss schon sehr genau hinschauen.
Museums- statt Bergwerksbetrieb
Fährt man auf der B180 von Klostermansfeld in Richtung Eisleben, dann passiert man auf der rechten Seite eine jener Halden, die weit ins Land ragen. Folgt man den Gleisen der alten Bergwerksbahn, kommt man zur Station "Zirkelschacht". Die Weichen der alten Bahnlinie sind geölt, auf den Gleisen findet sich kaum Rost. Abgehängt wirkt der Ort nicht. Jeden Sonnabend, von Ende März bis Anfang Oktober, schnauft hier die Mansfelder Bergwerksbahn vorbei, auf dem Weg von Hettstedt nach Benndorf.
Ganze dreißig Jahre war der Zirkelschacht in Betrieb, und bereits 1927 wurde hier die Förderung wieder eingestellt. Der Haltepunkt ist gepflegt, doch der Weg zur Halde führt durch ein grünes Dickicht. Mitten im Buschwerk ragen plötzlich Mauern auf, leere Fensterhöhlen, eingesunkene Dächer. Was an vergessene Tempel im Urwald erinnert, sind die Reste der alten Schachtanlagen. Doch auch ein Indiana Jones würde wohl hier nicht nach Schätzen suchen.
Solche Orte gibt es noch viele, und es gibt noch immer viele Menschen, die sich für die Industriekultur engagieren. In der Region gibt es einen Erlebnisschacht, die Erlebniswelt Kupfer lädt zum Besuch eines begehbaren Schmelzofens ein. Wenn anderswo Heimatvereine auf ihre Traditionsfahnen Wert legen oder zum Schützenfest laden, so ist im Mansfeldischen die Arbeit in der Kupferindustrie ein bestimmender Teil des Brauchtums – auch wenn seit drei Jahrzehnten kein Bergbau mehr betrieben wird. Doch warum eigentlich fällt der Abschied von der schweren und körperzehrenden Arbeit, sowohl über wie auch unter Tage, so schwer?
Verletzter Arbeiterstolz – verlorene Identität
Einer, der diese Entwicklung seit vielen Jahren verfolgt, ist David Begrich, Sozialwissenschaftler und Geschäftsführer der Bildungseinrichtung "Miteinander" in Magdeburg. Er spricht in diesem Zusammenhang von einer ostdeutschen Ur-Erfahrung: "In meinem ersten Beruf, den ich gelernt habe, hatten wir einen Lehrmeister. Der hat gesagt: 'Was Ihr im Kopf habt, ist mir egal. Ihr müsst lernen zu arbeiten.' Und damit war harte körperliche Arbeit gemeint, von der er selbst geprägt war und die in der DDR höchste Anerkennung genoss. Wenn ich heute Bauarbeiter bin, dann genieße ich nicht höchste Anerkennung, sondern mir wird in allen gesellschaftlichen Sphären vermittelt, dass ich das Allerletzte bin."
Ein Ende mit Schrecken
Der Landkreis Mansfeld-Südharz gehört zu den demografischen Krisenregionen in Deutschland. Nur noch jeder Zehnte ist hier jünger als 18 Jahre. Dafür ist ein Viertel der Bevölkerung älter als 65. Grund dafür ist das abrupte Ende des Kupferbergbaus. Immerhin rund 55.000 Menschen waren im Mansfeld Kombinat beschäftigt, einer Art Kupfergroßkonzern, der die gesamte Region prägte und noch vor der Wiedervereinigung als einziges DDR-Kombinat von der DDR-Regierung in die Insolvenz geschickt wurde.
Angelika Klein, Landrätin mit Linken-Parteibuch, erinnert sich: "Die Schließung vom Mansfeldkombinat kam dann wirklich über Nacht. Die Kumpel erhielten 15.000 D-Mark Abfindung, am 15. Juli war das, glaube ich, und am 10. August waren die Schächte zu. Also so eine kurze Zeitspanne, das gab es bis dahin nicht und wäre auch so nicht gekommen. Das war weder sozialverträglich noch sonst was, es war einfach zu. Und es war ein günstiger Moment, weil die Hoffnungen und Träume der Leute noch so waren, dass es keine Verlustängste gab. Ein halbes Jahr später war das schon anders. In diesem Sommer gab es ein Hochgefühl. Man hatte 15.000 D-Mark in der Tasche, ich bin wer. Dass man das Geld aber auch für Toilettenpapier und Brötchen brauchte, das hat man ja erst später begriffen."
Völkerwanderung gen West
Auf die Schließung folgte eine dramatische Abwanderungswelle. Das war kein Strukturwandel sondern ein Strukturbruch. Und die Folgen zeigen sich nun in den nächsten Generationen, denn es waren vor allem junge Frauen, die abwanderten. Die fehlen nun, und so werden sich die Probleme verschärfen. In den nächsten zehn Jahren wechseln 35 Prozent aller Beschäftigten im Landkreis in den Ruhestand.
Mangelt es bislang vor allem an Landärzten oder Lehrern, so werden demnächst nahezu alle Berufsgruppen händeringend nach Personal suchen, erklärt Landrätin Klein: "Natürlich, wer 1990/91 Beine hatte, der ist gegangen. Und es blieben die übrig, die nicht so mobil waren und nicht so flexibel. Und wir haben einen total negativen Saldo bei Geburten und Sterben. Wir haben jetzt noch 135.000 Einwohner, vor zehn Jahren waren wir noch bei 160.000. Obwohl wir noch immer relativ viele Langzeitarbeitslose haben, haben wir jetzt schon 900 freie Arbeitsstellen, und das schon seit längerem. Im Augenblick kommen 1,7 Ausbildungsplätze auf jeden Jugendlichen."
Allerdings gibt es Menschen, die versuchen gegenzusteuern. Im Büro der Landrätin liegt ein dickes Buch: "Strukturwandel Mansfeld-Südharz", so der Titel. Angelika Klein blättert in den Seiten: "Das haben wir vor einem Jahr Herrn Haseloff überreicht. Bilder, aber auch viele Ideen. Viele gute, manche irre, zum Beispiel die Bepflanzung der Halde als Weinberg." Zwar ist die Halde nicht weit vom Landratsamt entfernt, doch Angelika Klein wird das Projekt aus ihrem Büro nicht mehr verfolgen, denn aus Altersgründen geht auch sie bald in Rente.
Zuwanderung als Chance?
Wenn man in der Kreisstadt Sangerhausen unterwegs ist, kann man nicht übersehen, dass dies eine alte Bergarbeiterstadt ist, allerdings nicht losgelöst von den weltpolitischen Ereignissen. Auch hierher kamen in den letzten Jahren Flüchtlinge, die nun im Straßenbild sichtbar sind. Um sie kümmert sich unter anderem der Verein Nangadef, was gelegentlich kaum zu überhören ist, wenn nämlich in den Vereinsräumen Trommelkurse stattfinden.
Einer der Musiker ist Naher Nairabo. Der junge Mann, in Syrien geboren, kam vor sechs Jahren nach Sangerhausen. Derzeit geht er noch zur Schule, mit dem Ziel, ein Fachabitur abzulegen. Wird er in danach in der Region bleiben? "Glaube ich nicht, denn es gibt keine Praktikumsplätze oder Ausbildungsplätze hier. Das ist das Schwierigste hier in Sangerhausen. Deshalb bleiben die jungen Leute nicht hier. Im IT-Bereich gibt es nichts. Zum Beispiel gibt es nur zwei Firmen, die was mit Medien machen, was anderes ist nicht da. Nur Pflegeheime gibt es überall, ansonsten fehlen Ausbildungsplätze."
Das Schweigen brechen
Den Verein Nangadef hat Diana Wozny mitgegründet. Die Mitvierzigerin ist eine der wenigen, die in der Region geblieben ist. Nicht das Weggehen, sondern das Bleiben war die eigentliche Herausforderung. Darüber werde selbst heute, 30 Jahre danach, noch immer nicht gesprochen, so Wozny: "Damals sind mehr als 90 Prozent aus meiner Klasse weggegangen. Oder auch aus meiner Seminargruppe zum Beispiel, durch diesen Wandel, dass man ja dann nicht in seinem Beruf arbeiten konnte. Und das betraf eben viele hier in der Region, die eine Ausbildung hatten und die dann nicht nutzen konnten. Die ersten Jahre waren geprägt von wahnsinnig viel Umschulung und Neuorientierung."
Auf den wirtschaftlichen Niedergang folgte eine soziale Verwüstung, weswegen Diana Wozny, von Beruf Förderschulpädagogin, den Verein gründete, als Angebot zur Selbstwirksamkeit. Inzwischen erlebt sie die dritte Generation von Menschen, die keinen Weg in das Erwerbsleben finden. Denn die Langzeitfolgen sind bis heute spürbar: "Viele Dinge in der Region geschahen hier leider: hohe Arbeitslosigkeit, die Familien brachen auseinander, viele alleinerziehende Mütter, Entstehen sozialer Brennpunkte und das Aufkommen von Drogen. Hartz 4 und die Abhängigkeit von Jobcenter – all das bedeutet das Gegenteil von Selbstwirksamkeit. Ich kann mir nicht aussuchen, in welchem Viertel ich wohne, ich kann mir nicht aussuchen, in welcher Wohnung ich wohne – mit Selbstwirksamkeit hat das nichts zu tun."
Der Wahlkampf im Landkreis ist noch nicht vorbei, denn am Wochenende entscheiden die Bürger, wer Angela Klein auf dem Posten des Landrates folgen soll. Zur Wahl stehen André Schröder von der CDU, ehemaliger Finanzminister Sachsen-Anhalts, und Cathèrine Kayser, die es für die AfD in die Stichwahl geschafft hat. Immerhin beträgt die Amtszeit eines Landrates in Sachsen-Anhalt sieben Jahre. Aber die dürften kaum reichen, um die anstehenden Probleme zu lösen.
Über den Autor Geboren ist Uli Wittstock 1962 in Lutherstadt Wittenberg, aufgewachsen in Magdeburg. Nach dem Abitur hat er einen dreijährigen Ausflug ins Herz des Proletariats unternommen: Arbeit als Stahlschmelzer im VEB Schwermaschinenbaukombinat Ernst Thälmann. Anschließend studierte er evangelische Theologie. Nach der Wende hat er sich dem Journalismus zugewendet und ist seit 1992 beim MDR. Er schreibt regelmäßig Kolumnen und kommentiert die politische Entwicklung in Sachsen-Anhalt.
MDR/Uli Wittstock, Thomas Tasler
Dieses Thema im Programm: MDR S-ANHALT | 20. Juni 2021 | 19:00 Uhr
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